So viele Erlebnisse – man weiß gar nicht, wo zu beginnen: die Inseln, das Meer und das Leben dazwischen…

Vielleicht lĂ€sst sich diese Geschichte am besten von ihrem Ende her erzĂ€hlen: Der zehnte Tag an Bord begann etwas zögerlich. Wir waren spĂ€t an unserem Ankerplatz in der Oste angekommen. Erst gegen halbzwei Uhr nachts fiel unser Anker. FĂŒr den neuen Tag stand nun noch die RĂŒckfahrt die Elbe stromaufwĂ€rts bis Finkenwerder an.

Vereinzelte Crewmitglieder blinzelten aus ihren KajĂŒten. Da sie sich aber nicht trafen, beschloss jeder fĂŒr sich, dass die Nacht nun zwar leider hell war, aber doch noch etwas lĂ€nger dauern durfte, sodass wir uns schließlich erst gegen halbzehn alle wieder zusammenfanden. Geschlafen hatte ich da wie in Abrahams Schoß – kaum zu glauben, wenn man nun am Morgen in nur kurzer Distanz das Hauptfahrwasser der Elbe mit seinen dicken Pötten vor sich sah. Die Oste lag dagegen friedlich wie ein Ententeich vor uns und lud zu einem morgendlichen Bad, das die Lebensgeister wieder wecken sollte. Zwei weitere Ankerlieger teilten die kleine Abgeschiedenheit mit uns, die uns noch einen Moment vor der Hektik der anzusteuernden Großstadt versteckte. Dass wir dieser nun unweigerlich wieder nĂ€herkommen wĂŒrden, hatten wir schon am Vorabend erfahren, als wir einer nach dem anderen im Cockpit die Nase erst schnĂŒffelnd, dann rĂŒmpfend in die Luft gestreckt hatten. Cuxhaven war da schon nicht mehr nur visuell auszumachen gewesen, sondern auch unseren anderen Sinnen nĂ€hergetreten, als wir es nach den letzten Tagen in der wunderbaren Inselwelt Ostfrieslands wahrhaben wollten.

Oste

Ein letztes FrĂŒhstĂŒck im sonnengetrĂ€nkten Cockpit, dann ging es schon wieder los oder sollte es jedenfalls, denn an der OstemĂŒndung ging erst einmal nichts mehr. Wir steckten im Schlick. „Remember the ancient adage: ‚If you‘ve never run aground, you‘re not trying hard enough‘“ (Cunliffe, T. 2017, The Complete Yachtmaster, 9. Aufl., 143). Frei ĂŒbersetzt etwa: „Wer (in einem Wattfahrwasser) noch nicht festgekommen ist, der hat es nur noch nicht hinreichend probiert.“ Wie wahr, wie wahr. GlĂŒcklicherweise gilt auch: Schlick ist nicht schlimm. Und der Zeitpunkt stimmte auch – auflaufendes Wasser. Es konnte nur besser werden
 Doch heute waren wir alle von der ungeduldigen Art, sodass erst die gesamte Crew an Steuerbord saß, und dann sogar zwei Leute dort an den Wanten hingen. WĂ€re doch gelacht, wenn wir uns den gewĂŒnschten Freiraum unter dem Kiel nicht wĂŒrden verschaffen können. Und tatsĂ€chlich, nur wenig spĂ€ter neigte sich unsere „Helgoland Express“ willig und schwamm mit uns hinaus auf die Elbe – der Stadt Hamburg und unserem Törnende entgegen. Dass dieses dann eine grĂŒne Wand sein wĂŒrde, die sich in Form des weltgrĂ¶ĂŸten Containerschiffs („Ever Ace“) vor den Köhlfleet schob, wussten wir freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

FĂŒr uns ging es nun zunĂ€chst flussaufwĂ€rts bei strahlendem Sonnenschein, aber auch in einer rechten Flaute, Bedingungen, die auch auf den letzten Meilen mit schwachem Wind direkt von vorn auf die Nase nicht besser wurden. So motorten wir halt – ganz untypisch fĂŒr unseren Skipper Christian. War es nicht erst gestern gewesen, dass er mir als Rat auf meine Frage, was ich bloß mit dem Außenborder auf dem Segelboot in unserem Club anfangen sollte (oder besser, wie ich meine Probleme mit selbigem in den Griff kriegen könnte), mit auf den Weg gab: ‚Abschrauben und ĂŒber Bord werfen.‘ Christian ist eben Segler durch und durch. Aber leider spielte an diesem letzten Törntag nicht nur der Wind nicht mehr mit, sondern es war auch ein Zeitplan einzuhalten. Das Schiff – unser Schiff – musste spĂ€testens um 18 Uhr wieder in Finkenwerder sein. RĂŒckfahrplĂ€ne der Crew und die Tatsache, dass unsere gute „Helgoland Express“ schon am nĂ€chsten Morgen wieder auslaufen sollte, ließen keine Wahl. Also tuckerten wir nun die Elbe hoch in ein immer sommerliches Wetter hinein, das beim Wasser- und Dieselfassen im Wedeler Yachthafen schließlich darin kulminierte, dass Susan – unser törneigener FrostbĂŒttel – tatsĂ€chlich im T-Shirt an Deck stand, wĂ€hrend alle anderen in den mehr als dreißig Grad am Steg des Tankwarts vor Hitze stöhnten. Doch nicht nur uns war es an diesem Nachmittag im SpĂ€tsommer viel zu heiß, auch einigen Booten schien die Sonne zuzusetzen. Jedenfalls hĂ€tte man so denken mögen, als wir plötzlich nur drei Stege weiter ein Motorboot in beißendem Qualm verschwinden sahen. In dichten Wolken stieg dieser aus allen Schotts des Holzbootes auf. Offenbar war die Elektrik Auslöser eines Brandes geworden, welcher nun Leute mit LöschausrĂŒstung von allen Ecken der Hafenanlage herbeieilen ließ. Auch unser Skipper erbot seine Hilfe, die aber bei den vielen tatkrĂ€ftigen HĂ€nden bald schon nicht mehr vonnöten war. Wir sahen, wie die Rauchwolken langsam verebbten und vernahmen noch das böse Wort ‚Totalschaden‘, bevor wir Wedel wieder verließen.

Optis auf der Elbe, MSC Jollenhafen

ZurĂŒck auf dem Fluss begrĂŒĂŸte uns ein willkommen kĂŒhler Fahrtwind und die ‚Entchen-Parade‘ – sprich die Opti-Kinder – die ihren Weg ĂŒber das Fahrwasser ins MĂŒhlenbergerloch suchten. Wie oft hatten wir ihnen schon vom Ufer aus zugeschaut, wenn sie so ĂŒber den Fluss zogen wie ĂŒber eine einzige große Spielwiese? Wie oft hatte ich sie beneidet, als das Segeln fĂŒr die Großen pandemiebedingt immer noch nicht möglich war. Und – zack – da war sie wieder, die Wirklichkeit, die Welt mit all ihren Sorgen, Zahlen und Nöten. Wie schön war es doch gewesen in den letzten zehn Tagen, so einmal völlig aus der Zeit fallen zu dĂŒrfen. Keine tĂ€glichen Krankheitsstatistiken zu lesen, sondern nur TidenstĂ€nde, Kartentiefen, Seemeilen und WindstĂ€rken als Zahlen ernst zu nehmen. Nein, die Welt war nicht verschwunden. Sie tauchte zielsicher z.B. dann auf, wenn man auf dem eiligen Weg zum Klo noch mal wieder hastig umkehren musste, weil man den Schnutenpulli an Bord vergessen hatte. Und doch – vielleicht könnte man sagen, die Welt habe sich diskret zurĂŒckgezogen, fĂŒr eine Weile jedenfalls. Hatte Platz gemacht fĂŒr andere Dinge – das Zusammenleben an Bord in einer neuen kleinen Seglerfamilie, fĂŒr die Tiefe der See, die uns nachts entgegenleuchtete und fĂŒr die Weite des Horizonts, der jenseits unserer Segel immer neue Abenteuer verhieß. All das hatte es gegeben in den letzten zehn Tagen, bevor die „Ever Ace“ mit ihrem zu Stahl gewordenen Versprechen einer immer effizienter werdenden Zukunftsplanung (vorlĂ€ufig) den Vorhang zu diesem Kapitel schloss. Aber ist das Schöne an VorhĂ€ngen nicht, dass man sich von Zeit zu Zeit auch hinter diese stehlen kann?