Wir hatten ausgerechnet, dass bei nordöstlichen Winden um drei ein langer Schlag raus aufs Meer reichen sollte, um nach einer Wende die Otzumer Balje dann direkt anliegen zu können. Als wir Accumer Ee hinter uns hatten und dazu einen faszinierenden Sonnenuntergang ĂŒber Baltrum, meinte Christian, eine halbe Stunde hoch am Wind sollte wohl auch reichen und dann besagte Wende. Die Crew im Cockpit schaute auf die Uhren. Eine Wende in dreißig Minuten, das klang nicht nach allzu viel Arbeit und Aufregung. TatsĂ€chlich wurde es dann aber doch spannender, als gedacht.

In Fahrtrichtung tauchte nĂ€mlich bald ein Frachter auf, dessen Kurs ihn direkt auf unsere Route zu fĂŒhren versprach. ‚Kollision in 0,25 sm‘, verkĂŒndete Eva beunruhigt. Sollten wir wenden? Und da lag dann das zweite Problem. Achteraus fuhr ein Segler quer. Jedenfalls sagte das sein AIS-Signal auf dem Plotter. Sehen konnten wir ihn freilich nicht – ein Geisterschiff sozusagen. Zog man in Betracht, dass das AIS fĂŒr Sportboote nicht zeitidentisch zum tatsĂ€chlichen Aufenthaltsort der Schiffe, sondern meist etwas zeitverzögert dargestellt wurde, hieß das, dass irgendwo hinter uns ein Segler gerade ebenfalls unseren Kurs kreuzte. Eine Wende fĂŒhrt uns vielleicht direkt vor dessen Bug. Die Folge war eine Diskussion im Cockpit und eine verunsicherte Steuerfrau.

Lektion sechs: Basisdemokratie ist auf Booten nicht hilfreich! Christian löste unseren Konversationswuhling dann zĂŒgig auf und ließ uns wenden. Zwischenzeitlich hatte der Frachter seinen Kurs zwar schon so korrigiert, dass er mit uns lĂ€ngst nichts mehr zu schaffen gehabt hĂ€tte, trotzdem waren auch wir froh, ihn achteraus zu lassen. Gleichzeitig richteten sich nun alle verfĂŒgbaren Augenpaare auf die Dunkelheit vor uns, in welcher wir besagten Segler vermuteten. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn schließlich entdeckten – auch er lĂ€ngst ein ganzes StĂŒck an Steuerbord voraus, sodass er keine Gefahr mehr darstellte. Seine Positionslichter funzelten vor sich hin wie aus dem letzten Jahrtausend. Eine Investition in neue LEDs hielten wir alle fĂŒr angemessen.

SpĂ€ter wollten wir alle natĂŒrlich gerne wissen, was wir hĂ€tten besser machen können, um solche zeitraubenden Debatten nicht noch einmal zu erleben. Hatten wir doch aus diversen ErzĂ€hlungen von (Beinahe-)Kollisionen mit Tonnen auf der Elbe den Eindruck, dass das grĂ¶ĂŸte Problem im Ausbleiben klarer Entscheidungen bestand. Lektion sieben: NatĂŒrlich hĂ€tten wir beide Schiffe ĂŒber Funk rufen können, um die Situation zu klĂ€ren. Beide hatten ein AIS gesendet und waren so fĂŒr uns leicht zu identifizieren. Allein die Funkpraxis fehlte – jedenfalls mir, auch wenn ich den SRC (Short Range Certificate) lĂ€ngst in der Tasche hatte.

Zum anderen, meinte Christian, mĂŒsse man sich hier draußen manchmal eben darauf verlassen, dass andere die Vorschriften auch kannten. Laut KVR musste eben ein Maschinenfahrzeug einem Segler ausweichen, was der Frachter ja dann auch getan hatte. Man musste es ja nicht provozieren, aber in ein so enges Gehege wie auf der Elbe kĂ€me man sich hier draußen auf der Nordsee doch eigentlich nicht.

Da der Adrenalinspiegel nun bei allen schon mal hoch war, warum dann erst wieder fĂŒr Beruhigung sorgen? Denn nun waren wir tatsĂ€chlich auch schon bei der Ansteuerung der Otzumer Balje. Susan stand weiter am Steuer, wĂ€hrend von Christian eine Kurskorrektur nach der anderen nach oben gerufen wurde. ‚Zehn Grad mehr backbord.‘ ‚ Ja, gut, und zurĂŒck auf den alten Kurs.‘ ‚Jetzt zwanzig Grad mehr steuerbord.‘ ‚Und zurĂŒck!‘ So ging es eine ganze Weile durch die Nacht, ohne dass wir außer dem roten Leuchtfeuer von Wangerooge viel hĂ€tten erkennen können. Ich war in mein zweites Meeresleuchten auf diesem Törn versunken. Wieder blitzten die weißen und blauen LeuchtkĂ€fer aus der Tiefe in der Gischt unseres Bootes auf und versprĂŒhten dort ihre Magie.

Nur mit einem Ohr hörte ich hin, als unser Skipper unsere Steuerfrau durch das nĂ€chtliche Seegatt dirigierte. SpĂ€ter, als wir lĂ€ngst gut vertĂ€ut am Steg im Spiekerooger Hafen lagen, erlĂ€uterte Christian uns dann am Plotter, was da vor sich gegangen war: Er zeigte uns unseren Track. ‚Siehst Du hier? Da war eine unbeleuchtete Tonne und da die nĂ€chste, zu der wollte ich noch ein bisschen mehr Abstand halten.‘ Das waren also Ursachen fĂŒr die absurd klingenden Kurskorrekturen im Seegatt gewesen. Lektion acht: Manchmal sind Deine Augen auch unter Deck.

Spiekeroog anzulaufen, das wussten wir noch von den letzten Besuchen auf der Insel, hieß auch, auf dem letzten StĂŒck einem schmalen Prickenweg in den Hafen folgen zu mĂŒssen. Hier wurde ich dann doch noch mal aktiv. Nachdem ich bald eine Stunde lang das Leuchten des Meeres bewundert hatte, leuchtete ich nun sozusagen zurĂŒck. Mit dem Handscheinwerfer bewaffnet saß ich an den Wanten und suchte mit meinem Licht die Pricken mit ihren grĂŒnen Reflektoren an Steuerbord. ZuverlĂ€ssig glimmten sie in der Dunkelheit auf. Eine nach der anderen und zeigten uns den Weg hinein in den Spiekerooger Hafen.

Hafen, Spiekeroog
Hafen, Spiekeroog

Es war beinahe halbzwölf Uhr nachts, als wir dort endlich die Leinen festmachten und dann doch irgendwie erleichtert den wilden Plan wieder fallenließen, nun noch ins Old Laramies zu ziehen. Silke und ich hatten den anderen bis dahin in den Ohren gelegen, was fĂŒr eine tolle Location das wĂ€re. Wir schwĂ€rmten vom letzten Jonny-Glut-Konzert, das wir beide dort zwei Jahre zuvor mit erlebt hatten. Von der unkomplizierten AtmosphĂ€re unter den Seglern dort, von den ‚Sand in den Schuhn von Spiekeroog‘


Old Laramie, Spiekeroog
Old Laramie, Spiekeroog

Nein, das Laramies und Jonny Glut wĂŒrden noch etwas warten mĂŒssen, hĂ€tten wir doch nicht nur vom Boot hin, sondern auch vom ‚Larry bis ins Dorf‘ zurĂŒck laufen mĂŒssen. Außerdem meinte Christian – und wir konnten es am Folgetag auch auf dem entsprechenden Schild nachlesen – war das Laramies abends offen, wenn dort Licht brannte. Nun war es aber zappenduster. So verabschiedeten wir uns nach einem Anlegebier in die Kojen und freuten uns auf einen herrlichen Inseltag am nĂ€chsten Morgen.