âWas machen wir denn jetzt?â diese Frage stellte sich uns kurz vor der Ansteuerung der GlĂŒckstĂ€dter Nebenelbe. Nein, eigentlich hatte uns diese Frage schon beschĂ€ftigt, lange bevor dieser Törn ĂŒberhaupt richtig begonnen hatte. Seit dem letzten Wochenende hatten wir sehr aufmerksam den Wetterbericht verfolgt. Sonntag hatten wir uns damit getröstet, dass man zu diesem Zeitpunkt noch unmöglich genau wissen könne, wie sich die Wetterlage in den kommenden Tagen tatsĂ€chlich entwickeln wĂŒrde. Montag hatten wir uns gesagt, dass es ja am Freitag noch wieder besser werden könnte. Dienstag hatten wir noch auf einen Umschwung fĂŒr Samstag gehofft. Als wir uns dann am Mittwochabend zum ersten Mal wieder alle zusammen auf dem Boot trafen â alle waren dieses Mal, Christian unser Skipper, Sylke, Alexander und ich â diskutierten wir ausgiebig, welche Alternativen es wohl gĂ€be. Und doch lieĂ sich nun am Donnerstag nicht mehr leugnen, dass der ursprĂŒngliche Törn-Plan so wohl nicht wĂŒrde eingehalten werden können bzw. nur dann, wenn wir Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen wĂŒrden, denen man doch lieber aus dem Wege ging.
âWas machen wir jetzt?â war also kurz vor GlĂŒckstadt die Frage danach, wohin und wie weit unser Törn an diesem Oktoberwochenende fĂŒhren wĂŒrde. FĂŒr Samstag war Wetter angesagt, das man eher nicht drauĂen auf der Nordsee erleben wollte â jedenfalls nicht, wenn es nicht sein musste. Das lieĂ sich nicht mehr weg diskutieren. Segelten wir nach dem gewohnten Schema, also von Finkenwerder nach GlĂŒckstadt, nach Cuxhaven und dann weiter nach Helgoland, wĂŒrde Samstag genau der Tag unserer RĂŒckreise von der Felseninsel im Meer sein. Wir wĂŒrden den langen Schlag ĂŒber das offene Meer segeln mĂŒssen an einem Tag, fĂŒr den unsere Wetter-App eben dieses Gebiet weiĂ markierte: Böen von acht Beaufort und mehr. Nein, also wirklich danke nein!
Die Entscheidung trafen wir dann erstaunlich schnell. Noch wĂ€hrend wir voraus die Fahrwassertonnen fĂŒr die GlĂŒckstĂ€dter Nebenelbe sahen, war der Entschluss gefasst: âWir fahren durch.â Wir segelten nicht bloĂ weiter, sondern wollten ganz bis Helgoland. âGeht das denn?â Immerhin wĂŒrde der Tidenstrom in absehbarer Zeit kentern und dann gegen uns laufen. Andererseits hatten wir guten Ostwind, der uns in die gewĂŒnschte Richtung die Segel fĂŒllte. Christian nahm es pragmatisch: âWir werden nicht schnell sein, aber immer noch schneller als im Hafen.â Also gut, den Versuch war es allemal wert. Wenn wir es an diesem Donnerstag gleich ganz bis nach Helgoland schaffen wĂŒrden, konnten wir von dort auch schon wieder zurĂŒck im ruhigeren Elbfahrwasser sein, lange bevor das richtig eklige Wetter beginnen wĂŒrde.
Das war also unser Plan â ein Plan in einem Jahr, in dem sonst scheinbar gar nichts mehr planbar war. In dem man von Woche zu Woche, von Tag zu Tag in einem ewigen âIch weiĂ nichtâ festzustecken schien. In dem man Statistiken wie die Morgenzeitung zu lesen begonnen hatte und das obwohl man die Ergebnisse eigentlich lieber gar nicht wissen wollte.
Also Helgoland â auf nach Helgoland! Wir drehten ab. Mehr oder weniger gleichzeitig stellten wir fest, dass unser Schwesterschiff, die âHelgoland Expressâ, die mit ihrer Crew nur kurz nach uns an diesem Morgen in Finkenwerder gestartet war, eine Ă€hnliche Entscheidung getroffen zu haben schien. Auch sie drehten ab und setzen Kurs, weiter den Fluss hinab, Richtung Cuxhaven, Richtung Nordsee.
Es sollte ein echtes Abenteuer werden, aber das wussten wir an diesem sonnigen Donnerstagmittag noch nicht. Ahnten es höchstens mit einem scheelen Blick auf die ungemĂŒtlichen Wettervorhersagen der kommenden Tage. Doch in diesem Moment genossen wir es einfach, wieder auf dem Wasser zu sein. Rhinplate schickte uns einen gefiederten Beobachter vorbei: fĂŒr Augenblicke fesselte ein Seeadler unsere Aufmerksamkeit, nachdem kurz zuvor schon zwei Rotmilane ĂŒber uns hinweg gezogen waren. Die Elbe zeigte sich von ihrer malerischen Seite. Und wĂ€ren nicht die drei AKWs an ihren Ufern, die wir zu passieren hatten, könnte man die Unterelbe tatsĂ€chlich zu einer ganz wunderbaren Flusslandschaft erklĂ€ren.
Auf diesem ersten Abschnitt unserer Reise kamen wir auch noch in ganz anderer Hinsicht auf den Geschmack: Christian hatte beschlossen, den Törn fĂŒr uns auch kulinarisch zu gestalten. Als Smutje zauberte unser Skipper fĂŒr uns Blumenkohl an Salzkartoffeln mit GorgonzolasoĂe. Wir schlemmten im Cockpit, wĂ€hrend neben uns die Schafe auf den grĂŒnen Deichen vorbeizogen. Der warme Raumschots-Kurs lieĂ achteraus unser Schwesterschiff als Schmetterling neu schlĂŒpfen, aber wir waren schnellerâŠ
Erst kurz vor Cuxhaven zog die âHelgoland Expressâ schlieĂlich an uns vorbei. Sie verabschiedete sich hier in den Amerikahafen. Ihre Crew wollte am nĂ€chsten Morgen weiter nach BĂŒsum, wie wir spĂ€ter herausfanden. FĂŒr uns war dieser Segeltag aber noch lange nicht vorĂŒber, unser Ziel war die rote Felseninsel in der deutschen Bucht. So ging es an der Kugelbake vorbei hinaus aufs offene Meer.
Es kam mir seltsam vertraut vor, war unser letzter Törn in diesem Revier doch gerade erst zwei Wochen her. Wegen all der UnwĂ€gbarkeiten in diesem seltsamen Jahr hatten wir erst sehr spĂ€t einen Urlaub geplant: zwei Nordseetörns mit halber CrewstĂ€rke. Das Risiko schien uns im Sommer vertretbar, wobei diese EinschĂ€tzung wohl vor allem ein ZugestĂ€ndnis an mich war. Zur Vermeidung eines endgĂŒltigen Lagerkollers, wie Alexander meinte, der sich nach dem monatelangen Homeoffice in der Etagenwohnung langsam aber sicher bei mir anzukĂŒndigen schien. Endlich raus, endlich etwas anderes sehen und erleben. Nicht immer bloĂ vom FrĂŒhstĂŒckstisch zum Schreibtisch, ins Bett und von vorn. Ich gebe zu, die ganze Situation fĂŒhlte sich fĂŒr mich an, als wĂ€re ich in einem Hamsterrad eingeschlossen. Man lĂ€uft und lĂ€uft und kommt doch nirgends hin, geschweige denn an. Alexanders Gleichmut der Situation gegenĂŒber ging mir zunehmend ab, auch wenn ich wirklich keinen Grund hatte, mich ĂŒber meine Lage zu beklagen, die mir immerhin gestattete, meine Arbeit relativ problemlos ins eigene Wohnzimmer zu verlagern. Andere hatten da in diesem Jahr mehr Sorgen auszuhalten. Gerade zu Beginn der Pandemie, als alles geschlossen worden war, hatte ich mehr als einmal bedrĂŒckt an unsere Yachtschule denken mĂŒssen, mit der wir hier nun wieder unterwegs sein konnten. Wie wĂŒrden Robert und seine Leute diese Zeit ĂŒberstehen? Umso erstaunter und menschlich beeindruckt war ich, als Robert, statt wie man hĂ€tte vermuten können, durch seine nun ebenfalls ins omniprĂ€sente Internet verlagerten VortrĂ€ge fĂŒr sich selbst Geld einzunehmen, einen Spendenaufruf fĂŒr „Ărzte ohne Grenzen“ ins Netz stellte. Statt fĂŒr sich selbst, sammelte er fĂŒr andere, die es seiner Meinung nach nötiger hatten. Nicht von ungefĂ€hr stand in den Kommentaren zu seinem Spendenaufruf: âChapeau, Robert!!â
Der Wind blies mittlerweile mit fĂŒnf Beaufort aus OstsĂŒdost â also aus der perfekten Richtung fĂŒr Helgoland, wenn man aus der Elbe kommend diesen Kurs gesetzt hatte. ZurĂŒck wĂŒrde es kein SpaĂ werden, aber an das ZurĂŒck konnten wir morgen frĂŒh immer noch denken. Jetzt wollten wir erst einmal hin.