Zweifelsohne ist es eine inspirierende Stadt, in der man alles Mögliche vermuten und erwarten kann: einen Elefanten mit viel zu langem RĂŒssel, einen Heiligen mit Hörnern, einen an einen Helikopter gebundenen Jesus in der HöheâŠ
All die SchĂ€tze der Stadt zu bewundern, dazu reichte unsere Zeit dort bei Weitem nicht aus. Eine erste Entscheidung war ja schon, ob man die Kunstwerke innerhalb der Mauern oder auĂerhalb betrachten wollte. Ein Spaziergang durch die StraĂen glich einer Zeitreise durch alle Epochen Europas â nein, gut, die Griechen blieben auĂen vor. Sie konnte man nur innerhalb, also in den Stanzen Raffaels bewundern. Dort konnte man dann mit Platon und seinem SchĂŒler ĂŒber die Stufen der Akademie schreiten oder sich zumindest wie Diogenes ein wenig darauf herumlĂŒmmeln.
Ansonsten galt es zu wÀhlen zwischen Antike, Renaissance, Romantik, Gotik⊠Die Gegenwart fanden wir abends beim Essen, wenn der kleine Sohn der Wirtsfamilie auf den in seinen Sportschuhen versteckten Rollerblades durch die Gaststube sauste.
In den Kirchen dagegen schien die Zeit einfach stehengeblieben. Von ihren WĂ€nden und Decken blickten die Augen der Gemarterten und der Engel herab, die schon seit Jahrhunderten das sterbliche Treiben verfolgten. Nirgends kommt einem die Geschichte der christlichen Religion so nah wie hier. Nicht nur erzĂ€hlte Fresko um Fresko ihre Mythen, auch zeigten sie ihre Reliquien wie Dokumente im Wortsinne hervor. Manch Spottmaul wies schon darauf hin, welch Heerschar man wohl erhielte, setzte man wohl die Knöchelchen wieder zusammen. Manch Heiliger erschiene als Garnison. Dennoch staunte man sich von Raum zu Raum, von Kirche zu Kirche. Etwas so Abstraktes wie die Geschichte in einem zweitausend Jahre alten Buch wird hier plötzlich so plastisch, mögen die prĂ€sentierten Bindeglieder auch aus den falschen Jahrhunderten stammen, ist doch der Glaube an sie so sehr viel Ă€lter. Ich bin nun wahrlich kein KirchgĂ€nger, doch wer es versĂ€umte, in Rom diese alten HĂ€user aufzusuchen, wird es bedauern, wenn er danach das Sonnenlicht auf der Bank davor mit ihrem Besitzer teilt, wie der SĂ€nger Hermann van Veen es so einfĂŒhlsam in âEine Geschichte von Gottâ erzĂ€hlt hat. Schade nur, dass diese Mythen ewig das HĂ€Ălichste im Menschen zeigen. Kein Glaube kann das wettmachen, keine Kunst es versĂŒĂen, wenn uns unsere eigene Finsternis anspringtâŠ
Die Stadt ist so voller Kunst, dass man nicht weiĂ, was zuerst anzuschauen. In dieser Situation kann es hilfreich sein, den Blick vom groĂen Ganzen auf das ganz Kleine zu verlagern. UnzĂ€hlige Fresken zieren die WĂ€nde: sagenhafte Gestalten, Kreaturen â geschaffen aus der ĂŒberbordenden Phantasie der Maler. Nichts als Ornamente, erzĂ€hlen sie ihre ganz eigenen Geschichten einer bildersĂŒchtigen Stadt. Noch demĂŒtiger werdend, senke der Besucher den Blick nun zu Boden und schwelge dort in den Farben und Formen feinster Marmorsteine, die ihre ganz eigenen Welten bauen.
Wer noch nicht sah, wird hier sattsam schauen! Andere halten dagegen, dass hier allein der Vergangenheit zu leben gestattet sei. Kein neuer Gedanke, kein Sich-Ausprobieren-Können, nur das ewige Kopieren des Gewesenen.
Ist es eine Lust oder eine Last, in dieser Stadt zu leben? Eine Stadt, in der man sich so klein fĂŒhlt und doch auch so verbunden mit allem, was war. Wenn man die Steine im âForum Romanumâ berĂŒhrt, im Kolosseum oder die Statuen von Bernini. Wenn man plötzlich nicht mehr im Hier und Jetzt ist, sondern in all diesen Zeiten. Wenn die VergĂ€nglichkeit zur Gegenwart und die Gegenwart zu ihrer VergĂ€nglichkeit geworden ist.
Rom bedeutete fĂŒr mich eine Woche unausgesetztes Staunens. Ein wenig so, als kĂ€me man aus einem Dorf zum ersten Mal in eine groĂe Stadt: die Lebhaftigkeit, die FĂŒlle, die LautstĂ€rke â man könnte sich darauf versteigen, von âVitalitĂ€tâ zu sprechen. Und doch, wenn ich darĂŒber nachdenke, kann ich gar nicht genau sagen, was die Stadt an der Stadt war â ihr Zentrum. In Deutschland ist es leicht: Hat man die FuĂgĂ€ngerzone gefunden, hat man das Zentrum des Ortes erreicht. In Rom dagegen erschien mir alles in Bewegung. Nicht nur die Menschen, auch die Zeiten. Zweitausend Jahre zurĂŒck der Vatikan, zweitausendfĂŒnfhundert Jahre das âForum Romanumâ oder das âPantheonâ. So sehr die Kirche auch bemĂŒht war, in Besitz zu nehmen, so ist es doch gerade dieses markante Bauwerk eines, das allen Versuchen erfolgreich getrotzt zu haben scheint. Man stelle sich vor, eine Kirche, in die es hineinregnet â in Strömen wohlgemerkt, weil im alten Rom ein Okulus das Licht ins Innere bringen musste. Wenn jemand das âPantheonâ in Beschlag genommen hat, dann nicht die Kirche, sondern Raffael, der sich dort bestatten lieĂ.
Ăberhaupt die GrĂ€ber in den Kirchen. In manchen kann man keinen Schritt setzen, ohne auf den Gebeinen eines Toten zu stehen. Oftmals zieren Grabplatten das Anlitz der Ruhenden. So sieht man wieder und wieder Besucher der Kirchen pikiert zur Seite treten, sobald sie gewahr werden, dass ihre FĂŒĂe zuvor auf den Gesichtern der Toten standen.