Wettertechnisch brachte der nächste Morgen keine große Veränderungen. Immer noch Starkwind, immer noch aus Ost, der unser Boot an seinen Leinen zerren ließ. Für den Sprung hinüber auf den Steg war jeder Zentimeter Körperlänge ein echter Gewinn.
Unser Havarist hatte sich noch in der Nacht wieder davongemacht, wie wir nun feststellten. Sehr wohl hatten wir sie die Dieselkanister zum Boot tragen sehen. Was für ein seltsames Gefährt musste es sein, dem man da Mast und Vorsegel gegeben hatte und das doch scheinbar nur mittels Motorkraft von A nach B zu fahren vermochte. Gut, dass das bei uns anders war. Allerdings würde uns diese von uns allen favorisierte Antriebsvariante an diesem Tag noch einiges abverlangen…
Als wir uns schließlich zum Aufbruch fertig machten, stellte Christian mit Blick aufs Wetter fest: ‚Heute ist Rote-Wäsche-Tag.‘ Er meinte damit sein Ölzeug. Nicht dass Regen bevorstand, aber bei Starkwind gegenan die Elbe hochzukreuzen, bedeutete eben auch, dass einiges Wasser überkommen würde. Es würde nass werden im Cockpit – trotz Sprayhood. Und dass es mehr als ratsam war, der Kleiderordnung des Skippers zu folgen, hatten wir schon auf unserem allerersten Törn gelernt. Stieg der Skipper in Ölzeug und Seestiefel, war es höchste Zeit, seinem Beispiel zu folgen.
Noch im Hafen setzten wir dann nach dem Ablegen eine bis dato rein theoretisch geführte Erörterung in die Tat um: Wie bindet man das dritte Reff ins Groß, wenn man bloß zwei Reffleinen hat? Erst zwei Tage zuvor hatten wir darüber diskutiert, nicht ahnend, dass wir auf diesem Törn tatsächlich das dritte Reff würden brauchen können. Die Leinen aus dem ersten wurden also ins dritte Reff umgebunden. Mit nur halbgesetzter Fock streckten wir dann das erste Mal die Nase aus dem Hafen. Sylke und ich hatten schon am Morgen die Schaumkronen auf der Elbe vom Clubhaus aus bestaunt. Das sollte echte Arbeit werden. So viel Wind hatten wir hier draußen noch nicht erlebt.
Christian machte sich schnell ein Bild von der Lage und, schwubs, waren wir wieder zurück im Hafen. Einen Moment lang gab ich mich der Illusion hin, wir würden einfach wieder festmachen und einen faulen Tag in Cux verbringen. Aber wer wollte schon gern in diesem Industriehafen länger liegen, als unbedingt nötig war? Und unser Boot konnte das schließlich ab. Wir auch? Eine kurze Weile noch drehten wir Kreise im Hafenbecken. Wir waren etwas zu früh dran, der Strom setzte noch in die falsche Richtung und gegen diesen und den Ostwind würden wir ansonsten schlicht vor der Hafeneinfahrt auf der Stelle segeln. Ein andermal vielleicht…
Schließlich legte auch Jörgs „Hamburg Express“ ab. Seine Crew hatte ebenfalls die Genua gegen die Fock getauscht. Gemeinsam machten wir uns an diesem stürmischen, grauen Tag schließlich auf den Weg zurück nach Glückstadt.
Gemeinsam auszulaufen hieß natürlich auch? Richtig: zwei Boote gleich eine Regatta! Beinahe spielerisch ließen wir die „Hamburg Express“ hinter uns – und das im dritten Reff. Es war erstaunlich, wie viel mehr Höhe unsere Varianta laufen konnte. Allerdings waren wir an diesem Tag, bei diesem Wetter durchaus nicht die einzigen mit rasanter Fahrt auf dem Wasser. An der Ostemündung, kurz hinter Cuxhaven tauchten wieder die bunten Lenkdrachen der Kitesurfer auf. Wir hatten uns beinahe schon an ihren Anblick gewöhnt. Recht außergewöhnlich erschien uns dagegen das, was plötzlich vor unserem Bug querschoss. Hatten wir das richtig gesehen? Die Elbe war ziemlich ruppig, das Kreuzen im Starkwind erforderte alle unsere Konzentration. Und doch waren wir sicher, dass da in diesen grauen Wasserbergen vor uns zwei Windsurfer auf ihren Brettern hin und her schossen. Ihre Segel waren transparent, darin jeweils nur ein dicker dunklerer Farbstrich als Muster eingearbeitet. Gut sichtbar ist anders! Dafür flitzten sie wie zwei Gummigeschosse, immer denselben Kurs haltend, aufeinander zu, aneinander vorbei, wendeten und wieder zurück. Unglaublich! Allein die Bretter bei diesem Wind zu wenden, war mehr als eine akrobatische Leistung. Keine Frage, die beiden wussten, was sie da taten und wäre es nicht so, die Geschichte wäre an dieser Stelle zu Ende gewesen. Wie gesagt, zu sehen waren die beiden nicht wirklich auf dem grauen, aufgewühlten Wasser der Elbe. Wären sie hier von ihren Brettern in den Fluss gefallen, es hätte niemand bemerkt…
Am NOK bei Brunsbüttel erreichte der Fluss dann sein Maximum an Kabbeligkeit. Wir kreuzten über die ganze Länge des Fahrwassers und waren froh über den ungeahnten Platz, der sich uns hier bot. Allmählich merkten wir nämlich alle die Kraft des Windes, mit dem wir es aufgenommen hatten, in den Knochen. Für einen Moment wunderten wir uns hier über die vielen Ankerlieger vor dem Kanal. Der Revierfunk brachte dann die Aufklärung: an diesem Tag wurde für einige Stunden im öffentlichen Dienst gestreikt, offenbar betraf das auch die Schleusenwärter. Gut, dass wir nicht vorhatten, in den Kanal einzubiegen. Es wäre eine längere Warterei geworden. Zwar nicht, wie Robert, einmal so schön die Signallichter der Schleuse erklärend, meinte, ein Warten in dritter Generation sollten die Lichter ein „Außerbetrieb“ signalisieren, aber doch länger, als uns lieb gewesen wäre. So segelten wir schnell an den Wartenden vorbei und nur wenig später konnten wir schon Rhinplate ausmachen. Wir waren alle froh, nur noch einige wenige Seemeilen…

Im Glückstädter Hafen erwartete uns dann eine neue Überraschung: alles voll! Alles war voller Plattbodenschiffe, um genau zu sein. Sie waren hier wohl für eine Veranstaltung zusammengekommen. Der Hafen wogte voller Holzmasten. Würden wir also wieder raus zum Ankern müssen? Ich hatte mich doch schon so auf eine heiße Dusche gefreut, um all das Elbwasser wieder aus meinen Haaren zu waschen. Wir hatten Glück, wir fanden doch noch ein passendes Plätzchen in einem Päckchen. Und nun, da wir angekommen waren, wurden augenblicklich alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. ‚Besonders wichtig ist der gelangweilte Blick‘, schärfte Christian uns grinsend ein. In Windeseile hatte er zusammen mit Alexander sogar noch die Persenning übers eingeholte Großsegel gezogen. Alles raus aus dem Ölzeug und dann – gelangweilter Blick nicht vergessen – zurück mit dem Ankerbier ins Cockpit und die „Hamburg Express“ in Empfang nehmen. Ihr erinnert euch? Da war die Sache mit der Regatta… Als Jörgs Boot kurz darauf im Hafen einlief, war unsere Performance geradezu perfekt.
Nur einen Moment später war Christian schon wieder auf den Beinen, um zu erkunden, wo für unser Schwesterschiff noch ein Plätzchen im vollen Hafen zu finden sein könnte. Unser Schlickloch vom letzten Mal lehnte Jörg verständlicherweise dankend ab. Denn auch in dieser Woche war wieder Springtide und Ostwind und keine „Amerikahöft“ weit und breit…
Am Abend legte sich der Wind dann endlich etwas. Die Wolken rissen auf und erneut konnten wir einen wunderbaren Sonnenuntergang genießen. Das Rotschwänzchen schmetterte noch einmal seinen Gesang über das Hafenbecken, und Christian machte sich an die Zubereitung von „kulinarische Köstlichkeiten Teil 3“. Und während sich draußen zu unserer aller Überraschung auch noch die „Helgoland Express“ einfand und bei Jörg ins Päckchen ging, tafelten wir zu Fränkischem Riesling und „papas (patatas) arrugadas con mojo rojo“ – wie bitte? Kartoffeln und? Egal, es war superlecker und auch die flambierten Bananen zum Nachtisch waren nicht zu verachten. Schon lustig zu beobachten, wie diverse Gewürze und Zutaten zwischen den drei Booten hin und her getauscht wurden: Zimt gegen Milch. Bier gegen Käse. Schließlich war überall das angekommen, was zum jeweiligen Glück noch gefehlt hatte. Satt und zufrieden saßen wir am Salontisch.
Es wurde noch ein lustiger Abend, in den sich langsam aber sicher der nachmittägliche Wind wieder einschlich. Erst gluckerte das Hafenwasser vom neu aufkommenden Schwell, dann meldeten sich auch wieder die Wanten der vielen Boote, auf denen der Wind seinen Bogen spielte. Mir war es gleich. Mein Schlaf war tief und schwer wie in der Nacht zuvor. Schlaf in seiner reinsten Form sozusagen, wenn alles in einem schweigt. Nicht die wirren Träume der Stadtnächte. Nur tiefe Ruhe in sich selbst.