Tag 3: Helgoland – Pagensand

Aufbruch am nächsten Morgen sollte um elf Uhr sein. Zeit genug, noch schnell einige Besorgungen auf der Insel zu erledigen. Erneut war ich dankbar, mit Sylke eine zweite Frau an Bord zu haben. Vergnügt zogen wir beide los für eine kurze Shoppingtour auf dem Unterland. Noch dankbarer war dabei sicherlich Alexander, dem der Einkaufsbummel damit erspart blieb. Wenige Dinge verabscheut er mehr, als ziellos durch irgendwelche Geschäfte zu laufen. Was das Einkaufen anbelangte, war er den Basstölpeln der Insel gar nicht so unähnlich: Wissen, was man will, kurz Ausschau halten, blitzschnell zuschlagen und dann bloß nichts wie weg… Sylke und ich verfielen dagegen dem Seglerklischee und stöberten uns durch blauweiß-gestreifte Pullis, Shirts und Sonstiges. Zufrieden mit der Ausbeute kehrten wir schließlich zurück zum Hafen, und pünktlich um elf war alles bereit zum Ablegen.

‚Ein Boot ist eine Reise. Zwei Boote sind eine Regatta!‘ schärfte Christian uns beim Loswerfen der Leinen ein, womit das Wettrennen zwischen der „Hamburg Express“ und uns offiziell eröffnet war. Guter Dinge und mit einer frischen Brise in den Segeln verließen wir also den Helgoländer Hafen. Unsere Route sollte uns durch die Norderelbe zurück nach Cuxhaven und, so Christian, an diesem Tag am liebsten so weit wie möglich flussaufwärts führen, denn für den kommenden Tag war Flaute angekündigt. Leider erreichte uns diese aber schon wenige Seemeilen nach unserem Aufbruch und so dümpelten wir eine ganze Weile vor uns hin. Christian, immer mit einem kritischen Blick auf dem AIS: wie weit war die „Hamburg Express“ voraus? Leider sah es auf dem ersten Teil der Etappe gar nicht gut für unseren Platz bei dieser Regatta aus. Das zweite Boot steuerte das Hauptfahrwasser der Elbe von See kommend direkt an. In der nächsten Zeit würde uns also noch ein breites Gebiet an Untiefen voneinander trennen.

Unser Navigationsteam nutzte die Gelegenheit für eine neue Übungsstunde, als die Schifffahrtszeichen der Außenelbe-Reede in Sicht kamen – jedenfalls im Fernglas. Die erste Tonne, die wir seit dem Verlassen des Helgoländer Hafens am Vormittag gesehen hatten. Noch bevor dann an Steuerbord der „Große Vogelsand“, der seinem Namen mit Schwärmen von lustig über ihm treibenden Seevögeln alle Ehre machte, auftauchte, begann auch endlich der Wind wieder aufzufrischen. Die Mittagszeit war da schon längst verstrichen, und der Vorsprung der „Hamburg Express“ schien uns bereits uneinholbar. Deutlich war aber auch, dass unser Skipper da entschieden anderer Ansicht war. Flott kreuzten wir mittlerweile gegen den Wind, der uns entgegen aller Vorhersagen dummerweise immer noch mäßig aus Südosten entgegen blies, anstatt uns brav wie angekündigt von Westen nach Hause zu schieben. Aber immerhin – es gab Wind!

Aufregung entstand für einen Moment wieder an Deck, als jemand plötzlich ‚Schweinswale achteraus!‘ rief. Angestrengt starrten alle in das aufgewühlte Wasser. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Diese Tiere zu sehen, erschien mir noch sonderbarer als die Seehunde in Finkenwerder. Allgemein hatte mich dieses Gefühl schon öfters beschlichen, auch auf Zugfahrten, wenn plötzlich Rehe oder im Osten auch Füchse oder Kraniche auf den Feldern auftauchten. Unser Land ist so dicht besiedelt und so stark urbanisiert, dass jedes Wildtier darin nur Verwunderung auslösen kann. Woher kommen sie auf einmal? Wo leben sie? Wo können sie überhaupt noch Unterschlupf und Schutz in dieser Welt finden, die so sehr dem Menschen angepasst wurde? Auf mich machen sie stets den Eindruck von Besuchern, dabei sollten sie doch ebenso ein Teil des Ganzen sein wie wir auch, oder? Auch die Nordsee erschien mir bisher wie ein solches, völlig vom Menschen vereinnahmtes Gebiet – durch die Schifffahrt und all die endlosen Touristenströme an ihren Küsten. Dass es in diesem Wasser auch Tiere dieser Größe geben könnte, die trotz allem hier ihre Heimat finden konnten, machte einen starken Eindruck auf mich.

Momente später ging mir dann ganz anderes durch den Sinn, denn nun hatte ich das Ruder wieder übernommen. Nur wenige Male hatte ich bisher die Gelegenheit gehabt, das Ruder bei so viel Wind zu führen. Der Sommer in Hamburg war in dieser Hinsicht doch eher mäßig gewesen. Sylke erklärte mir das Geheimnis der Windfäden am Groß, und meine Hände folgten ihren Einflüsterungen eifrig. Und plötzlich schossen wir wie ein Pfeil dahin. Gute acht, neun Knoten Fahrt und entsprechende Lage. Die Jungs schauten ungläubig auf die Logge, und wir Mädels grinsten in uns hinein. Mir kam es vor, als flögen wir nur so über das Wasser. Fahrtwind ist schon eine lustige psychologische Größe in dem ganzen Spiel.

Eine ganze Weile kostete ich meinen neu gewonnenen Ruhm als bisher schnellste Steuerfrau aus, dann setzte langsam, aber sehr beharrlich der Regen ein. Noch einen Augenblick später wies unser Skipper vom Niedergang her die Wende an. Also ‚Alles klar zur Wende‘, ‚Ist klar‘, ‚Und Ree‘. Artig zog unser Boot nach Steuerbord und – dann vermasselte ich alles. Der Regen, mittlerweile als dichter Vorhang fallend, erinnerte mich an mein Ölzeug, das es sich immer noch kuschelig unter Deck machte und das ich jetzt doch gerne seiner eigentlichen Bestimmung zuführen wollte. ‚Übernimmst Du?‘ unklar, wer gemeint war und viel zu früh verließ ich meinen Platz am Ruder. Christian war wenig begeistert von dieser Aktion, ich im doppelten Wortsinne bedröppelt, dafür aber auch in Minutenschnelle und dann in Knallrot wieder an Deck mit trockenem Ölzeug, das ich nur zu gerne gegen die längst durchweichte Wanderjacke getauscht hatte.

Eine Sache, die ich bei diesem Törn auch gelernt habe, ist, dass Regen auf See doch noch mal eine ganz andere Nummer ist als Regen an Land – egal, wo. Wir kannten und respektierten die schottischen Regenschauer, die sich mit einer bedrohlichen Wolkenwand über den westlichen Bergen anzukündigen pflegten. Drei Minuten, das war alles, was einem dann blieb. Drei Minuten, die man besser nutzen sollte, irgendeine Art Dach zwischen sich und das Wetter zu bringen – ausgenommen die stoischen Golfspieler, die einen Schirm über dem Caddy aufspannend auf dem Platz der Wahl einfach ausharrten. Drei Minuten, dann bist du so nass wie noch nie in deinem Leben – von allen Seiten wohlgemerkt, denn nur von oben wäre ja langweilig. Das hatten wir auf Arran oft erlebt und waren der irrigen Auffassung, dass Klamotten, die uns dort heil durchgebracht hatten, uns auch hier auf der Nordsee gut ständen. Bisher war mir der Anblick von Seglern in vollem Ölzeug mit Krägen so hoch, dass vom Gesicht wenig zu sehen blieb, immer recht martialisch vorgekommen und ich hatte es heimlich doch für übertrieben – so ein Männerding eben – gehalten. Aber jetzt stand Tobias genau in dieser Kluft am Ruder, und ich konnte nur zu gut verstehen, warum er für jeden Millimeter Regenschutz, den seine Klamotten ihm boten, dankbar war. Wir anderen quetschten uns, so gut es ging, unter die Sprayhood. Der Wind pfiff nach wie vor, und wir machten gut Lage. Die eine Hälfte der Crew schwebte hoch über dem Wasser, die andere schoss dicht über dem grauen Meer dahin. Christian hatte uns allen gezeigt, wie man auch in einer solch seltsamen Geometrie noch sicher die Winschen für die Genua bedienen konnte. Ich war froh, dass diese Aufgabe zunehmend die Jungs übernahmen – manchmal bin ich auch ganz gerne mal Mädchen…

Der andauernde Regen machte das Cockpit glitschig, und es war gut zu wissen, wo man sich einpicken konnte. Noch so ein psychologischer Faktor der Fahrt. Der Rudergänger sowieso, aber auch der eine oder andere im Cockpit. Dummerweise hatte der andauernde Regen auch den lästigen Effekt, das Tauwerk der Genua gut einzuweichen. Pfützen bildeten sich, mal an Backbord, mal an Steuerbord. Sie schwappten lustig hin und her. Ja, es konnte verdammt nass werden auf diesem Meer!

Tobias steuerte uns sicher durch das Luechter Loch und mit einsetzender Dämmerung hatten wir das Hauptfahrwasser der Elbe wieder erreicht. Viel später sah ich an der Aufzeichnungen unserer Route mit welcher Präzision Christian die Kreuzschläge unseres Schiffes in der Norderelbe geplant hatte. Dieses Zusammenspiel von Planung, Navigation, Rudergänger und dem richtigen Setzen der Segeln, um tatsächlich auch dorthin zu gelangen, wohin man eigentlich wollte – und sich nicht einfach bloß in schönster Kaffeefahrtmanier einfach treiben zu lassen, fasziniert mich nach wie vor am Segeln. Robert hatte mal so schön gesagt: ‚Wenn ihr als Ziel ausgebt, heute fahren wir nach Dänemark, ist der Erfolg schon garantiert. Zu sagen, wir machen um 15 Uhr in Wyk auf Föhr fest, wird euch dagegen keine Freude bereiten.‘ So sei das eben beim Segeln. Damit hatte er zweifellos recht und daher an dieser Stelle ein großes Lob an unseren Skipper, der uns so präzise nach Zeitplan über die See und den Fluss navigierte, damit die Crew pünktlich am Sonntagmittag von Finkenwerder aus wieder mit Zug und Auto in alle möglichen Teile Deutschlands würde entschwinden können.

Cuxhaven ließen wir an diesem Tag an Steuerbord liegen und segelten, dem heimeligen Licht der Leuchttonnen folgend, elbaufwärts. Schließlich war da immer noch diese Regatta, und die „Hamburg Express“ war – zumindest auf dem AIS – wieder in Sichtweite. Das konnte doch gar nicht, das musste doch einfach, das würden wir sicher bald…

Der Regen hielt sich beharrlich, und wir stellten fest, dass mittlerweile auch unter der Sprayhood Wasser in allen Varianten und Mengen verfügbar war. Es fand seinen Weg entlang von Fallen und Schoten. Das Cockpit schwappte vor Pfützen. Zwischenzeitlich hatte Alexander Tobias am Ruder abgelöst und nicht ohne Bewunderung schaute ich ihm beim Steuern zu. Der Wind hatte noch etwas zugelegt, und auch unser Skipper würde später anerkennend von einem ‚tollen Ritt‘ über die Elbe sprechen – und dass im Dunkeln und dass mit einem Steuermann, der nicht mehr Erfahrung bei der Sache besaß als ich selbst. Manchmal hatten wir schon scherzhaft vermutet, dass Alexanders Nicht-Autofahren ihm nun zur Tugend gereichte, denn nie hatte er wie ich das Problem zu denken, ein Auto würde sich jetzt so und so verhalten, wenn ich jetzt in diese oder jene Richtung lenke.

Wir schossen also auf der dunklen Elbe dahin, zählten Leuchttonnen aus, die Christian uns von unten immer wieder ansagte. ‚Seht ihr die nächste Tonne? Eine Quick … Ein unterbrochenes Feuer …‘ Und wir starrten gemeinsam in die Nacht, kniffen im Regen die Augen zusammen und wetteiferten darum, auch schon die übernächste Tonne zu finden, um den Kurs vorhersagen zu können. Ich stand am Rand der Sprayhood und suchte die Lichter in der Nacht, um sie Alexander ansagen zu können, der sie hinter dem Segel nicht immer sehen konnte. Tobias leistete uns Gesellschaft und hielt mit Ausguck. Alle anderen hatten sich nach und nach klammheimlich ins Trockene des Salons verkrümelt. Unsere Kombüsencrew fing an, sich dort überaus nützlich zu machen. Warmes Essen war der Inbegriff des Glücks in dieser verregneten Nacht. Schließlich kam unsere Ablösung, und wir drei verschwanden durchweicht, aber zufrieden unter Deck, wo uns viele wohlmeinende Hände Frisch-Zubereitetes entgegenstreckten. Schon erstaunlich, wie schnell und wie viel Essen man auf so einem Segeltörn verputzen konnte!

Trockengelegt und vollgefuttert saßen wir schließlich im Salon, während nun die anderen unser Boot durch den nächtlichen Regen steuerten. Das Ölzeug hing tropfend in der zweiten Nasszelle – wörtlich sehr passend – des Bootes, und alle murrten mehr oder weniger laut über die durchweichten Segelhandschuhe, die alle trotz marketingtechnisch angepriesener Schnell-Trocknung-Eigenschaft auch am nächsten Tag noch ausgewrungen werden mussten.

‚Wahrschau Welle!‘ irritiert starrten wir Christian an. Warschau? Ein Ostblock-Pott? Waren die hier etwa berüchtigt? Er hatte es, am Plotter stehend, nach oben ins Cockpit gerufen. Alexander und ich schauten ihm interessiert über die Schulter. Auf unserem Radarschirm war ein riesiger roter Fleck erschienen. Die Neugier trieb uns trotz aller wetterlichen Widrigkeiten den Niedergang hinauf. Neben uns fuhr eine Stadt. So viele Lichter! Immer noch im strömenden Regen war weder ein klarer Anfang noch ein klares Ende des Schiffes neben uns auszumachen, nur dass es sich bewegte, das war klar. Was für ein Pott! Eigentlich hatte ich gedacht, dass, nachdem ich die „MSC Zoe“ den Fluss hatte heraufkommen sehen, wie sie „Das Imperium schlägt zurück“ auf dem Schiffshorn spielte, mich kein Schiff mit seiner Größe mehr würde beeindrucken können. Aber nachts auf dem eigenen Boot den Fluss mit diesem Riesen teilend, war das doch noch mal wieder eine ganz andere Nummer. Wir einigten uns schließlich augenzwinkernd auf ‚Waaaaaaaaaah! Schau! Welle!‘ als semantische Erklärung für Christians ursprünglichen Ausruf.

Eine Weile noch fuhren wir flussaufwärts, dann wurde es schließlich definitiv Zeit, Ausschau zu halten nach einem Plätzchen für die Nacht. Wir fanden diesen auf der Höhe von Pagensand. Ich war zu müde, mir das Ankermanöver noch anzuschauen. Nahm mir aber vor, beim nächsten Mal unbedingt mit dabei sein zu wollen. Ein weiteres Segelboot hatte schon vor uns hinter der vorgelagerten Insel Schutz gesucht, ansonsten herrschte hier absolute Ruhe. Christian erläuterte noch, wie es sich mit den notwendigen Platzverhältnissen verhielt, würde doch, während wir schliefen, der Strom irgendwann kentern, und die „Helgoland Express“ einen schönen Bogen um ihre eigene Ankerkette drehen. Das Ankerbier gab es wieder im Cockpit – der Regen hatte, dankenswerterweise, nachgelassen, trotzdem beeilten wir uns, zügig zurück in den Salon zu kommen. Wir Mädels klapperten und verlangten einstimmig nach der Heizung. Immerhin hatte soeben der Oktober begonnen. Den Abend ließen wir mit einem weiteren schönen Seemannsklischee ausklingen. Der auf Helgoland erworbene Rum sollte schließlich nicht schlecht werden. Es wurde eine lustige Runde. In dieser Nacht schlief ich in unserer Koje wie ein Baby.