Will man über Arrans ‚magische Orte‘ schreiben, kann einem die Auswahl schon schwerfallen. Die Insel hat einfach eine durch und durch verwunschene Landschaft.

Die knorrigen Bäume – vom Wind und Wetter zerzaust, wachsen ihre Stämme in den absonderlichsten Formen, strecken sie einem ihre Äste bald fragend, bald drohend oder auch einfach nur so zum Spaß entgegen. Jeder ein Unikat, so wie es nur auf einer Insel sein kann, weil man unter sich bleibt und Fremde misstrauisch beäugt. Doch das Stadtkind in mir kann sich einfach nicht sattsehen an ihnen – ihrer Form, ihrem störrischen Charakter. Über und über mit Moos und Flechten bedeckt, spielen sie Urwald hier im hohen Norden, und ich denke an Grimms Märchen und suche nach Brotkrumen zum Ausstreuen und Folgen.

Vielleicht fange ich mit dem Ort an, der mir schon bei der ersten Lektüre der Wanderführer am verlockendsten erschienen war – lange bevor ich überhaupt nur einen Fuß auf das Eiland gesetzt hatte: Glenashdale Falls.
Ich war von Anfang an fasziniert von der Vorstellung, auf Arran einen echten Wasserfall zu Gesicht zu bekommen – dass diese in Schottland tatsächlich keine Seltenheit sind, war mir zu diesem Zeitpunkt durchaus noch nicht bewusst. Als Kind hatte ich bei einem der seltenen Familienausflüge den Wasserfall bei Triberg im Schwarzwald erklommen. Ich war damals noch nicht sehr alt und trotzdem – auch wenn aus der Kinderperspektive ja immer alles irgendwie größer erscheint, kam mir dieser Wasserfall auch damals schon irgendwie etwas dürftig vor. Sollte ich heute einen Vergleichsmaßstab wählen, würde ich sagen, das Ungleichgewicht zwischen meiner damaligen Erwartung an einen Wasserfall und Tribergs Realität war in etwa so groß, als würde man deutsche Brunnen (also den typischen deutschen Durchschnittsbrunnen) mit dem römischen Katarakt Fontana di Trevi vergleichen wollen.
Triberg ist mir als ähnliches Erlebnis in Erinnerung geblieben, und so war ich nun mehr als gespannt, wie wohl die schottischen Wasserfälle sein würden. Es gibt Sachen, die will man einfach mal selbst gesehen haben. Wasserfälle gehören bei mir definitiv in diese Kategorie. Und Glenashdale Falls sollten mich in dieser Hinsicht auch wirklich nicht enttäuschen.

Dieser grandiose Wasserfall ergießt seine dunklen, vom Moor eingefärbten Fluten in zwei Stufen donnernd in einen See mit dahinter gerade noch zu erahnender Grotte. Natürlich sind auch die Schotten touristisch nicht ganz unbeleckt: sie haben eine Aussichtsplattform davor errichtet, von welcher aus der Schwindelfreie in aller Seelenruhe das Naturspektakel betrachten kann. Nicht weniger unterhaltsam ist übrigens auch das Spektakel vor dieser Plattform, wo ich als nichtschwindelfreier Zeitgenosse länger ausharrte. Immer wieder wurde dort dem Zögerlichen vom offensichtlich sich für mutig haltenden Part einer Zweierbeziehung demonstriert, dass diese Plattform weder schwanke noch wanke noch sich in sonst einer für ängstliche Seelen unanständigen Art bewege. Normalerweise lief das so ab, dass besagter eher abenteurlustige Part grinsend auf dem auch in meinen Augen eher fragilen Holzgerüst auf und ab hüpfte. ‚See?‘ Während der skeptische Part die Augenbrauen hochzog und einige Schritte zurückwich – zurück vor dem Lattenrost über dem Abgrund und zurück vor allem vor dem, der da hüpfend allen anderen den Weg blockierte.

Nun, wie dem auch sei, Glenashdale Falls bieten einen grandiosen Anblick ob nun von besagter Plattform aus, knapp daneben, von unten oder von oben, denn der Wanderweg, der sich um diesen Wasserfall durch einen schönen Laubwald drumherum windet, bietet immer wieder eine Möglichkeit zu einem atemberaubenden Ausblick. Folgt man diesem Weg, gelangt man innerhalb des Waldes zu zwei weiteren Besonderheiten, die nicht weniger hoch auf meiner ‚Will-ich-sehen-Liste‘ standen: einem steinzeitlichen Ford und einigen Hühnengräbern nebst Standing Stones.

Das Ford liegt mitten im Wald. Eine Wallanlage, die sich heute als mit saftigem grünem Gras bewachsene Lichtung präsentiert. Zu einer Seite fällt der Boden jäh ins Leere der Klippen hinab. Verteidigung also nur zu einer Seite hin nötig – mein Geschichtslehrer wäre stolz auf dieses Beispiel an bedachter Kriegsführung gewesen (ich mag keine Ahnung von Kriegsführung haben und strebe diese, weiß Gott, auch wirklich nicht an, aber dass ein Zwei-Fronten-Krieg eine blöde Idee ist, das zumindest habe ich aus dem Geschichtsunterricht mitnehmen können). Kommt man hier an, scheint die Welt still zu stehen. Man möchte sich am liebsten in diesem grünen Gras ausstrecken und für immer ein Teil dieses wogenden Meeres aus Ruhe und Abgeschiedenheit werden – jedenfalls solange wie gerade der Regen pausiert…

Das Steinzeit-Ford – wunderschöner, verwunschener Ort. Mitten im Wald öffnete sich diese einladende Lichtung. Man versteht sofort, dass dies ein guter Ort für das Leben gewesen sein muss. Auf der anderen Seite der Lichtung fällt der Hügel jäh steil bergab – Zugang verwehrt. Nur dieser eine leicht zu beobachtende Weg führte hinein – und dahinter: süßes Leben. Fast Leichtigkeit meint man zu spüren – wie die weißen Federn des Wollgrases – obwohl alles kalt und nass war. Die Wälder waren hier ein einziger Traum. Stumme Urwaldwälder mit federnden Böden und murmelnden Bächen, die sich langsam sammeln und dann in schnellen Sprüngen die Hügel hinabeilen. Noch nie habe ich so viele Wasserfälle wie auf dieser Insel gesehen. Es gab sie in jeder Größe, in jeder Höhe. Und immer war es dieses glasklare Moorwasser, das einen so seltsam anwandelt.

Das klare, moorbraune Wasser, das mit seinen Strömen die Geschichte mit sich bringt, ausgewaschen aus den Feldern und Wäldern der Insel…
Moor. Unwillkürlich zieht der Begriff zu den Geschichten von Sherlock Holmes – der Hund von Baskerville Hall. Ich erwarte das Monster dann an jeder Wegbiegung, aber es bleibt still. Ganz im Gegenteil zeigt sich die Natur hier von ihrer herrlichsten Seite. Ich liebe den Wald, den Geruch nach schwerer Erde und Tannennadeln, die Bäume, der weiche Boden. Kann es nicht erwarten, wieder hineinzugehen – auf Entdeckungstour, auch wenn hinter mir ein sagenhaftes Wesen all die gewissenhaft verstreuten Brotkrumen genüsslich gründlich vertilgen wird…

Hühnengrab und Standing Stones befinden sich auf der dem Ford quasi gegenüber liegenden Anhöhe außerhalb des Waldes. „The Giant‘s Teeth“ werden sie genannt, die Zähne des Giganten. Machrie Moor ist mir eindrücklicher in Erinnerung geblieben, vielleicht auch, weil in der Nähe der Giant‘s Teeth gerade die Straße erneuert wurde, als wir dort waren. Es gab also eine Baustelle und vor allem eine große Fläche gerodeten Waldes. Zusammen mit dem Aufkommen an anderen Wanderern (uns begegneten sicher vier andere Leute auf dem Hin- und Rückweg dort) reicht diese Szenerie also nicht an die beeindruckende Atmosphäre von Machrie Moor in meiner Erinnerung heran. Aber was sind schon Erinnerungen?
