Nach Norderney starteten wir am spĂ€ten nĂ€chsten Morgen. Ich war gespannt auf die Insel, war sie doch fĂŒr Alexander und mich das Ziel unseres allerersten gemeinsamen Urlaubs gewesen. Zugegeben, das hatte damals vor allem pragmatische GrĂŒnde: Norderney war einfach mit dem Zug zu erreichen und hatte fĂŒr uns trotz unserer sehr kurzfristigen Planung noch eine Ferienwohnung frei. In Erinnerung geblieben war mir die Insel insbesondere wegen ihrer endlosen SandstrĂ€nde und einer denkwĂŒrdigen Wanderung zum Wrack ganz im Osten von Norderney. Ein Arbeitskollege von Alexander hatte erzĂ€hlt, dass es eine schöne Wanderung und in zwei Stunden gut zu machen sei. Wir dachten an nichts Böses und liefen los, wie man eben auf einer Nordseeinsel im Sommer so unterwegs war, in Sandalen, kurzen Sachen, ohne jeden Proviant. Zwei Stunden waren schlieĂlich keine Entfernung. Wir nahmen nicht den direkten Weg, sondern liefen am Meeressaum entlang, dann wieder durch die DĂŒnenwege und wieder zurĂŒck zum Meer. Wie man eben im Urlaub an einem Strand so hin und her mĂ€anderte. Wir dachten uns folglich auch nichts dabei, als der Hinweg deutlich mehr denn besagte zwei Stunden dauerte. Ich erinnere mich daran, dass es nach und nach immer weniger Leute gab, denen wir dort begegneten. Auch den Flugsand, in den man tief einsank, sehe ich noch deutlich vor mir. Ebenso das Bild eines recht unspektakulĂ€ren Bootsrestes ist noch vorhanden, verbunden mit der Erinnerung an die Freude, endlich angekommen zu sein. Und dann folgte ein schier endloser RĂŒckweg. Schon in den DĂŒnen brach die DĂ€mmerung ĂŒber uns herein. Alexander spottet noch heute, dass er dort das erste Mal nach einem Leuchtfeuer navigiert habe. Erst leitete uns die Silhouette des Turmes, spĂ€ter dann tatsĂ€chlich sein Licht. Als wir endlich zurĂŒck im Ort waren, war es bereits nachts. Einen ganzen Tag waren wir auf den Beinen gewesen, welche uns die Pferdebremsen auch noch tĂŒchtig zerstochen hatten. Mehr als vierzig Kilometer waren wir schlussendlich gelaufen. Die versprochenen zwei Stunden, so erfuhren wir spĂ€ter, waren tatsĂ€chlich vom letzten Parkplatz im Osten der Insel aus gezĂ€hlt, zu dem besagter Kollege sich mit einem Taxi hatte fahren lassenâŠ
Wie wĂŒrde die Insel inzwischen aussehen? Hatte sich dort viel verĂ€ndert? Mit derlei Fragen im Kopf machten wir uns also auf den Weg. Die Ansteuerung von Norderney wĂŒrde uns auch durch unser erstes Seegatt fĂŒhren. Zwei mögliche Fahrwasser standen dabei zur Auswahl: Schluchter oder Dovetief. Im RevierfĂŒhrer wurde deutlich fĂŒr letzteres plĂ€diert, wenn man die Wahl hĂ€tte. FĂŒr unsere Ansteuerung, von Westen kommend, lag aber Schluchter nĂ€her.
Recht direkt unter Land an der Seeseite der Inseln fahrend, navigierte Christian uns sicher um die verschiedenen Untiefen herum. Im Cockpit stellte er dazu lapidar fest, dass wir da, wo das Wasser weiĂ wĂŒrde, lieber nicht hin wollten. Gemeint waren damit die brechenden Wellen ĂŒber den SĂ€nden, welche man tatsĂ€chlich in allen Richtungen immer wieder deutlich ausmachen konnte.
An Steuerbord zog nun Juists KĂŒste an uns vorĂŒber. Weit konnte es nicht mehr sein. Immer noch stand eine ziemliche Welle auf dem Meer, und auch der Wind hatte wieder zugenommen. Was uns eigentlich hĂ€tte freuen sollen, kam uns nun aber nicht ganz so zupass. Wir waren schneller gewesen, als kalkuliert. WĂŒrden wir nun schon ĂŒber die Barre am Seegatt kommen? Schluchter kam schon in Sicht. Eva stand am Ruder, und Christian war mal wieder ĂŒberall zugleich. âDa soll ich durch?â kam es von unserer Steuerfrau. Alle starrten wir auf die Brandung, die sich direkt vor uns im Seegatt aufbaute. Die Tonne S6 lag direkt voraus. Richtig geheuer war uns das allen nicht. Kein Wunder, wenn im âReedsâ stand, dass ohne âlocal knowledgeâ eine Ansteuerung der ostfriesischen Inseln schlicht unmöglich sei.
Was dann in den nĂ€chsten Minuten in welcher Reihenfolge passierte, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Fakt war, dass am Ende Christian am Ruder stand, der Motor lief, und dass er uns rĂŒckwĂ€rts aus dem Dilemma herausmanövrierte. Allgemeines Aufatmen folgte. Nein, falsch hatten wir nichts gemacht. Nur etwas zu frĂŒh waren wir dran, wie gesagt, das Hochwasser also noch nicht vollstĂ€ndig eingetreten, sodass uns die immer noch stehende Welle wahrscheinlich hier auf Grund gesetzt hĂ€tte. Manche Dinge musste man dann vielleicht doch lieber nicht ausprobieren⊠Lektion vier: Nur weil der vermeintlich sichere Hafen schon zum Greifen nahelag, musste der nĂ€chste Weg dorthin nicht unbedingt auch der beste sein. Wir brachen die Ansteuerung ĂŒber Schluchter ab und nahmen den Umweg ĂŒber das Dovetief. Dem Skipper auf dem Segelboot hinter uns, der gerade Anstalten machte, dieselbe waghalsige Ansteuerung zu wĂ€hlen, die wir eben erst aufatmend hinter uns gelassen hatten, rief wir unseren Entschluss zu. Er folgte uns zum Dovetief. Der Weg dorthin fĂŒhrte uns ein ganzes StĂŒck entlang der seewĂ€rtigen KĂŒste von Norderney erst nach Osten und dann, hinter der vorgelagerten Sandbank, auf der sich schĂ€umend das Wasser brach, wieder zurĂŒck nach Westen. Vielleicht, so mutmaĂten wir, hĂ€tten wir diesen einstĂŒndigen Umweg auch einfach bei Schluchter abwarten können, um die relevante Schippe mehr Wasser dort unter dem Bug zu kriegen. Vielleicht, so dachten wir. Nach unserem Törn berichtigte eine BfS diese Vermutung nachhaltig: Nur eine Woche, nachdem wir so ratlos vor dem Seegatt gesegelt waren, wurde die Verlegung eben jener Tonne S6 verkĂŒndet, die uns doch sicher in den Hafen hĂ€tte leiten sollen. Segeln im Wattgebiet war eben alles andere als eine âsichere Sacheâ, hier, wo eben nicht nur das Meer, sondern ebenso die Inseln in stetiger Bewegung waren. So sehr in Bewegung, dass unter einem Turm das ganze Land von West nach Ost hindurchwandern konnte. âPanta reiâ, mag ein verkappter BildungsbĂŒgerspruch sein, hier aber traf es die Sache auf den Kopf oder kĂŒrzer, wie es der Ostfriese vielleicht sagen wĂŒrde: âLöppt!â