Ganz klar, eine ErzĂ€hlung ĂŒber Arran sollte mit Goatfell beginnen – Goatfell, weil er wegen seiner Granitblöcke an Stellen ausschaut, als trage er ein graues Ziegenfell. Goatfell ist 875 Meter hoch und damit die höchste Erhebung auf der Insel. Als solche ist er Anziehungspunkt fĂŒr all die Tagestouristen aus Glasgow. Mehr als einmal sind uns Leute begegnet, die in strammen Tempo ihren Weg zum Goatfell Summit suchten. Im Vorbeihasten erzĂ€hlten sie uns, dass, wenn man trainiert sei, die Tour gut an einem Tag zu machen sei. Man nehme morgens die erste FĂ€hre nach Arran, fahre ein StĂŒck mit dem Bus bis Brodick Castle (jedenfalls jene, die es nicht ganz so sportlich meinten) und mache sich dann auf zu einem strammen Marsch zum Gipfel und wieder zurĂŒck, dann könne man leicht noch die letzte FĂ€hre zurĂŒck zum Festland nehmen.

GlĂŒcklicherweise hatten wir es bei unseren Urlauben auf Arran nie so eilig. Mieden mit dieser Erkenntnis dann fortan den Goatfell am Wochenende, wenn die Glasgower ihrer Herausforderung nachkommen wollten. ‚Zu crowded‘, da gab es dann ruhigere PlĂ€tzchen auf der Insel, die man ganz fĂŒr sich alleine haben konnte.

Goatfell Summit
Goatfell Summit

Goatfell – keinen anderen Berg haben wir Ă€hnlich oft „fast bestiegen“ wie diesen. Viermal haben wir es versucht. Viermal sind wir an meiner HasenfĂŒĂŸigkeit gescheitert. Beim letzten StĂŒck konnte ich meine Höhenangst einfach nicht ĂŒberwinden. Dabei hatte ich es mir von Mal zu Mal von Neuem vorgenommen und mich selbst Mal fĂŒr Mal fĂŒr bescheuert erklĂ€rt. Was sollte hier schon passieren? Es war kein BaugerĂŒst, kein klappriges Irgendwas irgendwo an eine Wand geklebt wie die Wendeltreppe im Hamburger Michel. Das hier war ein Berg, somit feste Erde und der Weg auch nicht sonderlich herausfordernd.

Eine Freundin von mir hatte mich einmal mit der Überlegung herausgefordert, dass – da die Erde ja eine Kugel sei – wir vielleicht gar nicht herunter-, sondern am Ende hinauffallen könnten. Kein Mensch empfinde Schwindel, wenn er in den Himmel blicke, obwohl man doch – theoretisch zumindest – in dieser Richtung wesentlich weiter fallen könnte als in die entgegengesetzte. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Dieselbe Freundin hatte mir aber auch erzĂ€hlt, dass sie keine Angst vorm Fliegen habe, weil sie keine Vorstellung davon habe, wie es sei, bei einem Absturz ums Leben zu kommen. Dagegen hĂ€tte sie bei Schiffen immer ein mulmiges GefĂŒhl, denn wie sich Ertrinken anfĂŒhle, das könne sie sich sehr gut ausmalen. Nun, ich konnte mir halt andere Dinge gut vorstellen. Eines der schlimmsten war, nicht mehr vor und nicht mehr zurĂŒck zu können. Dann doch lieber rechtzeitig vorher irgendwo frustriert und schmollend sitzen bleiben und auf den nĂ€chsten ‚Fast-Aufstieg‘ hoffen.

Nimmt man von Brodick aus nicht den Bus, sondern lĂ€uft das erste StĂŒck zu Fuß, kommt man an der Bucht auf einen schmalen Pfad zwischen dichten Hecken – den „Fishermen’s Path“. Gleich bei unserem ersten Besuch musste ich an die Schmugglerstiege aus Enid Blytons „FĂŒnf-Freunde“-ErzĂ€hlungen denken. Sofort war ich auf Abenteuer eingestellt – sofort war mir der Pfad sympathisch. Ich muss jedoch gestehen, dass das einzige entfernt Abenteuerliche, das uns hier widerfuhr im direkten Zusammenhang mit dem nahen Putting-Green des lokalen Golfplatzes stand. Wir fanden einen, wie wir meinten, herrenlosen Ball, hoben ihn verwundert auf und wurden umgehend vom doch nicht weit entfernten Besitzer – sehr höflich, aber bestimmt – dazu aufgefordert, ihn bitte wieder an den Platz zurĂŒckzulegen, an dem wir diesen gefunden hatten.

Arran ist zweifellos eine Insel der Golfer. Wer nicht zum Wandern hier herkommt, lĂ€uft mit einem zweckdienlichen WĂ€gelchen an der Hand ĂŒber – ‚Plöng‘ – scherenschnitt genau gepflegten Rasen. Dass diese Caddies von sehr praktischem Nutzen sind, wurde uns spĂ€testens klar, als uns auf eben jenem „Fishermen’s Path“ einer der berĂŒchtigten Regenschauer der Insel ĂŒberraschte. Erst verfinsterte sich der Himmel im Westen ĂŒber den Bergen, dann zĂ€hlte man drei Minuten und der Regen war da – in einer IntensitĂ€t, dass wir in noch einmal drei Minuten bis auf die Knochen durchweicht waren. Und ebenso schnell, wie der Spuk gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Den Einheimischen wohlgemerkt konnte dieses Wetter jedoch nicht auf dem falschen Fuße erwischen. Er spannte elegant den Schirm an seinem Caddy auf, wartete drei Minuten, klappte ihn wieder zu und lochte ein.

Nimmt man nicht den „Fishermen’s Path“, sondern folgt der Ringstraße Richtung Goatfell, was wegen des ĂŒberschaubaren Autoverkehrs stets gut möglich war, kommt man an zwei inseleigenen Besonderheiten vorbei, die kurz ihre ErwĂ€hnung finden sollen.

Die erste Besonderheit hört sich banal an, denn es handelt sich um ein schlichtes Verkehrsschild in der Kurve kurz vor dem Ortseingang zu Brodick. Inseltypisch wird es dadurch, dass auf diesem nicht die gewöhnlichen Rehe einen Wildwechsel ankĂŒndigen, sondern das Wild, vor welchem hier gewarnt bzw. auf welches man sorgsam ein Auge zu werfen aufgefordert wird, ein possierliches Eichhörnchen darstellt. Die roten Eichhörnchen zĂ€hlen – man höre und staune – zu Arrans „Big Five“, und die Insulaner scheinen mĂ€chtig stolz auf diese kleinen Tierchen zu sein. Gut, fĂŒr jemanden wie mich, der mindestens ein Triumvirat der roten Puschelöhrchen in den Fichten vor dem Wohnzimmerfenster beobachten und sie regelmĂ€ĂŸig aus dem FutterhĂ€uschen fĂŒr die Vögel des Himmels scheuchen muss bzw. kann, scheint die Sorge um die kleinen Nager etwas ĂŒbertrieben, doch ist sie auf Arran keinesfalls unbegrĂŒndet. Hier droht, wie im restlichen Königreich, die Invasion der sehr viel robusteren grauen Hörnchen, welche ihren kleinen Kameraden nicht nur das Futter streitig machen, sondern ĂŒberdies auch noch eine Krankheit ĂŒbertragen, welche den Bestand der Roten zusĂ€tzlich reduziert. Also ‚Augen Auf‘‘ beim Autofahren, dass nicht noch eines auf völlig unnĂŒtze Weise zusĂ€tzlich unter die RĂ€der gerĂ€t.

Red Squirrel
Red Squirrel

Das „Red Squirrel“ schaut einen aber nicht nur von besagtem Straßenschild keckerweise ĂŒber die Schulter, es posiert auch ganz manierlich im Schaufenster der „Arran Brewery“, welche ein Ale selbigen Namens produziert – mit dem schönen Werbeslogan, es sei so schön ‚nutty‘. Die Arran Brewery produziert, wie der Name schon sagt, das lokale Ale, das in allen Pubs der Insel ausgeschenkt wird. Und, ja, es ist wirklich gut und das nicht nur, weil die Flaschenetiketten die SehenswĂŒrdigkeiten der Insel schmĂŒcken. Besonders schön fanden wir das Schild, das offenbar regelmĂ€ĂŸig im brauereieigenen Schaufenster aufgestellt wird und ‚Panick orders‘ empfiehlt, weil eine der Ale-Sorten gerade einmal wieder etwas knapp zu werden drohte. Gott sei Dank, fĂŒllen sie hier mehr als eine Sorte Ale in Flaschen


Castle Woods
Castle Woods

Der schönste Teil der Wanderung liegt eigentlich gleich auf den ersten Metern am Fuße des Goatfells. Hier fĂŒhrt der Weg nĂ€mlich durch einen regelrecht verzauberten Wald, der zum Anwesen von Brodick Castle gehört. Anders als in deutschen WĂ€ldern und vor allem in dem Nutzwald, in welchem ich als Kind oft spielte, stehen hier nicht dĂŒnne Fichten dicht an dicht und harren ihres Schicksals. Im Gegenteil, der Wald von Brodick Castle ist voller dicken Unterholzes, Moos- und Flechtenschichten bedecken die BaumstĂŒmpfe und Äste, zwischendrin gurgeln allgegenwĂ€rtig die BĂ€che der Insel. Es ist, wie man so schön sagt, geradezu eine Lust, hier zu wandeln – auch wenn das Ganze, zugegebenermaßen, kĂŒnstlichen Ursprungs, d.h. in diesem Falle den JagdgelĂŒsten der Herren des Castle geschuldet ist. Aber das ist nun schon eine ganze Weile her. Geblieben ist der Wald mit seiner tiefgrĂŒnen Ruhe, dem Sonnenmuster im Schattenspiel der BĂ€ume und den Wasserelfen der Quellen


Brodick Castle
Brodick Castle

Leider fĂŒhrt der Weg zum Goatfell Summit nur ein kleines StĂŒck durch diese Wildnis. Unversehens verlĂ€sst man diesen verwunschenen Wald und findet sich in einer Weidelandschaft wieder. Zur Linken grasen schottische Highlandrinder mit dicken Zotteln vor den Augen und beachtlichen Hörnern am dicken SchĂ€del. Ich gebe zu, ich habe lieber Zaun und Gatter zwischen ihnen und mir, auch wenn es offensichtlich recht gutmĂŒtige Tiere zu sein scheinen. In dieser Hinsicht bin und bleibe ich wohl ein Stadtkind.

Der nĂ€chste Abschnitt fĂŒhrt dann etwas steiler durch Heide und ein lichtes BirkenwĂ€ldchen. Steine liegen hier wie Treppenstufen, und der Weg verengt sich zum Pfad, den man stellenweise nur nacheinander bewĂ€ltigen kann. Es ist keine sonderlich schwere Strecke, aber aufmerksam sollte man sein und eines hat hier gewiss nichts zu suchen – Mountainbike-Fahrer. Dennoch trafen wird gerade hier einmal einen dieser Adrenalin-Junkies. Allerdings saß der ‚Held‘ zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in seinem Sattel, sondern grinste uns etwas schief aus der Horizontalen heraus an. Das Mountain Rescue Team hatte ihn auf eine Trage gehievt, denn ihr Raupenfahrzeug hatten sie schon ein ganzes StĂŒck weiter bergab zurĂŒcklassen mĂŒssen. Es war zu steil. Sie wĂŒrden den VerunglĂŒckten tragen mĂŒssen, denn laufen war bei dem jungen Mann sicher nicht mehr drin. Warum die Menschen so viel riskierten, blieb mir schleierhaft. Aber vielleicht brachte auch einfach nur die Höhenangst bei mir etwas mehr BodenstĂ€ndigkeit mit sich.

Goatfell
Goatfell

Je weiter man dem Pfad nun durch die Heide folgte, desto steiler wurde er und desto mehr brauste das Wasser im Bach daneben. Hie und da sah man kleine Breschen, die Neugierige durch das HeidegestrĂŒpp geschlagen hatten, um zu sehen, was der Ursprung dieses voluminösen Rauschens war. Auch Alexander musste sich das mal genauer anschauen gehen. Ich, ganz MĂ€dchen, starb tausend Tode bis er wieder zurĂŒck auf dem Weg war. Sah ihn im Geiste irgendwelche AbhĂ€nge hinabstĂŒrzen – hatte ich schon meine Höhenangst erwĂ€hnt? Letztlich erwies sich das Wasserrauschen als hin- und mitreißender Wasserfall – einer von vielen, die wir auf der Insel entdecken wĂŒrden.

Wir folgten seinem halsbrecherischen Verlauf bis zu eben jener Stelle, wo sich der kleine Bach lustvoll der Gravitation hingab und aus der Horizontalen in die Vertikale abzustĂŒrzen begann. Hier traten wir durch ein Holzgatter, welches das Wild von der einen Seite des in dieser Höhe kunstvoll gezogenen Zauns vor dem Übertritt auf die andere hindern sollte. Es war mir ein RĂ€tsel, wie die Leute der Insel es fertiggebracht hatten, hier oben im Nirgendwo diesen endlos langen Zaun in die Landschaft zu setzen. Das Jagdwild der Castle-Besitzer hatte sich in den Jahren prĂ€chtig vermehrt. Wir wĂŒrden noch das eine oder andere Mal auf dieses Rotwild treffen – vor allem im Nordosten der Insel in Lochranza waren die Tiere so zahm, dass man sie beinahe streicheln konnte. WiederkĂ€uend standen sie auf dem dortigen Golfplatz wie Weidevieh in der Sonne. Einen Zwölfender traf ich dort durch Zufall so nah an, dass uns nicht mehr als ein ausgestreckter Arm voneinander trennte. Nach dieser eindrĂŒcklichen Begegnung war die sonst aufwallende kindliche Aufregung beim Ausruf ‚Da, ein Reh‘, wenn man weit aus der Ferne eines dieser grazilen Geschöpfe die Flucht ergreifen sah, lĂ€ngst nicht mehr so ausgeprĂ€gt in mir wie zuvor.

Rotwild in Lochranza
Rotwild in Lochranza

Hinter dem Wildgatter öffnet sich dann eine recht karge, weite Graslandschaft. Zur Erholung des zwischenzeitlich ermĂŒdeten Wanderers ist der Anstieg hier nun sehr moderat, und man hat lange den Eindruck, einfach durch eine schier endlose Grassteppe zu laufen. Dieser Eindruck wird unterstĂŒtzt von den grauen Felsquadern, die wie ausgespuckt kreuz und quer ĂŒber diese FlĂ€che verstreut liegen.

Goatfell
Goatfell

Dem Auge fehlt der rechte Maßstab, das schien eines der grĂ¶ĂŸten Probleme hier oben. Die Granitblöcke auf der Hochebene wirkten wie kleine Steinchen, die ein Kind beim Himmel-und-Hölle-Spielen lustig auf dem Boden verstreut hatte. Kam man dann nĂ€her, stellte man staunend fest, dass sie teilweise mannshoch waren. Und doch erlag das Auge immer wieder derselben Illusion, und der Weg zog sich dahin. Man denkt, gleich habe man das Ziel erreicht – gleich wird es der Gipfel sein. Und keine zwei Stunden spĂ€ter winkte er lustig scheinbar immer noch aus derselben Entfernung wie zuvor. Und all das nur wegen ein paar achtlos ausgestreuter Spielsteinchen, an denen man sich schlussendlich Ă€ngstlich festklammerte. Sie wiesen den Weg ebenso wie sie ihn verbargen. Sie zeigen keine Spuren, keine FĂ€hrten – blieben stets gleich karg und teilnahmslos. HingewĂŒrfelte AugentĂ€uscher.

Jenseits dieser Hochebene, wenn alle Steine zu Felsen, alle Findlinge zu Granitquadern geworden sind, hat man das letzte StĂŒck des Aufstiegs schließlich erreicht. Hier gibt es, selbstredend, weder Weg noch Pfad mehr, nur noch den nackten Stein, durch den man sich hindurch manövriert, nicht schlecht staunend, wenn einem hier im Nichts plötzlich Leute entgegenkommen, die schon wieder auf dem Abstieg sind.

Goatfell Hochebene
Goatfell Hochebene

Ein Weilchen noch kraxelte ich artig mit, dann kam jedes Mal erneut der schon erwĂ€hnte Ort der Kapitulation vor meinen weichen Knien. Es ist ein wahrlich erniedrigendes GefĂŒhl, so kurz vor dem Ziel einfach nicht mehr weiter zu können – grĂ¶ĂŸer als die Angst war stets die Wut auf mich selbst. Nicht von ungefĂ€hr habe ich den Aufstieg nun schon viermal versucht, immer von der Idee beseelt, dass es nicht mehr als eine Frage des Willens, der SelbstĂŒberwindung sei. NatĂŒrlich ist es nicht mehr, das weiß jeder Raucher, der daran schon einmal gescheitert ist, oder die Freundin, die mir erklĂ€rte, dass sie meine, man könne doch problemlos alles essen – ‚Doch, nein, warte, wenn ich es mir recht ĂŒberlege – außer rote Beete – nein, rote Beete geht gar nicht!‘ Nun, meine ‚rote Beete‘ stand hier in Granit geschlagen vor mir, vielleicht noch eine Strecke von 45 Minuten, vielleicht auch weniger, und wir hĂ€tten es geschafft. ‚Aber nein, rote Beete geht einfach gar nicht!‘

Trotzdem bleibt der Gedanke, vielleicht werde ich meine Speise irgendwann gegessen haben und feststellen, dass es gar nicht so schlecht geschmeckt hat. Vielleicht werde ich irgendwann auf dem Goatfell Summit stehen und nicht nur ĂŒber Brodick Bay blicken können, was einem schon beim Aufstieg an vielen Stellen den Atem verschlĂ€gt, sondern auch nach Norden blicken können, hinĂŒber nach Corrie und Sannox und dann stolz und gut gelaunt wie jene Leute zurĂŒck zum Fuß des Berges stapfen, der mich hier an seinem granitenen Kragen in die Knie gezwungen hat. Ja, vielleicht irgendwann…

Goatfell, Blick auf Brodick Bay
Goatfell, Blick auf Brodick Bay

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