„Votivschiffchen“

Hamburg Finkenwerder, Cuxhaven, Helgoland, GlĂŒckstadt, Hamburg Finkenwerder

Oktober 2021

Inhalt

  • Rote Monster
  • Der Horizont
  • Kap Bruns – das Kap des kleinen Mannes
  • Die erste FĂ€hre
  • Erfahrungen

Ich fĂŒrchte, ich verabschiedete mich mit den selten blöden Worten: ‚War trotzdem schön.‘ Christian grinste: ‚Obwohl wir segeln waren?‘


Rote Monster

‚Ja, nach dem Wetter mĂŒssen wir schauen‘, Alexander nickte, als er sich den Zeitraffer der Vorhersagedaten auf unserer Wetter-App anschaute, die ich ihm hinhielt. Ich hatte das rote Monster schon etwas frĂŒher entdeckt als er. Es bildete sich Donnerstagabend.

Windmessung fĂŒr 30. September 2021
Windmessung: 30. September / 01. Oktober 2021
(blau: Mittelwind, rot: Böen)

Donnerstagabend wĂŒrden wir irgendwo zwischen Cuxhaven und Helgoland sein. Blieb es dabei, wĂŒrden wir dann wohl eher in Cuxhaven sein statt irgendwo anders. Viel weiter wĂŒrden wir es normalerweise auch unter besten Bedingungen kaum an einem Tag schaffen. Immerhin wollten wir segeln und nicht den Hallunderjet nehmen.

Windmessung fĂŒr 01. Oktober 2021
Windmessung: 30. September / 01. Oktober 2021
(blau: Mittelwind, rot: Böen)

Vielleicht war aber auch die ganze Aufregung völlig unbegrĂŒndet. Die anderen Vorhersageprogramme waren nicht unbedingt der Meinung, dass fĂŒr den Donnerstag der Weltuntergang anstand. Den Trog des Tiefs fanden wir zunĂ€chst auf dieser einen. Man sollte sich sowieso die schönste Wetter-App aussuchen, fand ich. Leider stimmte mir das Wetter da nicht recht zu. Aber es hatte ja noch Zeit, sich zu entscheiden. Immerhin waren es noch sechs Tage bis Donnerstag, fast eine ganze Woche – fĂŒr Wettervorhersagen eine schiere Ewigkeit. ‚Ja, das Wetter sollten wir im Blick behalten.‘ Sicher, was sonst?

Windmessung fĂŒr 02. Oktober 2021
Windmessung: 02. Oktober 2021
(blau: Mittelwind, rot: Böen)

Drei Tage vor Törnbeginn: ‚Was macht denn eigentlich unser Sturmtief?‘ Alexander grinste schief, als er auf die Wetter-App blickte. ‚Welches meinst Du? Das erste oder das zweite?‘ Wir wĂŒrden nie nach Helgoland kommen! FĂŒr Donnerstag war Sturm gemeldet mit Böen um zehn Beaufort. Am Samstag, wenn wir zurĂŒckfahren wollten, fĂ€rbte sich die Wetterkarte schon wieder weiß. Eigentlich wollte ich nicht schon wieder bei Starkwind unterwegs sein, geschweige denn bei Sturm!

Ich verstand völlig, dass es fĂŒr Sylke wenig interessant sein wĂŒrde, einfach nur nach GlĂŒckstadt zu segeln, immerhin lebte sie ja dort. Aber drei Tage vor unserem Törn hatte ich den Eindruck, dass es das Ziel sein wĂŒrde, das wir ĂŒberhaupt wĂŒrden erreichen können. Ja, dass wir froh sein könnten, wenn wir den Köhlfleet ĂŒberhaupt wĂŒrden verlassen können. Bei Island lag ein gewaltiges Sturmtief und schickte AuslĂ€ufer nach AuslĂ€ufer gen Nordsee. So sah es jedenfalls auf der Wetterkarte aus. Vor unserer HaustĂŒr dagegen herrschte immer noch wunderbarer Altweibersommer. Die Sonne hatte gerade den Tau der letzten Nacht getrocknet, von Wind keine Spur. Es waren ja noch drei Tage


Der Horizont

Zwölf Stunden schliefen wir, als wir wieder zurĂŒck zu Hause waren. Ich ergĂ€nzte das um zwei weitere am Nachmittag. So unendlich mĂŒde, so ein fester Schlaf. Welche Kostbarkeit, wenn man sonst immer mal wieder gedankenschwer von einer Seite zur anderen rollt. Das war tatsĂ€chlich etwas, das nun fehlte: die schwankende Bewegung des Bootes, die uns so zuverlĂ€ssig die letzten vier Tage ĂŒber begleitet hatte. Sie war nicht mehr in den Beinen wie noch in den ersten Tagen unseres Seglerdaseins. Nein, leider nicht mehr. An diesem Wochenende war sie vor allem in meinem Kopf. Es klingt verrĂŒckt, aber wenn ich die Augen schloss, konnte ich sie sehen – sehen, wie der Horizont von links nach rechts kippte und wieder zurĂŒck. Den Horizont hatte ich auch wirklich lange betrachtet. Sehr intensiv, sehr genau an jenen Tagen, als das Wasser zu Bergen wurde


Barographenaufzeichnung
Barographenaufzeichnung
(Endpunkt: 03. Oktober 2021)

Als wir losfuhren, hatten wir Sturmfllut. Die Ufer der Elbe standen tief im Wasser. BĂ€ume und StrĂ€ucher schienen zu schwimmen. Die Kardinalzeichen an den Buhnen und den beiden kĂŒnstlich aufgebrachten Wracks vor dem Elbstrand in Rissen waren nur gerade eben noch so auszumachen – eher, weil man wusste, wo sie stehen mussten, als dass man sie tatsĂ€chlich hĂ€tte sehen können. Und das Ganze ereignete sich bei strahlendem Sonnenschein und guten fĂŒnf bis sechs Beaufort.

Dieses Mal waren wir nur mit dem ‚kleinen‘ Boot, der „Elbe Express“ einer Varianta 37, unterwegs und auch nur mit kleiner Crew. Außer Alexander und mir segelten nur Sylke und Christian, unser Skipper, mit. Diese Konstellation hatten wir schon im Jahr zuvor erprobt und gutgeheißen. Wie gerne hĂ€tte ich geschrieben, dass wir in diesem Jahr auch besseres Wetter gehabt hatten als im letzten, doch sollte mal wieder alles ganz anders kommen.

Kap Bruns – das Kap des kleinen Mannes

Dummerweise hatten sich schlussendlich alle Vorhersagemodelle auf dieselbe Aussicht geeinigt: wir sollten einfach Schietwetter bekommen, egal, wie wir das auch drehen und wenden mochten. Über Island kreiste seit Tagen ein garstiges Tiefdruckgebiet, das die Vorhersagekarten der verschiedenen Wetter-Apps in allen möglichen unfreundlichen Farben tönte. Und dieses Tief entwickelte nun gerade einen Trog, der in die Deutsche Bucht zog. ‚Trog‘, das war die ‚feine‘ Sache mit, man denkt, man hĂ€tte das Schlimmste schon ĂŒberstanden, und dann kommt es noch einmal ganz dicke. So ungefĂ€hr hatte ich die ErklĂ€rung aus den SKS-Fragen (SportkĂŒstenschifferschein) noch im Kopf. Und so ungefĂ€hr sollte es kommen. FĂŒr den ersten Tag des Törns und vor allem fĂŒr dessen Abend war uns dieser Trog vorhergesagt, gefolgt von einmal Zeit zum Luftholen, bevor am ĂŒbernĂ€chsten Tag schon das nĂ€chste Tiefdruck ĂŒber die Nordsee gejagt kommen wĂŒrden. Schlechte Karten also, um einen langen Schlag ĂŒber das offene Meer zu planen, der notwendig dann auch einen entsprechenden RĂŒckweg implizieren musste. So dachten wir jedenfalls


‚Wir fahren nach Helgoland. Ich freu‘ mich so!‘ begrĂŒĂŸte Sylke uns am ersten Morgen, wĂ€hrend wir gerade dabei waren, unsere Taschen an Deck zu hieven. Ich schaute unglĂ€ubig. Nur wenig spĂ€ter bestĂŒrmten wir Christian mit entsprechenden Fragen nach dem Wohin-denn-eigentlich bei so schlechten Wetteraussichten. In den vergangenen Tagen hatten Alexander und ich uns den einen oder anderen Gedanken dazu gemacht. Schließlich gab es auf der Elbe ja jede Menge schöne Fleckchen. Doch Christian grinste nur verschmitzt und fragte zurĂŒck: ‚Wieso, wohin? Was habt ihr denn gebucht?‘ Also Helgoland. Helgoland? ‚Aber sie sagen Böen in OrkanstĂ€rke fĂŒr die Deutsche Bucht voraus!‘ wandte ich ein. Wir einigten uns darauf, dass wir erst einmal weiter die Wetterentwicklung beobachten wollten. Schließlich lagen wir da ja noch in Finkenwerder am Steg. Es wĂŒrde noch einiges Wasser die Elbe hinunterfließen, bevor es in Cux galt, eine echte Entscheidung zu fĂ€llen.

Dass es aber auch im beschaulichen Hamburg schon nicht ganz ohne war, merkten wir, als Christian uns das Großsegel direkt im zweiten Reff setzen ließ.

Im dritten Reff
Im dritten Reff

Hinter LĂŒhesand legte der Wind dann noch eine Schippe drauf. Wir fierten das Groß, das trotz Reff zu viel zog und das Boot gehörige auf die Seite warf. ‚Bevor wir nachher vor BrunsbĂŒttel kreuzen mĂŒssen, gönnen wir uns, glaube ich, noch das dritte Reff. Damit fĂŒhlen wir uns dann alle wohler‘, verkĂŒndete Christian schon hier. War unser Starkwind-Törn im letzten Jahr mit einer Rauschefahrt im dritten Reff geendet, fing unser Oktober-Törn heuer also direkt im dritten Reff an. Das konnte ja heiter werden


Und heiter wurde es: eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist
 Meine GĂŒte, wir waren doch immer noch auf der Elbe, nicht auf der Nordsee! Aber die Elbbiegung bei BrunsbĂŒttel hatte es dieses Mal wirklich in sich. EhrfĂŒrchtig tauften wir sie nach diesem Erlebnis „Kap Bruns – das Kap Hoorn des kleinen Mannes“. Der Am-Wind-Kurs ließ die Gischt ĂŒberkommen, und bevor wir es uns versahen, surften wir zwei Meter hohe Wellen hinunter und wieder hinauf. Zu allem Überfluss vertörnte sich bei einer der Wenden auch noch die Steuerbordschot der Genua, sodass Christian aufs Vorschiff kletterte, um die Leinen zu klarieren. Wir hielten den Atem an und gaben ihn erst wieder frei, als unser Skipper sicher zurĂŒck ins Cockpit gelangt war.

Nach Kap Bruns wurde es wieder ruhiger auf unserem Fluss, aber die Mannschaft war durch. ‚Ich glaub‘, jetzt freuen wir uns alle auf eine Pause‘, meinte Christian. Damit war es beschlossene Sache, dieser Segeltag wĂŒrde in Cux enden. Ich atmete auf. Es fĂŒhlte sich an, als wĂ€re ich schon tagelang auf See gewesen und nicht erst seit acht Stunden auf der Elbe. Andererseits waren wir in immerhin nur acht Stunden auch schon bis hierher gekommen. Der Wind war so stark gewesen, dass er uns locker sogar gegen den gekenterten Strom bis nach Cuxhaven getragen hatte: trotz der Kreuzerei, trotz der Wellen, trotz des dritten Reffs im Großsegel. Ja, wir hatten uns eine Pause verdient.

Mir fielen all die guten Dinge ein, die man tun konnte, wenn man erst einmal wieder ruhig im Hafen lĂ€ge: essen, schlafen, heiß duschen gehen
 Nachdem die Leinen fest waren, begannen wir diese Liste der Seligkeiten mit einem Rum auf Kap Bruns.

An dieser Stelle könnte das Seemannsgarn nun gehörig weiter gesponnen werden, wenn ich von unserem sturmzerfetzten Vorsegel schriebe. TatsĂ€chlich wechselten wir als nĂ€chstes nĂ€mlich gerade dieses, das am Achterliek auf einen guten Meter LĂ€nge eingerissen war. Doch war der Zwischenfall mehr von der Sorte: ‚Du sag‘ mal, da vorne an der Genua, da is‘ was komisch.‘ ‚Wo?‘ ‚Na, da vorn, wo so Fransen raushĂ€ngen.‘ ‚Ach, da!‘ Also keine Fetzen im Sturm, nur ein erschöpftes Segel einer erschöpften Crew. Als Ersatz musste jetzt die ‚kleine‘ Fock ran, wie Christian in den folgenden Tagen nicht mĂŒde wurde zu betonen. ‚Klein‘ hin oder her, sie wĂŒrde fĂŒr den kommenden Wind allemal groß genug sein.

Es war, glaube ich, viertel vor acht, als ich an diesem Abend das erste Mal nach der Uhr schielte. Lecker gegessen hatten wir da schon und schĂŒttelten ĂŒber uns die Köpfe, hatten wir doch alle lĂ€ngst an unsere Kojen gedacht. Unmöglich, so frĂŒh, das war ja noch fast vor dem SandmĂ€nnchen! Wenigstens noch ein bisschen. Viertel vor neun war dann aber endgĂŒltig Schicht im Schacht, und alle Lichter auf der „Elbe Express“ schon aus.

Die erste FĂ€hre

Der Amerikahafen ist wirklich kein ruhiger Ort fĂŒr eine Nacht. Der Wind heulte in den Wanten und stetiger Schwell klatschte gegen Boot und Steg. Ich schlief trotzdem wie ein Baby. ‚Heute Nacht haben sie wieder irgendwo SchĂŒttgut verladen!‘ stöhnte Alexander am nĂ€chsten Morgen, und Sylke nickte schlaftrunken. SchĂŒttgut? Keine Ahnung, hatte ich nicht mitbekommen.

Blutrot ging die Sonne ĂŒber der Elbe auf, als wir zum Duschen liefen. In den BĂ€umen vor dem Clubhaus schwatzte schon ein großer Schwarm Stare. Wahrscheinlich erzĂ€hlten sie sich von den Windböen, die sie ĂŒber den Fluss gejagt hatten. Wir hörten noch nicht so genau hin. Erst nach dem FrĂŒhstĂŒck steckten unsere Nasen wieder in den verschiedenen Wetter-Apps. Kein Zweifel, sie sagten alle dasselbe: Starkwind, sieben Beaufort, in Böen neun. Sturm begann bei acht. Mehr als 35 Knoten Wind hatte ich auf dem Wasser noch nicht erlebt. Eine neun wĂ€re definitiv mehr. ‚Aber Böen gehen doch schnell vorbei.‘ Ich zweifelte weiter. ‚Und gegen zu viel Wind kann man ja was machen. Wir reffen eben, und dann haben wir ja sowieso nur noch die kleine Fock drauf.‘ Außer mir waren alle fĂŒr, wir wollen zumindest mal nachschauen, wie es da draußen so ist. Wer war ich, dem zu widersprechen? Zumal die Crew des zweiten Bootes nun dasselbe plante, wie sie uns erzĂ€hlten. Sie waren in der Nacht in Cux angekommen. Hatten in GlĂŒckstadt die ĂŒbliche Pause eingelegt. Das hatte dann Vor- und Nachteile gleichermaßen. Nachteil: sie waren gerĂ€dert von der kurzen Nacht. Vorteil: Kap Bruns hatten sie so zahm erlebt, wie ein Stubentiger nur sein konnte.

Jedenfalls waren es nun zwei Boote, die wild entschlossen waren, es an diesem Tag mit der Nordsee aufzunehmen. Und so verließen wir den Amerikahafen an einem wunderbar sonnigen Morgen im dritten Reff, mit unserer kleinen Fock und freuten uns ĂŒber das ruhige Wasser, auf dem wir mit unseren Handtuchsegeln vor dem Wind nur so dahin schossen. Vielleicht hĂ€tten wir stutzig werden sollen, dass außer uns nur die dicken Pötte unterwegs waren. Andererseits – hatten sie im Funk nicht gerade von zwei Kanufahrern gesprochen? Aber die gehörten wahrscheinlich sowieso in die Kategorie ‚denen graut vor nix‘.

Sylke strahlte am Ruder, als wir so vor dem Wind dahin flogen. Einziges Wermutströpfchen war der LĂ€rm, den ein DĂŒsenjet verbreitete. Jenseits der hingetupften Altocumuluswölkchen war er nicht zu sehen, begleitete uns akustisch aber umso intensiver.

Als wir ins LĂŒchterloch abbogen, löste ich Sylke am Steuer ab. Und nur wenig spĂ€ter begann dann der Tanz. Eine erste Welle rollte von Backbord unter unserem Schiff durch. Hatte ich erwĂ€hnt, dass ich an dem Unternehmen zweifelte? Lautstark wies ich den Rest der Crew nun darauf hin: ‚Jetzt beginnen die Wellen!‘ Nur falls es zufĂ€llig jemand noch nicht gemerkt haben sollte. Die Wellen nahmen zu. Bald schon schaukelte die Welt um uns herum lustig durcheinander. Alexander und Sylke starrten fasziniert nach links und rechts. Ich hielt den Blick stur geradeaus, beschĂ€ftigte mich mit der Suche nach der nĂ€chsten Fahrwassertonne in diesem ewigen Auf und Ab. Nein, ich wollte nicht sehen, was die anderen gerade bestaunten. Auf den SĂ€nden neben dem Fahrwasser kochte das Wasser. Man sagt es wohl oft, aber in diesem Moment traf es zu. Die Gischt explodierte dort regelrecht in den sich stetig brechenden Wellen. Weißes Wasser soweit das Auge blicken mochte, nur rechtvoraus war unsere schaukelnde Welt noch einigermaßen in Ordnung. Noch einmal wandt ich ein: ‚Ihr seid sicher, dass ihr da raus wollt?‘

Jenseits des LĂŒchterlochs ĂŒbergab ich das Ruder an Alexander. Wir bogen in die Norderelbe. Immer noch ein Halbwindkurs, aber die Wellen kamen nun schrĂ€g von vorn, sodass unsere „Elbe Express“ eine wilde Berg- und Talfahrt begann. Aus guten drei Metern Höhe starrte ich unter uns ins Wasser und fragte mich, was ich wohl machen sollte, wenn ich nun seekrank wĂŒrde. Als erstes wĂŒrde ich meinen Livebelt wohl auspicken mĂŒssen, sonst wĂŒrde ich es unmöglich bis nach da unten zum Lee-SĂŒll schaffen. Meine Hand krallte sich in die Sprayhood. Unmöglich, auspicken! Dann doch besser gar nicht erst seekrank werden. Ich starrte auf den Horizont aus Wasserbergen. Sobald mir klar geworden war, dass wir nicht mehr umkehren wĂŒrden, wollte ich nur noch eins: ankommen.

Christian meinte spĂ€ter, ich hĂ€tte ausgeschaut, als wollte ich bei erst bester Gelegenheit ein Votivschiffchen stiften. Gut möglich, nein, eigentlich bin ich mir sicher, dass ich genauso ausgesehen haben muss – wie ein festgebundenes StĂŒck Elend. Ob ich denn konkret vor etwas Angst gehabt hĂ€tte oder eher diffus? Diffus! Aber, Himmel Herrgott noch mal, was machte das schon fĂŒr einen Unterschied?!

Letzterer erschien dann sehr konkret, als Sylke, am Ruder stehend, rief: ‚Ich sehe Helgoland!‘ Sie lachte. Jetzt haben wir es geschafft, dachte ich. Und dachte das, wie sollte es auf einem Segelboot anders sein, gute zwei Stunden lang. Ich dachte es, als beim chaotischen WellenhĂŒpfen am Beginn des HelgolĂ€nder Festlandsockels doch noch die Nummer mit dem Aus- und wieder Einpicken anstand, und ich den Orangensaft vom FrĂŒhstĂŒck ins Meer spuckte. Ich dachte es, als das Meer mit einer gewaltigen Welle Gischt ins Cockpit zurĂŒckspuckte und alles darin durchweichte. Und ich dachte es beinahe glĂŒckselig, als ich danach, mich aufrichtend, endlich die rote Felseninsel erblickte und schon Leuchtturm, Funkmast und die DĂŒne mit ihrem eigenen rotweißen Leuchtturm ausmachen konnte. Von diesem Moment an tat ich nichts anderes mehr, als jene Insel zu fixieren – diese vermaledeite Insel, die Segler anzog wie Motten das Licht. Ja, ich wĂŒrde demnĂ€chst im Club erzĂ€hlen können, dass ich bei sieben WindstĂ€rken ĂŒber die Nordsee nach Helgoland gesegelt war. Und ja, wĂŒrde ich sagen, natĂŒrlich haben wir die Insel erreicht, warum auch nicht? Ich wĂŒrde mich ĂŒber die Gesichter freuen können, von denen ich wusste, dass viele schon mehrfach diesen Törn hatten unternehmen wollen und doch bisher nicht angekommen waren. All das wĂŒrde ich sagen können, wenn wir nur erst in diesen blöden Hafen eingelaufen wĂ€ren, auf den vor uns noch zwei weitere Boote zuhielten. Das eine war die „Helgoland Express“, unser Schwesterschiff, das den Weg ĂŒber das Hauptfahrwasser zur Insel gewĂ€hlt hatte, um dem Seegang so lange wie möglich zu entgehen. Beide schaukelten wild vor uns. Und auch wir hatten einen guten Umweg, weit sĂŒdlich ins Fahrwasser zum Hafen gewĂ€hlt, um uns möglichst weit klar zu halten von der DĂŒne und ihrem flachen Wasser mit den noch höheren Wellen.

Es war kurz vor vier Uhr am Nachmittag, als wir unsere Leinen am Steg festgemacht hatten. Mit uns lagen hier nur besagte zwei andere Boote. Keine PĂ€ckchen reihten sich auf wie sonst ĂŒblich. An diesem Tag waren tatsĂ€chlich nur diese drei Boote – uns eingeschlossen – im Hafen angekommen. Die zwei Tage zuvor war noch nicht mal die FĂ€hre zur Insel rausgefahren, so ein Sturm war ĂŒber Helgoland dahin gefegt. Selbst hier im Hafen blies der Wind noch immer mit aller Kraft. Boote und Schwimmstege tanzten auf dem Wasser, was Christian einigermaßen verĂ€rgerte. ‚So sollten Stege sich nicht verhalten! Wenigstens im Hafen sollte Ruhe sein‘, entrĂŒstete er sich, und wir stimmten zu.

Wir waren angekommen. Beide Crews waren glĂŒcklich und – durch. Ein Mitglied auf der „Helgoland Express“ lag schon wenig spĂ€ter in der Koje. Sie hatte die letzten Stunden seekrank ĂŒber der Reling verbracht, dagegen war ich noch gut weggekommen. Also nichts lieber als endlich etwas essen, dachten wir und begannen mit den Vorbereitungen fĂŒrs Abendbrot. Draußen setzte zwischenzeitlich Regen ein, und wir beglĂŒckwĂŒnschten uns zu unserem Entschluss, nicht zur „Bunten Kuh“ gelaufen zu sein. Andererseits
 Nachdem ich die ersten Bissen Tomaten-Mozarella-Salat verputzt hatte, und man zum Hauptgang ĂŒbergehen wollte, streikte mein Magen. Ging einfach nicht. Mir war nicht schlecht, aber essen mochte auch nicht. Ich beschloss den Tag dann mit einem Becher ‚Fußwaschwasser‘, wie Alexander ĂŒber meinen Kamillentee spottete. Mir war‘s egal und nur wenig spĂ€ter schlief ich wie ein Stein in unserer Koje. Mochten Wind und Regen auch aufs Deck prasseln und durch die Wanten jagen, ich schlief den Schlaf der Gerechten.

Erfahrungen

Das verkĂŒrzte gesellige Beisammensein war auch insofern nicht ganz verkehrt gewesen, als diese Nacht einmal wieder sehr kurz zu werden versprach. Es gab eben nur diese zwei Zeitfenster, zu denen wir mit dem einsetzenden Flutstrom die ElbmĂŒndung erreichen konnten. GrundsĂ€tzlich hĂ€tte ich gerne fĂŒr das zweite am Nachmittag plĂ€diert, das ein komfortables Ausschlafen und ein Flanieren ĂŒber die rote Felseninsel versprach. Leider war es aber auch das Zeitfenster, das mit vorhergesagten sĂŒdöstlichen Winden auf uns wartete, also mit einer langen Kreuzerei gegenan. Dann also doch lieber morgens frĂŒh los – also morgens, also
 ‚Seid ihr wirklich schon um zwei losgefahren?‘ erkundigte sich ein Freund von uns spĂ€ter irritiert, der unseren Törn bei MarineTraffic mit verfolgt hatte. Na ja, zwei Uhr UTC – also plus zwei Stunden und wieder minus eine zum Aufstehen. Ah, es war schon verdammt frĂŒh in dieser Nacht!

Zwischenzeitlich hatte der Wind nachgelassen und auch der Regen war weitergezogen. Trotzdem blieb das Ablegemanöver eine Herausforderung. Ich stand am Steuer. Eindampfen in die Vorspring. Aber der Wind drĂŒckte uns immer noch mit Macht gegen den Steg, also gab ich Gas und mehr Gas und noch mehr Gas. So viel Schub hatte ich wohl noch nie zum Ablegen gebraucht. Anschließend zogen wir ein paar Kreise durch den nĂ€chtlichen Vorhafen, um die Segel zu setzen und das Boot zu klarieren. Wieder und wieder musste ich dabei unseren Kurs korrigieren, weil der Wind uns beharrlich nach Lee auf die Mole zu schob. Dann endlich war alles klar soweit und wir segelten hinaus durch die Hafeneinfahrt auf die nĂ€chtliche Nordsee. Hinter der roten Fahrwassertonne ging es auf den Kurs, den wir uns abends zuvor noch ausgerechnet hatten, dann wurde es still im Cockpit.

Ein paar Wellen liefen immer noch unter unserem Boot hindurch, aber kein Vergleich zu dem wilden Ritt tags zuvor. Der Wind hatte deutlich abgenommen, unser Großsegel war nur noch im ersten Reff. So flog unsere „Elbe Express“ dahin. Über uns stiegen die Sterne empor, Orions GĂŒrtelsterne schoben sich durch eine WolkenlĂŒcke, der große Wagen war mit hoher Geschwindigkeit ins Schleudern geraten und krĂ€ngte nun auf seiner Deichsel. Am Horizont sah ich die Lichter der Ankerlieger auf der Tiefwasserreede. Ließ ich sie leicht an Steuerbord ĂŒber der Sprayhood, hielt ich den perfekten Kurs auf meinem Kompass. Kurz, ich hatte mich mit meiner Nordsee wieder ausgesöhnt. Hatten wir uns am Tag zuvor beide zum Kotzen gefunden, schwelgte ich nun wieder in ihren sanften Armen und blickte hoffnungsvoll ins Fahrwasser auf der Suche nach dem Meeresleuchten.

Das blieb leider aus, dafĂŒr funkelten wenig spĂ€ter die Lotsen auf ihrer Station an der ElbmĂŒndung. Sylke stand zwischenzeitlich am Ruder, und ich war auf der Cockpitbank eingenickt. Es konnte so unendlich friedlich sein hier draußen, vielleicht konnte man fĂŒr diese Momente dann doch das so arg bewegte Wasser vom Vortag – wie Christian es so treffend genannt hatte – verschmerzen. War es wirklich dasselbe Meer? Wieder fielen mir die Augen zu, bis ich kurz vor Cux Alexander am Steuer ablöste. Noch bis zur Bake Z hatten wir das HelgolĂ€nder Leuchtfeuer gesehen, dann begann die MorgendĂ€mmerung.

Überhaupt schien sich der Meeresgott wieder mit uns versöhnen zu wollen. Schönstes Segelwetter empfing uns auf der Elbe zusammen mit einer ganzen Flotte an Segelbooten, die uns entgegenkam. ‚Nur gut, lass‘ sie segeln‘, meinte Christian, ‚dann haben wir auf jeden Fall einen Platz im Hafen.‘ Damit meinte er GlĂŒckstadt, denn bis dorthin fuhren wir bei besten VerhĂ€ltnissen mit sage und schreibe ganzen zwei Wenden von Helgoland aus. Kap Bruns zeigte sich an diesem Tag von seiner zahmen Seite, und spĂ€testens seit der Oste ließen wir uns die Sonne in die Gesichter scheinen.

Segeln auf der Elbe
Segeln auf der Elbe

Die vielen Segelboote entpuppten sich als Mitglieder verschiedener Clubs am Fluss, die einen gemeinsamen letzten Tag auf dem Wasser verbringen wollten. Es wurde Herbst, auch wenn gerade erst die Sonne zurĂŒckgekehrt war. Auch fĂŒr uns wĂŒrde dies das letzte Mal Segeln in diesem Jahr, die letzten zwei Tage auf dem Wasser, bedeuten. Und das war wesentlich schlimmer als Starkwind auf der Nordsee!

„Mare Frisium“ , Elbe
„Mare Frisium“ , Elbe

Mein Votivschiffchen hatte ich hiermit nun abgeliefert. Vom Bangen wĂŒrde ich zum Hoffen wechseln. Hoffen auf das nĂ€chste Jahr, die nĂ€chste Saison und jede Menge neuer wunderbarer Segelabenteuer draußen auf dem Meer.

Andere Leute machen Urlaub, Segler machen Erfahrungen…