Natürlich hatten wir uns auch auf Spiekeroog einen Spickzettel für den nächsten Tag vorbereitet. Der Plan sah vor, dass wir dieses Mal durch das Wattfahrwasser südlich der Insel fahren wollten. Gut erinnerte ich mich an das letzte Mal, als wir durch den schmalen Prickenweg gekommen waren. An das Wattenhoch, bei dem dann nur noch Zentimeter und nicht mehr Meter Wasser unter unserem Kiel waren. An die gebannte Beobachtung des Lots und das allseitige Aufatmen, als es endlich wieder hochzählte. Und irgendwann in dieser Erinnerungsarbeit hatte es sich mir in den Kopf gesetzt, dass dieses Mal ich am Steuer stehen wollte, wenn es durch dieses Fahrwasser ginge. Und so fand ich mich am nächsten Morgen am Ruder wieder, als wir ablegten und war selbst noch unsicher, welcher verrückte Teil von mir da wieder das Sagen gehabt haben mochte. Wie auch immer, er blieb hartnäckig und ich hinter dem Steuer.

Segeln konnten wir freilich nicht, dafür war der Prickenweg zu eng und auch der Wind zu schwach. Letzteres stellten wir schnell fest. Wir schafften es zwar noch unter Segeln aus dem Hafen, mussten dann aber doch einsehen, dass die Tatsachen gegen uns waren. Nachdem die Fähre an uns vorbeigezogen war, holten wir die Segel wieder ein. Schade! Noch deprimierender war freilich, dass Spiekeroog nun schon wieder achteraus lag.

‚Wer soll denn Deine Navigation übernehmen?‘ holte Christian mich aus meinen Gedanken. Ja, natürlich. Grob war mir der Kurs zwar geläufig, aber ein paar mehr Details würden schon notwendig sein. Ich schickte Alexander an den Plotter, und er dirigierte mich durch das Fahrwasser bis zu jener Tonne, an der der Prickenweg begann. Drei Birkenbüsche markierten die Zufahrt, und schon waren wir im Wattfahrwasser. Noch vom letzten Mal hatte ich im Ohr, man solle sich möglichst dicht an den Pricken halten, um dort das meiste Wasser – hoffentlich – unter dem Kiel zu haben. Tatsächlich ließ Christian mich nun aber leichte Schlenker fahren, um die These zu prüfen. Und, siehe da, aus den drei Metern bei den Pricken wurden ganze fünf Meter etwas weiter an Steuerbord. Die Frage war bloß, wie viel war hier ‚etwas weiter‘? An Steuerbord standen keine Pricken, die angezeigt hätten, wo das Wasser endete und das Watt begann. So tendierte ich doch eher zu den Salzwasserbirken, die mir zumindest eine gewisse Sicherheit in meiner Wegsuche suggerierten.

‚Und was ist, wenn uns einer entgegenkommt?‘ die Frage warf ich in den Raum, als wir am Abend zuvor den Kurs für die Fahrt berechneten. Es schien mir unmöglich, dass man sich in diesem engen Priel irgendwie würde ausweichen können. An beiden Seiten war es schlicht zu flach, um sich Platz machen zu können. Mit meiner Frage erntete ich Gelächter. Die Stimmung am Abend war gut, und man befand, dass im Fall der Fälle der andere schon eine Idee haben würde. Ich konnte mir dann das klugscheißerische ‚Hab‘ ich‘s nicht gesagt?‘ nicht verkneifen, als uns nun ausgerechnet an der flachsten Stelle – dem Wattenhoch, markiert durch zwei Pricken – gleich zwei Boote entgegenkamen. Der motorende Segler mochte noch angehen, aber der Tonnenleger „Schillig“, an dem Tag wohl mit Vermessungsaufgaben betraut, der vor diesem fuhr, war zum Vorbeimogeln auf dem Wattenhoch nun wirklich nicht geeignet.

Wieder war es Christian, der uns ohne Umschweife aus der Bredouille herausholte. Kaum hatten wir realisiert, dass wir die „Schillig“ tatsächlich gleich bei der flachsten Stelle des Fahrwassers würden passieren müssen, war er schon am Steuer, verlangsamte erst die Fahrt und gab dann rückwärts Schub. Ein Stück ging es zurück und anschließend, als wäre es das Normalste von der Welt, hielt er unser Boot eine Weile einfach mehr oder weniger auf der Stelle, bis die „Schillig“ schließlich sicher an uns vorbei war. Dann hatte ich wieder das Ruder, und er dirigierte mich über das Wattenhoch. 1,90 Meter zeigte unser Lot dort an, bei 1,70-Meter-Tiefgang eine aufregende Sache und auch ein merkwürdiger Lerneffekt: War ich im Mühlenbergerloch oft schon beunruhigt gewesen, wenn das Lot unserer Sun bei drei Meter stand, kamen mir nun zwei oder gar zwei Meter zwanzig so tief wie der Marianengraben vor.

Wir hatten es geschafft. Ich hatte es geschafft. Es gibt Dinge im Leben, die man einfach machen muss – das hier war so etwas gewesen. Einfach um sagen zu können: ‚Geschafft.‘ Und vielleicht irgendwann in bierseliger Laune auch: ‚Kein Ding!‘ Doch für den Moment pochte mir das Adrenalin noch in den Schläfen, während die anderen schon bei der nächsten Attraktion der Route waren – der Sandbank mit den Seehunden am östlichen Ende von Spiekeroog. Die Tiere aalten sich dicht an dicht in der Sonne und ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen – nicht durch uns, die wir jeden verfügbaren Feldstecher nun auf die Pelztiere richteten, noch durch das Ausflugsboot von Wangerooge, das sich an uns vorbei noch dichter an die Sandbank der Tiere schob. Schon interessant, waren sonst oft die Segler Objekt der touristischen Begaffung, nahmen die Leute auf dem Ausflugsboot hier in keiner Weise von uns Notiz. Seehund sticht Segler, so einfach war das. Wie viele Touristen mochten am Tag an ihnen vorbeischippern? Hätten sie gekonnte, ich bin mir sicher, sie hätten ihre klugen Köpfchen mit den dunklen Augen nicht bloß aus dem Wasser gestreckt, um nach dem Rechten zu schauen, sie hätten sie auch gehörig über diese verrückten Zweibeiner geschüttelt.

Und dann befanden wir uns auch schon bei der Ansteuerung des Wangerooger Hafens. Dieser entließ noch schnell einen kleineren Frachter in die weite Welt, während wir uns in die Schlange der einlaufenden Sportboote einreihten. Im Hafen fanden wir einen schönen Stegplatz für uns.

DGzRS-Seenotrettungsboot Fritz Thieme, Wangerooger Hafen
DGzRS-Seenotrettungsboot Fritz Thieme, Wangerooger Hafen

Angekommen. Wangerooge, die letzte der ostfriesischen Inseln, die wir auf unserem Törn ansteuern würden. Ein Schwarm Knutts begrüßte uns aufgeregt im Hafen. In nur kurzer Distanz von unserem Boot entfernt standen sie alle auf der Hafenmole, die nun – bei Hochwasser – kaum mehr als ein Haufen Steine über der Wasseroberfläche zu sein schien. Welche Wand sich tatsächlich darunter befand, würden wir in den nächsten Stunden bei fallendem Wasserstand erst noch realisieren.