Auf unserer Wanderung von Catacol über Loch na Davie nach Lochranza habe ich die zweite Kreuzotter auf Arran und in meinem ganzen Leben gesehen. In unserem Wanderführer hieß es, die Tiere wären so selten, dass man sich glücklich schätzen sollte, sollte man je eines dieser scheuen Wesen zu Gesicht bekommen. Nun, dieses ‚Glück‘ hatte ich, wie gesagt, gleich zwei Mal und hatte auch nicht den Eindruck, sie seien besonders scheu, eher sauer, weil man sie gestört hat.

In meiner Erinnerung bewegte sich dieses zweite Exemplar meines Lebens wie die Schlange, die ich als Kind in Comic-Filmen gesehen hatte: Kopf und Rumpf erhoben, zischelnd und nur mit dem unteren Rumpf und dem Schwanz dahin schlängelnd. Ich weiß, es ist mehr als unwahrscheinlich, dass es wirklich so war. Sehr sicher dagegen bin ich mir, dass wir beide den Eindruck hatten, sie würde uns nicht nur ungern, sondern geradezu entrüstet Platz machen, als wir ihren Weg kreuzten. Ja, sie verharrte sogar für einen kurzen Moment am Wegesrand, um sich noch einmal nach uns umzusehen – zumindest einen giftigen Blick schien sie noch loswerden zu wollen, bevor sie endgültig zwischen den Gräsern wieder verschwand.

‚Wegesrand‘ ist dabei allerdings zuviel gesagt. So etwas wie einen Pfad gab es hier nur am Anfang, als wir in Catacol losliefen und wieder ganz zum Schluss, als sich ein gegen den steil abfallenden Berghang abgesicherter Trampelpfad zurück nach Lochranza bis zur dortigen Distille wandt. Dazwischen, also gute zwanzig Kilometer lang, existierte maximal eine vage Idee von Weg. An einigen Stellen war diese ‚Illusion‘ durch etwas gekennzeichnet, das sich in der Karte „Cairn“ nannte und als Markierungspunkt gedacht war, um Abzweigungen zu kennzeichnen und eine grobe Orientierung zu ermöglichen. Diese „Cairns“ entpuppten sich als mehr oder weniger sichtbare Steinhaufen. Wusste man, wonach man suchte, waren sie durchaus hilfreicher als die grün gestrichenen Pfosten in der grünen Landschaft, die einen Wanderweg auf Norderney einst für uns hatten markieren sollen, trotzdem waren es jetzt aber auch nicht die auffälligsten Wegmarken. Merke: Man braucht nicht nur Gamaschen, man braucht auch einen Kompass! Ja, es gibt tatsächlich Gegenden, wo man auch zu Lande navigieren muss. Dies mag für Großstädter wie uns eine erstaunliche Erkenntnis sein, war unsere Einstellung doch eher mit dem Statement unseres Landlords in Edinburgh vergleichbar, der uns lächelnd mit auf den Weg gab, wir müssten halt immer nur noch ein Stückchen weiter laufen. Arran sei schließlich eine Insel, da käme man früher oder später sowieso ans Wasser…

Auf Wasser stießen wir im wahrsten Sinne des Wortes auch auf dieser Wanderung – doch war es mitnichten der Firth of Clyde, d.h. das Stück der Hebridischen See, in welche Arran zwischen der Halbinsel Kintyre und dem schottischen Festland eingekuschelt liegt. Das Wasser, auf das wir hier trafen, floss von den umliegenden Hügelkuppen in der Talsohle zusammen, in deren Mitte Loch na Davie liegt. Von dort bezieht die Distille in Lochranza ihr Wasser für den lokalen Single Malt. Es wäre das sauberste der ganzen Insel. Das mochte zweifelsohne so sein, denn in diesen abgelegenen Winkel der Insel verschlägt es wohl noch weniger Menschen, als einem sowieso schon auf dem Eiland begegnen. Wir trafen auf genau zwei weitere Wanderer im Tal von Catacol und das war es dann auch schon für die nächsten zwanzig Kilometer. Insofern fanden wir uns bei Loch na Davie dann auch ganz allein im Schlamassel wieder, wobei wahrscheinlich bloß ich das so sah. Nie werde ich Alexanders Satz vergessen: ‚Es ist alles in Ordnung, aber bleib jetzt bloß nicht stehen.‘ Nein, stehen bleiben war gerade eine ganz dumme Idee, denn man sankt augenblicklich im moorigen Boden ein, der vollgesogen war von den Regenbächen der umliegenden Hügel. Eigentlich hätte es hier einen Wanderweg geben sollen, so zeigte es uns jedenfalls unsere Wanderkarte. Gut, wir hatten uns zwischenzeitlich daran gewöhnt, dass „Weg“ dabei oft nicht mehr meinte als plattgetretenes Gras, das erkennen ließ, dass andere hier auch schon einmal vorbeigekommen waren – aber hier war noch nicht einmal mehr das der Fall. Nur rundum die Wildnis mit ihrem einnehmenden Moorboden, der uns nur zu gerne willkommen geheißen hätte, wie mir schien.

Ich gebe zu, Moor ist nicht so mein Ding. Mir kommen dabei stets die Moorleichen ins Gedächtnis, die nahe der Wikingersiedlung Haithabu in Schleswig-Holstein ausgestellt werden und mir als Kind eine Heidenangst eingejagt haben, als wir einen Schulausflug zu diesem Freilichtmuseum unternommen hatten. „Oh schaurig ist‘s, übers Moor zu gehen“ – noch so eine Erinnerung aus meiner Kindheit, dieses Gedicht („Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff), das von dem Verhängnis dieser grandiosen Landschaft kündet.

Also, bloß nicht stehen bleiben – aber dann wohin laufen? Eine Weile lang hatte ich die verrückte Idee, dass wohl das Flussbett, dem wir von Loch na Davie aus nach Lochranza folgten, mehr Sicherheit bieten könnte, immerhin lagen ganze Felsblöcke darin – Steine, die wir nach und nach auf dem benachbarten Moorgrund mehr und mehr vermissten. Aber durch das eiskalte Wasser zu stapfen, wäre auch keine besonders sinnvolle Lösung gewesen. Also weiter.

Ich habe nur noch eine vage Erinnerung an die wunderbare Landschaft um mich herum, durch welche wir eilten. Sehr genau weiß ich dagegen noch, dass ich wie gebannt auf den Boden vor meinen Füßen starrte, um zu sehen, wohin ich meine Schritte wohl würde setzen können, als ich Alexander hinterher stolperte. Und noch mehr erinnere ich mich an die Erleichterung, die ich empfand, als sich dieses Sumpfloch meiner Erinnerung wieder zu festem Boden formte, der uns über einen steilen, aber gut gesicherten Pfad den Hang hinunter nach Lochranza führte. Neben uns rauschte wieder einmal ein Wasserfall ins Tal. Es war hier, dass wir das erste Mal wieder innehielten, um dieses Naturspektakel in Ruhe zu bestaunen.

Der Weg führte schließlich mehr oder weniger unmittelbar an der Distille vorbei, die mit ihren Türmchen wie ein buddhistischer Tempel ausschaut. Ein wunderbares Dinner im dortigen Restaurant weckte dann meine Lebensgeister wieder. Was für ein Abenteuer!

Dass dies in der Tat keine einfache Route gewesen war, die wir da gemeistert hatten, wurde uns bei einem unseren nächsten Besuche auf Arran bewusst. Bei diesem Mal hatten wir uns nur eine „There-and-back-again-Tour“ durch Glen Catacol, immer entlang am Abhainn Mor vorgenommen. Als wir schließlich zurück an der Ringstraße angelangt waren und dort eine Weile auf den Bus warteten, gesellte sich ein weiteres Wandererpärchen zu uns. Sie waren von Lochranza aus über Loch na Davie nach Catacol gelaufen. Es sei etwas nass gewesen, erzählten sie lachend, während sie neben uns ihre Wanderstiefel ausgossen und die Socken zum Trocknen in die Sonne hängten. Ja, Wasser wird man da oben ganz sicher finden – nur sicher keines, das salzig schmeckt.

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