Klares, blaues Licht ging von ihm aus, füllte ihn aus. Zu anderen Zeiten hätte man gesagt, es entrücke ihn. Aber zu ihrer Zeit klang das schon zu weit hergeholt.

Jeden Abend erschien dieses Licht ganz zuverlässig im Fenster auf der anderen Straßenseite. Sie hatte vergessen, wann sie sich angewöhnt hatte, es genauer zu betrachten, in ihm zu versinken wie in dem Meer, von dem es kündete, es zu kosten wie ein Versprechen, das man süß einander zuflüstern mochte.

Mittlerweile erwartete sie es schon fast sehnsüchtig. Hatte sich einen Stuhl an ihrem Fenster so zurechtgerückt, dass sie es auch gut in Augenschein nehmen konnte – stundenlang ohne Anstrengung. Es brannte die ganze Nacht. Erst am Morgen, wenn es Zeit wurde, die Träume hinter sich zu lassen und sich für den neuen Tag zu rüsten, erlosch es, und sie begab sich zu Bett. Es machte keinen Unterschied. Keinen Unterschied, wie der Rhythmus der Stadt, des Lebens normalerweise zu sein hatte. In dieser Zeit war nichts normal, und Leben und Stadt schienen ihr so fern, viel weiter als das kleine, blaue Licht der Nacht, das sie durch die dunklen Stunden trug, die sie sonst nicht zu bewältigen meinte.

Noch nie hatte sie diesen späten Monaten etwas abgewinnen können, aber in diesem Jahr gaben sie sich besonders erdrückend. Trübseligkeit zog sich über die Gesichter der Menschen, als klar wurde, dass diese Zeit andauern würde. Trübseligkeit zog sich über die Stadt, und ihre Seele und hätte sie schier aufgefressen, wenn sie nicht dieses kleine, blaue Licht dort drüben entdeckt hätte. Dieses Licht, das in sich die Hoffnung und Verheißung all der Stunden zu tragen schien, auf die so viele warteten.

Sie blinzelte, aber das Licht blieb. So lehnte sie sich zurück – Abend für Abend und überließ sich diesem Schein im Fenster auf der anderen Straßenseite.

Sie hatte nur eine vage Idee davon, wer dort wohl lebte. Ein-, zweimal hatte sie gemeint, eine Person, ein Gesicht diesem Raum mit dem ihr nun so vertrauten Licht zuordnen zu können, wenn sich unten auf der Straße die Tür des anderen Hauses öffnete. Wahrscheinlich hatten sie sich noch nie gegrüßt. Wahrscheinlich würden sie sich unten auf der Straße nicht einmal erkennen, nur höflich einander Platz machen, wie es in diesen Monaten so üblich zwischen den Menschen geworden war. Die Welt war klein geworden, seit man vom Fußweg auf die Straße trat, um die anderen passieren zu lassen. Zu klein, wenn man in einer Stadt lebte. Zu klein, wenn man auf Radfahrer, Autofahrer, Kinder, Hunde achten wollte.

Aber sie war nun auch schon lange nicht mehr hinunter auf die Straße gegangen. Ihre Knie waren alt, sie war alt und es leid, anschließend kaum mehr die Stufen hinauf zu ihrer Wohnung zu gelangen. Blieb man besser gleich oben, man ersparte sich das Elend.

Aber die Abende, die Nächte – sie waren so lang, so endlos lang. Bis sie jenes kleine, blaue Licht im gegenüberliegenden Fenster entdeckt hatte. Seitdem war es einfach geworden. Sie rückte ihren Stuhl zurecht, wartete und versank dann im Schauen. Lange und intensiv studierte sie dieses Blau auf der anderen Straßenseite. Es schien ihr ganz natürlich und das wollte viel heißen in dieser Zeit, in der so vieles anders geworden war. In einer Zeit, die keiner erwartet, noch je einer gewollt hätte.

Doch nun war es ja da, und es war gut, dass es da war. Beinahe lächelte sie über diesen Gedanken. Mochte schon sein, dass das Alter da seine Streiche mit ihr spielte. Bestimmte Dinge sollte man nicht erleben müssen. Es war besser, man konnte vorher gehen. Aber sie war eben einfach immer noch da und so musste man sich halt arrangieren.

Auch an diesem Januarmorgen schaute sie hinaus, während im Zimmer auf der anderen Straßenseite eine Kinderhand einen Schalter betätigte wie immer zu diese Zeit, und der kleine, blaue Globus im Fenster wieder erlosch.