Mit Wind aus Nordost starteten wir am Nachmittag wieder im Amerikahafen. Zu unserer Ăberraschung war der Plan, direkt von Cux nach Amrum zu segeln. Wir hatten eigentlich mit einem Zwischenstopp auf Helgoland gerechnet, doch der war stattdessen fĂŒr den RĂŒckweg vorgesehen. Auch gut. Helgoland kannten wir ja schon. Es waren die nordfriesischen Inseln, die mich dieses Mal wie magisch angezogen hatten.
Sonne satt begrĂŒĂte uns im Cockpit, als wir bei Cuxhaven auf die Seite der roten Tonnen wechselten. Erneut war uns die âHamburg Expressâ einen kleinen Sprung voraus. Am Horizont konnte ich ihre weiĂen Segel ausmachen, als ich wieder am Ruder stand. Wir wollten durch das LĂŒchterloch hindurch, hoch zur Norderelbe. Das hieĂ, links und rechts flache SĂ€nde, wĂ€hrend die Baken in diesem Fahrwasser noch vom hohen Seegang der letzten StĂŒrme erzĂ€hlten. Und noch eine andere ErzĂ€hlung machte bei uns die Runde: der Untergang der âSharkiâ vor wenigen Wochen an der Tonne 23. Die Strömung dort offenbar unterschĂ€tzend, war die polnische Segelyacht, die ehemals als âRubinâ ein bekanntes Regattaboot gewesen war, mit mehr als zehn Knoten Fahrt nachts auf eben dieses StahlungetĂŒm in der ElbmĂŒndung gekracht. Die Crew brachte sich auf der Rettungsinsel in Sicherheit und wurde von der Gesellschaft abgeborgen. Die Neuigkeit hatte ich direkt auf der Website der DGzRS gelesen. Wie schnell musste die Yacht Wasser gemacht haben, dass ihre Besatzung in die Insel musste? hatte ich noch gedacht. Und nun fuhren wir denselben Kurs, nur auf der anderen Seite des Fahrwassers. Die Strömung setzte hier fĂŒr uns gĂŒnstiger. Etwas weiter raus aus dem Fahrwasser war fĂŒr unser Boot kein Problem â also keine Gefahr. Trotzdem konnte man gut verfolgen, wie schnell einem die Tonnen auch hier entgegen zu kommen schienen.
Deutlich entspannter wurde alles dann im LĂŒchterloch. Zwar legte der Wind nun wieder auf eine gute vier zu, aber auf Halbwind-Kurs kam uns das gerade recht.
In der Norderelbe erwartete uns die nĂ€chste Ăberraschung, unser Schwesterschiff verabschiedete sich gen Helgoland, wie ein kleines FunkgesprĂ€ch ihren seltsamen neuen Kurs fĂŒr uns aufklĂ€rte. Den restlichen Weg nach Amrum wĂŒrden wir also alleine segeln.
Wie sehr auch Kleinigkeiten zur guten Laune beitragen können, lernte ich nur wenig spĂ€ter, als ich die vorbereiteten Klappbrote im Cockpit verteilte. Mit einem LĂ€cheln quittierte Lutz die Feststellung, dass ich die KĂ€sestullen mit kleinen Gurkenscheiben kulinarisch aufgepeppt hatte. Zugegeben, kĂŒchentechnisch bin ich eher im unteren Drittel anzusiedeln. Eine Handvoll Sachen kann ich ganz gut, zu mehr fehlen mir Lust und Ehrgeiz. Insbesondere muss das Essen fertig sein, bevor der Hunger kommt, sonst fange ich unwillkĂŒrlich an, mich an den Zutaten satt zu essen, was dann jede weitere KochaktivitĂ€t ad absurdum fĂŒhren wĂŒrde. Umso mehr freute es mich nun, mit einem so kleinen Detail eine doch beachtliche Wirkung beim Rest der Mannschaft erzielt zu haben.
Auf unserem Weg nach Norden kamen wir wenig spĂ€ter auch bei zwei alten Bekannten vorbei. Pflichtschuldig bemĂŒhte ich mich, von ihnen Fotos fĂŒrs Familienalbum zu ergattern. Die Tonnen âSĂŒderpiepâ und âNorderpiepâ lagen querab Richtung Land und markierten hier die Fahrwasser nach BĂŒsum und Husum. Wir kannten sie gut von den Navigationsaufgaben der SKS-PrĂŒfung (SportkĂŒstenschifferschein) vor zwei Jahren. Jetzt schaukelten sie fĂŒr uns querab im Sonnenschein.
An Backbord tauchte dann in einiger Entfernung Helgoland auf. Die Felseninsel erschien als deutlicher Schattenriss vor der sich nun im Westen langsam dem Horizont entgegen neigenden Sonne. Der Radarturm war zu sehen und natĂŒrlich das Leuchtfeuer, das alle fĂŒnf Sekunden seinen weiĂen Blitz zuverlĂ€ssig ĂŒber die Weiten der Nordsee schickte. Diesen Wegweiser in den sicheren Hafen sahen wir noch lange, auch als die Insel selbst schon lĂ€ngst in der Nacht verschwunden war, die sich nach einem grandiosen Sonnenuntergang wie ein schwereloses Gewand ĂŒber das Wasser legte. Wie gebannt hatten wir alle verfolgt, wie die Sonnenscheibe StĂŒck fĂŒr StĂŒck im Meer versank. Ich hoffte, einen Blick auf ihr sagenumwogenes grĂŒnes Leuchten zu ergattern, aber die Sonne verschwand an diesem Tage ohne dieses Spektakel. Die DĂ€mmerung setzte ein und mit ihr begann meine zweite Nacht am Steuer.
Als das Meer das letzte Licht des von der Sonne glimmenden Horizonts verschlungen hatte, explodierte ĂŒber uns förmlich der Himmel. Bei Neumond strahlte die MilchstraĂe so hell, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. So unglaublich, unendlich viele Sterne â so viele, dass in diesem Lichtermeer die bekannten Bilder kaum auszumachen waren. Wir staunten und staunten. Ich musste an die ErlĂ€uterungen aus meinen AstronomiebĂŒchern denken. Daran, dass die Alten mit ihren schlechten Teleskopen von âNebelnâ gesprochen hatten, als sie auf Objekte blickten, von denen wir heute wissen, dass es ferne Galaxien sind. Ferne Sternensysteme, die im All treiben wie Inseln in einem Ozean, wie die âblue marbleâ, die so treu um unsere Sonne kreist. Oft habe ich mir versucht vorzustellen, wie dieses System, von auĂen betrachtet, sich darstellen mochte. Vor allem lĂ€sst mich die Vorstellung des GerĂ€usches von rollenden Bowlingkugeln dabei nicht los. NatĂŒrlich ist dort drauĂen nichts zu hören, aber sich auszumalen, dass Planeten völlig schwerelos und ohne jedes GerĂ€usch von sich zu geben, seit Jahrmillionen auf festen Bahnen immer denselben Reigen auffĂŒhren, erscheint doch nicht weniger erstaunlich. Ihnen das GerĂ€usch von Bowlingkugeln anzudichten, ist dann doch nur ein kleiner Salto mortale der Phantasie im Vergleich zur Wirklichkeit.
So flog unser kleines Segelboot also zwischen diesen beiden Meeren dahin, dem Lichtermeer der Sterne ĂŒber uns und dem schwarzen Wasser der Nordsee unter uns. Jörg dirigierte uns zuverlĂ€ssig vom Plotter unter Deck aus, und ich steuerte nach dem Lichtschein des Leuchtfeuers auf Amrum, das stetig ĂŒber den Horizont strich. NatĂŒrlich waren die Technik und Jörgs wachsames Skipperauge auf alles, was fĂŒr uns relevant werden könnte, unentbehrlich, aber hier oben am Steuer gab ich mich der Illusion hin, bloĂ nach eben jenem Leuchtfeuer zu navigieren, wie es die alten Seefahrer schon immer getan hatten. Was fĂŒr ein Abenteuer!
Bei der Ansteuerung aufs RĂŒtergat, die Zufahrt zum Wattfahrwasser nach Amrum und Föhr, stand dann Alexander wieder am Ruder. Der Wind hatte noch eine Schippe draufgelegt, und so rauschten wir nun mit acht Knoten ĂŒber Grund dahin.
Wenig spĂ€ter fand ich mich eingepickt auf dem Vorschiff wieder. Den Scheinwerfer in der Hand wartete ich auf die Anweisungen von Jörg aus dem Cockpit. Mittlerweile liefen wir unter Motor und auch deutlich langsamer. Man soll das Schicksal nicht herausfordern, und ein unbekanntes Fahrwasser mit einer Reihe unbeleuchteter Tonnen mitten in der Nacht gemahnte zur Vorsicht. âDu solltest jetzt zwei rote Tonnen an Backbord voraus finden.â Pflichtschuldig leuchtet ich das Wasser ab, konnte aber keine Tonnen finden. Eine Reihe Seevögel blitzten mit ihrem Gefieder weiĂ auf den Wellen auf, aber keine roten Tonnen. MerkwĂŒrdig. Sicher fand ich dagegen die nĂ€chste grĂŒne an Steuerbord. Sie reflektierte in der Ferne und wurde langsam gröĂer. Gebannt betrachtete ich sie und versuchte herauszufinden, welche Form sie denn nun genau wohl hatte. Eine Weile narrte sie mich beharrlich.
Hier drauĂen in der Nacht Entfernungen zu schĂ€tzen, war wohl das Schwierigste. War das das Feuer einer Tonne in der NĂ€he oder das Signal eines Leuchtturms an Land? Angestrengt starrte ich in die Dunkelheit. Alles Mögliche hatte ich in der letzten Stunde in der Dunkelheit schon zu sehen geglaubt. Das Meer bot dem Augen keinen gewohnten Anhaltspunkt, und so phantasierte mein Kopf wild irgendwelche Landschaften zusammen, die es allesamt so natĂŒrlich nicht gab. Nur gut, dass Jörg unten am Radar alles im Blick hatte.
Zwischendurch schallte auch immer wieder ein erfreuliches âDu kannst jetzt Pause machenâ aus dem Cockpit, wenn die nĂ€chsten Tonnen noch zu weit entfernt waren, um sie mit dem Handscheinwerfer erreichen zu können. Dieser wurde mit der Zeit wirklich schwer. Ich stĂŒtzte die Hand, die ihn hielt, mit der freien anderen und, da ich dankenswerterweise vorne saĂ, auch mit dem Knie. Trotzdem war ich froh, den Scheinwerfer hin und wieder auf die Beine sinken lassen zu können, bevor wir den nĂ€chsten âBlindgĂ€ngerâ wĂŒrden suchen mĂŒssen.
Richtig spannend wurde es noch einmal, als wir in das Fahrwasser abbogen, das zum WittdĂŒner Hafen fĂŒhrte. Hier standen Pricken statt Tonnen, auch sie sollte ich mit meinem Scheinwerfer fĂŒr den Rest der Crew sichtbar werden lassen. Wie mochten Pricken bei Nacht ausschauen? Ăber diese Frage rĂ€tselte ich, wĂ€hrend mein Licht wieder reihenweise Vögel aufschreckte. Alexander scherzte spĂ€ter, er hĂ€tte den Eindruck gehabt, ich wĂ€re da vorne zwischenzeitlich meinem ornithologischen Hobby erlegen und hĂ€tte Vögel gezĂ€hlt, statt Pricken zu suchen. TatsĂ€chlich war ihr weiĂes Gefieder aber lange Zeit das einzige, was einen Widerschein in meinem Scheinwerferlicht hervorrief.
Und dann fanden wir die Pricken schlieĂlich doch noch. Jene an Backbord reflektierten rot â klar, wie sonst? In einem schönen Bogen fĂŒhrten sie uns in den Hafen. Davor galt es jedoch noch, ein Flach an Steuerbord zu vermeiden, das wir uns zusammen unten auf der Karte im Vorwege eingeprĂ€gt hatten. Erfreulicherweise tauchten hier nun auch grĂŒnreflektierende Pricken an Steuerbord auf. Unser Weg lag klar vor uns, wer hĂ€tte das gedacht?
Sicher gelangten wir so in den Hafen, da war halbeinuhr nachts schon vorĂŒber. Am Gastliegersteg fanden wir ein PlĂ€tzchen fĂŒr uns, erhielten beim Festmachen der Leinen sogar noch eine helfende Hand vom Nachbarboot, dann war der Motor aus, und die Stille kehrte zurĂŒck. Bei einem mehr als verdienten Bier im Cockpit prĂ€gte Lutz dann den Spruch des Törns, als er sich an Jörg wandte und recht trocken meinte: âUnd? Hast Du noch seglerische Herausforderungen, nachdem Du nun die Ansteuerung auf Amrum bei Nacht gemeistert hast?â Wir prusteten vor Lachen.