Keine sechs Stunden später holte uns der Wecker aus den Kojen. Uhrzeitbedingt noch eher wortkarg machten wir uns zum Ablegen bereit. Erstaunt stellten wir dabei fest, dass mit uns scheinbar auch der Starkwind der letzten Nacht schlafen gegangen war. Es rührte sich kein Lüftchen mehr – nur, „Zack“, der weiße Blitz des Helgoländer Leuchtfeuers zog über unseren Köpfen seine Kreise in der Nacht. Zehn Minuten nach fünf standen zwei Crews auf zwei Booten an Deck und lösten ein Päckchen auf für ein drittes Boot, das gerade mal zaghafte Lebenszeichen von unterdecks erahnen ließ. Immerhin konnten wir beobachten, dass der vermeintliche Frühaufsteher und Bald-Loswoller doch zeitnah nach uns den Hafen verließ. Und auch wenn wir ihm alle ob dieser unseeligen Zeit ein wenig grollten, wo doch jede Stunde Schlaf zählte, stellte sich dieser frühe Aufbruch im Laufe des zweiten Segeltages doch als goldrichtige Entscheidung heraus.
Segeltag? Leider begann dieser alles andere als unter rauschenden Winden. In völliger Flaute motorten wir erst einmal dahin. Ich stand am Ruder und wunderte mich. Was war nur mit den Winden des letzten Tages geschehen? Wohin waren sie gezogen? Dass sie bei Leibe nicht fort waren, sondern vorläufig nur ruhten – Kräfte sammelten für die kommenden Tage, das sollten wir noch früh genug erfahren.
Im Moment blieb uns nichts anderes, als den Diesel unserer Varianta zu bemühen. Zu meiner Freude lief unser Boot dabei wie auf Schienen. Der Kompass zeigte den gewünschten Kurs, ohne dass ihn eine Welle aus dem Gleichgewicht brachte. Lächelnd musste ich an die Prüfungsaufgabe bei unserem SBF (Sportbootführerschein See) denken: nach Kurs fahren. Mit nur einer vorgeschriebenen Praxisstunde war das eine echte Herausforderung gewesen – im Februar auf der Elbe bei Entenwerder mit Kurs auf die Schokoladenfabrik auf der anderen Elbseite. Nun steuerte ich unsere 12-Meter-Yacht quer über die Nordsee in der Nacht und alles, was als optischer Anhaltspunkt sich bot, waren die Ankerlichter der Schiffe auf der Tiefwasserreede, an der wir vorbei mussten.
An Backbord verschwanden derweil die Positionslichter der „Hamburg Express“. Sie hatten wesentlich früher als wir die Entscheidung getroffen, den Weg durch die Norderelbe zu wählen. Ansonsten war jetzt nur die nächtliche See um uns. Orion mit seinen drei Gürtelsternen war deutlich zu erkennen, während hinter uns der Vollmond seine Bahn zog. Beide Himmelserscheinungen brachten mich in Gedanken sofort wieder zu meiner Einhandseglerin im Südpolarmeer, die dort mit Hilfe des Sextanten navigiert hatte. Bei der Erwähnung eben dieses rekapitulierte Christian für mich mit wahrem Feuereifer die Grundlagen der Astronavigation, über die ich im letzten Winter bei ihm einen Kurs besucht hatte. ‚Wie, Du hast Dir nicht sofort alles merken können?‘ grinste er verschmitzt, als ich von dem Thema anfing. ‚Oh, ich fürchte noch nicht einmal das Wesentliche‘, dachte ich zerknirscht und empfand in diesem für mich umgekehrten Lehrer-Schüler-Verhältnis pflichtschuldig das reuige Gewissen. Wer gab schon gerne zu, dass er das, was andere ihm beigebracht hatten, so einfach wieder vergessen hatte? Ich musste an meine Studierenden denken und zumindest für den Moment regte sich in mir der Gedanke, beim nächsten Mal etwas nachsichtiger mit ihnen sein zu wollen…
Als Alexander und Sylke schließlich wieder im Cockpit erschienen, hatten wir zwischenzeitlich schon zwei Mal versucht, den Motor durch die Segel zu ersetzen. Mit sagenhaften 1,5 Knoten waren wir folglich vor uns hin gedümpelt, bis auch Christian nicht umhin konnte, den Diesel wieder anzuwerfen. Es hatte einfach keinen Sinn. Über diesem seglerischen Debakel hatte mittlerweile die Morgendämmerung eingesetzt und offenbarte östlich von uns eine schwarze Wolkenwand. Letztere verleitete die gesamte Crew dazu, in ihr Ölzeug zu steigen. Christian, der sich in der Zwischenzeit für eine kurze Weile aufs Ohr gelegt hatte, staunte nicht schlecht, als er, wieder an Deck kommend, seine Mannschaft entsprechend ausstaffiert vorfand. Nach der Flaute am Morgen war das auch nicht verwunderlich, doch die Wolken im Osten dräuten uns doch sehr, zumal dies immer noch die vorwiegende Windrichtung an diesem Tag sein sollte.
Kurz vor acht war es dann endlich so weit, wir konnten den Motor ausstellen und allein unter Segeln fahren. Die Tiefwasserreede hatten wir mittlerweile fast erreicht. Zwei Kreuzschläge sollten uns gut an ihrer Seite vorbeiführen. Als Sylke mich nun am Ruder ablöste, war auch für mich die Zeit gekommen, unterdecks noch etwas Schlaf nachzuholen. Nur zu gerne gab ich dieser Versuchung nach…
Als ich wieder aufwachte, hatte unser Boot eine seltsame Topographie angenommen. Nach meinem Eindruck im Salon stand es beinahe komplett auf der Seite. So oder so war das der Moment, an dem wir das erste Reff ins Groß einbanden. Sylke und Alexander hatten uns zwischenzeitlich durch die Norderelbe gesteuert. Drei Stunden, nachdem ein erster Hauch von Wind die völlige Flaute des frühen Morgen beendet hatte, waren wir schon wieder bei fünf Beaufort, in Böen mehr. Nun sollte es also wieder ins Lüchterloch gehen. Der dräuende Regen war tatsächlich an uns vorbeigezogen. Trotzdem wussten wir unser Ölzeug nun zu schätzen, auch wenn das Wasser, vor dem es uns trocken hielt, salzig war. Wir mussten immer noch gegen an, und der Bug der „Elbe Express“ schlug wieder und wieder in die Wellen. Noch zwei Stunden später waren wir bei durchschnittlichen sechs Beaufort, und ich war dankbar für das zweite Reff im Groß.
Es war eine abenteuerliche Kombination aus Starkwind, Seegang und Großschifffahrt, durch die wir uns hier hindurch bewegten. Zugegeben, auf der Varianta fehlte es mir auch ein wenig an Standfestigkeit. Auf den Gib Seas gab es für die Steuerleute abgeschrägte Standhilfen an beiden Rädern. Egal, mit wie viel Lage sie durchs Wasser pflügten, man konnte dort immer eine gute Position zum Steuern finden. Auf der Varianta gab es das leider nicht, stattdessen rutschte unter mir die verpackte Rettungsinsel in ihrer Klappe bei jeder Wende von einer Seite zur anderen. Nicht schlecht hatten wir uns beim ersten Mal über das Geräusch gewundert. Es stimmt schon, auf einem Boot achtet man automatisch auf alles, was einem irgendwie ungewöhnlich vorkommt, auch wenn es nur eine rutschende Plastikkiste war. Um mein Standdilemma in den Griff zu bekommen, riet Christian, dass man sich ja zwischen den beiden achterlichen Cockpitaufbauten verkeilen könnte. Das half. War allerdings nichts für kleine Leute. Jedenfalls fand ich so eine Möglichkeit, auch bei zunehmender Schräglage einen guten Überblick zu behalten, ohne das Gefühl zu haben, allein am Steuerrad zu hängen…
Als wir gegen Mittag dann Cuxhaven recht voraus hatten, staunten wir nicht schlecht, die Kitesurfer zu sehen, die sich dort mit Wind und Wellen vergnügten. ‚Denen graut vor nix‘, lachte Christian, und wir anderen schüttelten die Köpfe, waren wir doch alle mehr als froh, dass wir unseren Ritt bald hinter uns haben würden und im Amerikahafen würden festmachen können.