Das erste, was mir am nächsten Tag beim Aufwachen auffiel, war das Gezeter der Möwen. Auf diesem Törn war es das erste Mal, dass ich es registrierte. In Cux hatte ich zu fest geschlafen, und sonst waren wir überwiegend nachts unterwegs gewesen oder irgendwo angekommen. Doch an diesem sonnigen Morgen schrien sie ihre schrillen Stimmen in den Hafen, wie es sich für die Nordsee gehörte.

Mit das nächste, was meine Aufmerksamkeit fesselte, war das Seenotrettungskreuzer „Ernst-Meier-Hedde“, der am vorderen Ende des Hafenbeckens gut vertäut lag. ‚Hast Du schon gesehen?‘ foppte mich Alexander, als er aus dem Cockpit zurück in den Niedergang schaute. Klar, hab‘ ich! Ich hatte schon den Kopf aus der Vorschiffsluke gestreckt, gleich morgens nach dem Aufwachen, um den neuen Tag auf dem Meer zu begrüßen. Die „Ernst-Meier-Hedde“ hatten wir lustigerweise gerade sehr ausführlich beim Tag der Seenotretter kennengelernt. Einer der wenigen positiven Aspekte der neuen Seuche: cornonabedingt war das Event in diesem Jahr ins Internet verlagert worden wie so vieles. Die Crew der „Ernst-Meier-Hedde“ hatte ein Video über ihr Schiff gedreht, das uns in alle Einzelheiten spähen ließ. Jetzt lag sie also hier vor uns im Sonnenschein, und ihr Tochterboot, die „Lotte“, schien vor guter Laune nur so zu blitzen.

DGzRS-Seenotrettungskreuzer „Ernst-Meier-Hedde“
DGzRS-Seenotrettungskreuzer „Ernst-Meier-Hedde“

Die Insel brachte für uns nicht nur eine heiße Dusche und frische Brötchen zum Frühstück mit sich, sondern auch etwas Zeit zum Vertrödeln mit Sonne, Strand und Meer. Als Kind war ich einmal zu einem Tagesausflug von Föhr aus auf dieser Insel gewesen. Ich erinnerte mich an einen schier endlos langen Sandstrand. Aber vielleicht waren das auch nur die Erinnerungen, die von den Familienfotoalben übriggeblieben waren. Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass ich damals zum letzten Mal in meinem Leben Polo-Shirts getragen habe.

Unser Weg durch den kleinen Ort und hinüber zum Weststrand führte uns zunächst an einem kleinen Verkaufsstand vorbei. Irrtümlicherweise hatte ich diesen zunächst für die Bushaltestelle gehalten. Versammelten sich dort doch nach und nach immer mehr Leute. Auf was mochten sie also warten? Des Rätselslösung näherte sich in Gestalt einer Dame, die neben dem Kiosk eine Flagge zu hissen begann. Sie erzählte dabei, welche Köstlichkeiten sie heute wohl feilbieten würde: ‚Ja, gepulte hätte sie auch.‘ Ah – hier gab es frische Krabben, daher rührte also dieser Menschenauflauf, der sich in einer ordentlichen Reihe mit pflichtschuldig eingehaltenem Abstand voneinander aufgebaut hatte. Mir kam dabei ein Bericht in den Sinn, den ich kürzlich im Fernsehen verfolgt hatte. Jener handelte ebenfalls von Krabben und dem nahezu verrückten Preis, den sie in diesem Jahr für ein entsprechend belegtes Brötchen verlangten. Der Grund war einfach: das Virus. Es verhinderte den üblichen Transport der kleinen Krebstierchen nach Marokko, um sie dort im Akkord pulen zu lassen. Auch dort hatte man Sorge vor Ansteckung und zusammengepferchte Arbeiter, das sollten wir nun wirklich alle in diesem Jahr gelernt haben, sind da keine gute Idee. Marx würde uns sicher gern gehörig den Kopf waschen für diese späte Einsicht (hoffentlich hält sie vor!). Jedenfalls mussten in diesem Jahr die Fischer selbst Hand anlegen und – oh Wunder, die kleinen Biester ließen sich nicht mehr für Pfennigbeträge ihrer Schale entkleiden. Die Touristen staunten, und ich schüttelte mal wieder über unser Wirtschaftssystem den Kopf, das scheinbar immer solange gut zu funktionieren schien, wie es auf dem Rücken von anderen ausgetragen werden konnte. Was hatten wir in diesem Jahr – dank Corona – nicht schon alles Interessantes über unser Land gelernt? Was systemrelevante Berufe waren zum Beispiel und was eben auch nicht. Wer trotzdem alles über finanzielle Einbußen jammerte und wer nicht. Wie plötzlich Gelder verteilt wurden, von denen es bei Anfrage für vergleichbare helfende Projekte in den vergangenen Jahren immer geheißen hatte, sie existierten nicht. Und wie die Ärmsten von allen plötzlich ohne alles dastanden, weil sie keine Straßenzeitungen mehr von Mann zu Frau verkaufen konnten, weil sie nicht mehr von hilfsbereiten ehrenamtlichen Rentnern bei den Tafeln verpflegt wurden und weil ihre Sammelunterkünfte überhaupt nicht mehr geöffnet werden durften. Dann doch lieber noch eben schnell einen Neuwagen der schwer getroffenen Autoindustrie vom Hof wegkaufen, damit endlich nachproduziert werden konnte. Armes Land!