Erst zehn Tage zuvor hatten wir uns auf diesem Boot, einer Gib Sea 43, zusammengefunden. ‚Und was ist, wenn da jemand ist, mit dem Du gar nicht kannst?‘ die Frage meiner Verwandten klang mir wieder im Ohr, und wieder muss ich ĂŒber diese Sorge lĂ€cheln. Sicher, das konnte vorkommen – doch eigentlich
 Dieses Mal war es jedenfalls völlig unbegrĂŒndet, darauf einen Gedanken zu verschwenden. Wir hatten eine tolle Crew! Silke kannten wir schon von einem frĂŒheren Törn. Eva, Susan, Robert und David lernten wir bei diesem kennen und schĂ€tzen. Jeder mit seinem ganz eigenen Witz und Können fĂŒgten wir uns nahtlos in unsere kleine Seglergemeinschaft, die durch unseren Skipper Christian komplettiert wurde.

An diesem ersten Tag trafen wir vier von ihnen beim gemeinsamen FrĂŒhstĂŒck am Salontisch an. Eva, Susan, David und Silke waren schon so eifrig ins GesprĂ€ch vertieft, dass ich glatt auf die Frage verfiel, ob sie sich schon von frĂŒheren Törns her kennen wĂŒrden. Es wĂ€re nicht verwunderlich gewesen. Viele, die wir bei unserer Yachtschule trafen, entpuppten sich als WiederholungstĂ€ter – Alexander und ich eingeschlossen. Doch man verneinte an diesem Morgen lachend. Trotzdem hatte man bereits neben der gemeinsamen Leidenschaft fĂŒrs Segeln schon eine weitere geteilte Vorliebe gefunden, die auch gleich einen prominenten Platz in der nur wenig spĂ€ter folgenden Sicherheitseinweisung erhielt: Orangenmarmelade. Sollten wir jemals auf diesem Törn die Grab Bag fĂŒr das Rettungsfloß packen mĂŒssen, beschloss man einhellig, mĂŒsse unbedingt die Orangenmarmelade mit. Eine Grab Bag packten wir freilich nie, aber der Vorrat an Organgenmarmelade wĂŒrde noch in zwei weiteren InselsupermĂ€rkten aufgestockt werden. Letzteres ĂŒberraschte und freute vor allem David – unseren Briten aus MĂŒnchen.

Nach uns trafen noch Christian und schließlich Robert ein, die unsere Mannschaft komplettierten. Nach all den langen Monaten, in denen man seine Mitmenschen vor allem virtuell getroffen hatte, war es erst einmal ungewohnt, so viele von ihnen um sich zu haben. Ein Moment des Zögerns, der sich aber schnell nach der Feststellung des allgemeinen Geimpftseins in Wohlbehagen auflöste. Unsere Seglerfamilie hatte alles getan, was man in dieser Lage eben tun konnte und so ließen wir diese Episode der sorgenvollen Wirklichkeit fĂŒr eine Weile leichten Herzens hinter uns.

Die Sicherheitseinweisung bot mir dann eine willkommene Gelegenheit, wieder eng mit der „Helgoland Express“ vertraut zu werden. Zwar war es so, wie ich zwischenzeitlich einmal feststellte, dass ich nĂ€mlich mit ihr sozusagen großgeworden war, sprich auf ihr das Segeln gelernt hatte, doch gab es ja leider in dieser Gegend immer wieder das, was man so ‚Herbst‘ und ‚Winter‘ zu nennen pflegte – also Zeiten, die man als Segler im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen verbringen musste. So musste man ‚sein‘ Boot also doch in jedem Jahr irgendwie neu kennenlernen. Unsere „Helgoland Express“ hatte in diesem Jahr neue Fockschoten bekommen. Sie leuchteten nun rot und blau und brauchten, wie ich bald feststellte, eine Windung mehr um die Winsch, um die große Genua gut im Wind zu halten. Auch die Maschine war den Winter ĂŒber erneuert worden, aber – ich erwĂ€hnte es wohl schon – mit Motoren habe ich es nicht so, sodass mir dieses Detail nur vom Hörensagen bekannt war. Neu war allerdings auch, dass der KĂŒhlschrank nicht mehr an der Maschine hing, welche den Kompressor fĂŒr diesen antrieb. In diesem Jahr brauchten wir also nicht mehr darauf zu achten, den Motor wenigstens so lange laufen zu lassen, dass die GetrĂ€nke im Hafen wieder kĂŒhl waren. Es gab dafĂŒr bisher eine kommode Eieruhrlösung
 Von den gekĂŒhlten GetrĂ€nken wĂŒrden wir nĂ€mlich in den kommenden Tagen noch jede Menge vertilgen. Sagte ich schon, dass uns dieser Törn direkt in die letzten wunderbaren SpĂ€tsommertage tragen wĂŒrde? Sonnenmilch war deutlich wichtiger als Ölzeug, das wir nur nachts des Windes wegen anziehen wĂŒrden. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass es die Sonnencreme nun auch mit Lichtschutzfaktor einhundert gab. Susan prĂ€sentierte mir stolz die entsprechende Tube. Und ich hatte immer gedacht, mit meinen FĂŒnfzigplus wĂ€re schon das Maximum erreicht, war dies doch Meilen entfernt von den Einheiten in meiner Kindheit. WĂŒrde sich die Skala noch einmal Ă€ndern? Allerdings – gab es bereits einhundert, hieße eine Steigerung doch, dass ein Auftragen notwendig zum Ausbleichen fĂŒhren musste oder?

Feuerschiff, Elbe
Feuerschiff, Elbe

Kurz vor halbelf warfen wir in Finkenwerder dann die Leinen los. FĂŒr die Nicht-Hamburger unter uns war das erste StĂŒck der Reise das beliebte Sightseeing-Programm ‚Blankenese vom Wasser aus‘. FĂŒr Alexander und mich ging es dagegen eher durch unseren Vorgarten, sprich das MĂŒhlenbergerloch, das unser festes Segelrevier im letzten Jahr geworden war. Einmal in der Woche kreuzten wir hier mit unserer kleinen Sun des MSC.

Mit nordöstlichem Wind von guten drei Beaufort kamen wir flott voran, so flott, dass wir einfach immer weiter segelten – ĂŒber GlĂŒckstadt hinaus, an BrunsbĂŒttel vorbei und schließlich ließen wir auch die Kugelbake in Cuxhaven hinter uns. Gleich am ersten Tag wĂŒrden wir direkt bis Helgoland segeln. Einen langen Schlag ohne viele Zimpereien, dachte ich, als ich im rosa Abendlicht die KĂŒste achteraus verschwinden sah. Aus dem Niedergang strömte da bereits seit lĂ€ngerer Zeit der vielversprechende Duft frisch gebackenen Pflaumenkuchens, der im Ofen seiner Fertigstellung entgegensah. Leider zog sich diese noch etwas hin, sodass Christian zu spĂ€ter Stunde bedauernd feststellte, dass er beim nĂ€chsten Mal doch auch gerne Tageslicht zum Kuchen gehabt hĂ€tte.

Elbe, Sonnenuntergang
Sonnenuntergang auf der Elbe

Licht bekamen wir in der nĂ€chtlichen Nordsee dann aber in ganz anderer und unerwarteter Form zu sehen. Zuerst erschien es dunkelrot an Backbord achteraus, als wir durchs LĂŒchterloch und dann durch die Norderelbe Kurs auf Helgoland gesetzt hatten: dunkelrot hing hier das letzte bisschen Mondsichel dicht ĂŒber dem Horizont, sodass es aussah wie ein vom Wind gefĂŒlltes Segel, wĂ€hrend ĂŒber uns die Sterne der Milchstraße, LichtpĂŒnktchen fĂŒr LichtpĂŒnktchen, aufflammten und ihre Bilder an den Himmel malten. Gemeinsam suchten wir nach ihren Namen: Kassiopeia, der Schwan, der Delfin – der mit uns schwamm, nur eben ein wenig weiter weg – der große und der kleine Wagen, der Polarstern. Und dann wurde die alte Seefahrerromantik mit neuer Technik ins 21. Jahrhundert katapultiert, als Eva uns ihre App vorfĂŒhrte, mit der sich die Sternbilder ganz einfach – sozusagen im Handumdrehen – bestimmen ließen. Kein Vergleich zu der mĂŒhevollen Handarbeit, die ich als Teenager mit Rotlichtlampe, Papier, Bleistift und Kosmos-SternenfĂŒhrer am Dachzimmerfenster meines Elternhauses betrieben hatte.

Und dann gab es da noch ein Licht oder Lichtpunkte besser gesagt, und dieses Licht war nicht ĂŒber, sondern unter uns. ZunĂ€chst glaubte ich an eine optische TĂ€uschung. Frei der Devise: was ist plausibler, dass das Meer leuchtet oder dass ich halluziniere? Keine Frage, der Tag war lang gewesen. Wir waren schon gute zehn Stunden auf dem Wasser. Immer konzentriert. Immer begierig, all die EindrĂŒcke zu sammeln und in sich aufzunehmen. Und doch
 ‚Schau‘ mal, das Meer leuchtet‘, sagte ich zu Alexander, der neben mir im Cockpit saß. Und wie gebannt starrten wir nun beide ins Wasser, wo die Gischt neben unserem Boot aufschĂ€umte. Dort blitzte es blĂ€ulich auf, mal grĂ¶ĂŸer, mal kleiner, mal lĂ€nger, mal kĂŒrzer, aber ganz unverkennbar. Das Meer leuchtete! Ich konnte es nicht fassen. NatĂŒrlich hatte ich schon viel darĂŒber gelesen. Erst bei Bernard Moitessier, dann bei den Wilts. Aber gut, diese Leuten waren in ganz anderen GewĂ€ssern unterwegs gewesen – so viel weiter weg. Im Atlantik, im SĂŒdpazifik, aber hier? Konnte es wirklich sein, dass unsere Nordsee auch zu leuchten begonnen hatte? Ja, es konnte. Ja, ganz zweifellos, sie konnte, und sie tat es, und ich war sprachlos und glĂŒcklich und – ach, ĂŒberhaupt – wĂ€re ich nur nicht so mĂŒde gewesen. Es ging schon auf Mitternacht zu. Am Horizont huschte das HelgolĂ€nder Leuchtfeuer ĂŒber den Horizont und – Meeresleuchten hin oder her – ich wĂŒnschte nichts sehnlicher, als dass aus dem Lichtschein endlich ein ausgewachsener Leuchtturm werden wĂŒrde.

89 Seemeilen spÀter um drei Uhr in der Nacht war es dann soweit. Leinen fest, Helgoland, Etappenziel eins auf unserer Reise war erreicht.