âHast Du schon gesehen?â fragte Alexander mich gleich nach dem Aufstehen â eher mittags, als morgens nach der langen Nacht auf dem Wasser. Ja, hatte ich. Und ich freute mich. Freute mir ein Loch in den Bauch, wie man so schön sagte. Da lag sie also. Wie extra ausgestellt am Steg neben uns. Noch ganz neu sah sie aus, aber das mochte ich mir vielleicht auch bloĂ einbilden. Klar erkennen lieĂ sich aber der Name des Kleinen: âSt. Pauliâ stand dort. Ich hatte fĂŒr âFinkenwerderâ gestimmt, aber egal. Wichtig war jetzt nur, dass ich sie dort vor mir sah: die âHamburgâ, der neue 28m-Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung SchiffbrĂŒchiger (DGzRS). Stolz erklĂ€rte ich es den Schulkindern, die mit ihren veralteten Inselrally-Zetteln immer noch auf der Suche nach der âAlfried Kruppâ waren. Nein, die gab es nicht mehr. Die âHamburgâ war ihre Nachfolgerin und â aber das behielt ich dann fĂŒr mich â ich war bei ihrer Kiellegung am Jungfernstieg in der Hansestadt live dabei gewesen. Auch den Termin fĂŒr die Schiffstaufe an der Elphi hatte ich lĂ€ngst notiert, aber dann kam die Pandemie und alles ganz anders. Die âHamburgâ wurde ohne öffentliche Feierlichkeit getauft, als âEntschĂ€digungâ hatte sich die Gesellschaft das nette Namensgebungsspiel fĂŒr ihr Tochterboot ausgedacht. Nun lag die âSt. Pauliâ artig huckepack auf Muttis RĂŒcken, und ich freute mich riesig, beide nun tatsĂ€chlich vor mir zu sehen. Das letzte Mal war sie nicht mehr als ein Aluminium-Skelett gewesen. Jetzt lagen dort zwei stolze neue Schiffe vor mir. Nie hĂ€tte ich gedacht, dass ich mich einmal mit einem Boot so verbunden fĂŒhlen könnte â auĂer vielleicht mit der âHelgoland Expressâ, auf der ich meine Seebeine erhalten hatte.
âDer Ort ist leider etwas weiter weg vom Hafen, aber ihr könnt euch dahinten bei der Jugendherberge FahrrĂ€der ausleihenâ, Christian eignete sich nicht bloĂ als Skipper, sondern auch als gut vorbereiteter FremdenfĂŒhrer. Seine Crew tat denn auch, wie ihr geheiĂen. Und schon wenig spĂ€ter gurkten wir auf mehr oder weniger klapprigen Drahteseln gen Borkum Downtown. Schöne und gut ausgebaute Radwege zogen sich jenseits der StraĂe durch die DĂŒnenlandschaft. Kleine BirkenwĂ€ldchen wechselten sich mit Heide- und GrasflĂ€chen ab. Das Rad war hier tatsĂ€chlich das optimale Fortbewegungsmittel, meinten nicht bloĂ wir, sondern auch die zu dieser Jahreszeit noch beachtlich groĂe Anzahl an Touristen, die uns auf den Wegen mit ihren MietrĂ€dern grĂŒppchenweise begegneten. Im Sommer musste es hier im Wortsinne heiĂ hergehenâŠ
Der Ort selbst war dagegen herzlich unspektakulĂ€r. Nachdem uns eine Horde Schulkinder aus den SĂ€tteln gescheucht hatte, weil wir ĂŒber ihren Schulhof pedalierten, fĂŒhrte uns der Weg zielstrebig zur Ortsmitte und damit zum neuen Leuchtturm, der dort ĂŒber allem thronte. Sein Feuer hatte uns schon in der Nacht begrĂŒĂt, jetzt bewunderten wir ihn als Wahrzeichen des Ortes.
Eine nette Erfahrung am Rande war es, die RĂ€der, die wir fĂŒr einen Ausflug zu einem der StrandcafĂ©s abgestellt hatten, hier einfach mit einem Speichenschloss abschlieĂen zu können. Das hatte ich zuletzt als Kind in meiner Heimatstadt getan. Undenkbar, das in den heutigen StĂ€dten zu versuchen. Andererseits â wohin hĂ€tten die Diebe schon radeln sollen? Dies war schlieĂlich eine Insel, wie David feststellte. Und Eva verkĂŒndete wohlmeinend, dass, sollte hier jemand ihr Rad tatsĂ€chlich stibitzen, er es dann wohl wirklich dringender brĂ€uchte als sie, und sie es also gerne zur VerfĂŒgung stellen wĂŒrde. Ich musste an unsere Erfahrungen auf den schottischen Inseln denken. Dort vertraute man auf dasselbe Prinzip. Hatten wir dort nicht sogar Autos gesehen, bei denen nicht nur die TĂŒr unverschlossen war, sondern sogar auch der ZĂŒndschlĂŒssel noch steckte? Unser dortiger Landlord hatte unsere Begeisterung fĂŒr die Schotten dann aber doch lĂ€chelnd gedĂ€mpft, als er erzĂ€hlte, dass sie bei ihm in Glasgow nicht nur das Auto aus der Garage geklaut hĂ€tten, sondern zwei Wochen spĂ€ter gleich noch einmal gekommen seien, um auch das Fahrrad zu holen. Stadt, Land, FlussâŠ
Zum Abendessen waren wir dann alle wieder auf dem Boot versammelt. Es war eines der ersten Essen, das auf diesem Törn eine fotografische Dokumentation erfuhr. Christian hatte Krabben beim Fischer nebenan und Austern frisch aus dem Meer besorgt. Ich hielt mich an das Kichererbsencurry vom Vortag. Es fĂŒhlte sich an, als hĂ€tte ich seit Monaten nichts gegessen. âEssen ist toll. Das machen wir morgen wieder!â Wie wahr, wie wahr⊠Die Borkumer Schnaken fanden das im Ăbrigen auch. Hatte uns das schöne SpĂ€tsommerwetter die Gelegenheit zu kurzen Hosen beschert, freuten sich die inseleigenen Insekten nun ĂŒber ein mindestens ebenso königliches Mahl, wie wir es kurz zuvor getan hatten.
Nicht nur die abendliche Schlemmerei fĂŒhrten wir ab diesem Tag drei an Bord als festes Ritual an Bord ein, sondern auch eine weitere Segellektion fĂŒr die Crew: War es nicht viel besser, die Navigation des nĂ€chsten Tages schon abends in Ruhe und ganz ohne Geschaukel unter Deck vorzubereiten? So saĂen wir also bald ĂŒber Seekarten, HafenfĂŒhrer und Gezeitenstromatlas gebeugt am Salontisch. Wann mussten wir los? Wann konnten wir das nĂ€chste Seegatt passieren? Hier begann also die Gezeiten-Navigation, die unseren restlichen Törn bestimmen sollte. Leider gehörte zu einer der ersten unserer Feststellungen, dass wir Juist in diesem Jahr nicht wĂŒrden anlaufen können. Der dortige Hafen fiel komplett trocken, und wir hĂ€tten eine Springtide gebraucht, um ihn ĂŒberhaupt mit unserem âbesegelten Wohnwagenâ, wie Christian unser Boot so gerne nannte, zu erreichen. Mit 1,7 Meter hatten wir einfach zu viel Tiefgang fĂŒr Juist, vor allem bei Nipptide. Mit Bedauern strichen wir die Insel aus unseren ReiseplĂ€nen â vorlĂ€ufig jedenfalls. âFast Juistâ wurde dann zum geflĂŒgelten Wort fĂŒr die bereits nun schon sich abzeichnende Sehnsucht nach einer Fortsetzung dieser kleinen Segelflucht im nĂ€chsten Jahr.
Juist war also raus, aber Norderney wĂŒrde gehen. Das war also unser Ziel fĂŒr den nĂ€chsten Tag.