âJetzt weiĂ ich, was Dein Problem istâ, Christian erschien im Niedergang, wĂ€hrend wir im Cockpit alle ratlos auf den flappenden Gennaker blickten, der uns gerade mit einem lautstarken Knall aus all den MeertrĂ€umen auf dem Wasser zurĂŒckgeholt hatte. âIch hatte gesagt, Du mĂŒsstest mehr abfallen, wenn der Gennaker zu zittern beginnt. Wenn der aber vom GroĂ verdeckt wird und deshalb einfĂ€llt, bringt Abfallen gar nichts, dann musst Du anluven!â Aha. âEin schleckiges Segelâ, stellte Stefan so schön fest. Ja, verschleckt noch mal â anluven oder abfallen, wenn das schwarze, knisternde Tuch an seinen Leinen zu zittern beginnt, das war so Ă€hnlich wie die Ansage: wenn es gefĂ€hrlich wird, musst Du laufen oder Dich totstellen. Schon klarâŠ
Am Samstag flogen wir mit durchschnittlich acht Knoten unter besagtem âschleckigem Tuchâ von Cuxhaven nach Spiekeroog. Der Wind war zurĂŒckgekehrt und pustete uns dankbarerweise in die perfekte Richtung. Ohne jedes Wendemanöver, nur im stetigen Austarieren unserer schwarzen Tuchblase segelten wir ĂŒber das Meer. Bald tauchten auch die Segler auf, die David anfĂ€nglich vermisst hatte und ganz zu Recht auf dem Weg nach Helgoland zur Nordseewoche vermutete.
Irritierend war die Funkmeldung ĂŒber eine Person, die im Watt stehe â bei Scharhörn Riff, um genau zu sein. Das beschĂ€ftigte uns und vor allem die Seenotretter sowie die Berufsschifffahrt eine ganze Weile. Eine Person im Watt war in der Nordsee eigentlich nichts Besonderes â bei Scharhörn Riff allerdings durchaus. Wie mochte der Mensch dort bloĂ hingelangt sein? War ein Segelboot auf dem Weg nach Helgoland dort festgekommen? War sein Boot gar gekentert? Mit Gruseln dachte ich an die ErzĂ€hlung auf der Seite der Seenotretter, die ich erst kĂŒrzlich gelesen hatte â ĂŒber die âOndoâ, das Schiff, das auf dem GroĂen Vogelsand festgekommen war und dann â StĂŒck fĂŒr StĂŒck â vom dortigen Mahlsand verschluckt wurde. So etwas drohte auf Scharhörn Riff zwar nicht, aber die einsetzende Flut war auch dort in absehbarer Zeit gewiss. Der Mann musste da weg, da waren sich alle einig. Und so gingen die FunksprĂŒche hin und her, bis schlieĂlich ein scharfsichtiger KapitĂ€n meldete, dass dort auch ein Seekajak zu erkennen sei. Wieder ein Paddler also. Wir erinnerten uns sofort an die Meldung im letzten Herbst, als wir bei sieben Beaufort vor Neuwerk unterwegs waren und ebenfalls die Sichtung zweier Paddler ĂŒber Funk gemeldet wurde. Ob dieses Exemplar sich wohl bewusst war, was er gerade ausgelöst hatte mit seiner âIch-vertret-mir-mal-die-Beineâ-Mittagspause? Wir hielten es fĂŒr unwahrscheinlich.
Ein paar Seemeilen weiter schoss dann die âFelix Sandâ an uns vorbei. Warum das Rettungsboot der Gesellschaft, das eigentlich in Grömitz stationiert war, uns hier in der Deutschen Bucht begegnete, erschloss sich uns nicht. Vielleicht, so rĂ€tselten wir, kam es zur UnterstĂŒtzung fĂŒr die Nordseewoche. Vielleicht war es aber auch nur zur Wartung auf der Werft gewesen.
Silkes Vorschlag, noch einmal bei der SchlĂŒsseltonne nach dem Rechten zu sehen, realisierten wir dieses Mal nicht. Sie lag nicht auf unserem Kurs zur Insel, und wir konnten im Sommer ja immer noch mal vorbeischauen kommen. Stattdessen setzten wir unsere Rauschefahrt gen Spiekeroog fort. Jeder wollte natĂŒrlich mal ausprobieren, wie unsere âHelgoland Expressâ unter Gennaker lief â ich auch. Und so stand ich schlieĂlich am Ruder, als wir uns der Otzumer Balje, dem Seegatt zwischen Spiekeroog und Langeoog nĂ€herten. Das hatte ich eigentlich gar nicht geplant, aber â andererseits, wie hatte Eva im letzten Jahr so schön gesagt? – âman wird ja nicht dĂŒmmer dabeiâ. Und auf Christians NavigationskĂŒnste vertraute ich voll und ganz.
âDa vorne siehst Du schon die Ansteuerungstonneâ, meinte Alexander. Ich kniff die Augen zusammen. Ja, dort in der Ferne steckte was im Meer â was sollte es anderes sein als die Otzumer Balje? Also hieĂ es, darauf zuzuhalten. Der Gennaker war immer noch oben, wollten wir tatsĂ€chlich mit dem durchs Seegatt? Ich erinnerte mich an das abgebrochene Manöver im Schluchter-Seegatt im letzten Jahr. Nein, wir wĂŒrden ihn sicher vorher bergen. Nur wann?
Vielleicht war es ganz gut, dass ich oben am Ruder nicht wusste, was sie unten am Kartentisch ausheckten. Mechanisch folgte ich Christians Anweisungen. âVon dieser Tonne gut freihalten, dafĂŒr dicht an jene heranfahren.â Aye-aye. Mit uns liefen noch andere Segelboote durch das Seegatt ein. Von achtern schoss ein Motorboot an uns vorbei. Erst spĂ€ter wurde mir klar, warum wir gefahren waren, wie wir fuhren. Die Tonnen im Seegatt waren erst kĂŒrzlich verlegt worden. MerkwĂŒdigerweise ĂŒber eine als flach ausgewiesene Stelle. Jetzt war also die Frage, wo die SĂ€nde hier zwischen den Inseln tatsĂ€chlich lagen. Aber das Echolot blieb konstant bei fĂŒnf Metern, um dann wieder schlagartig ĂŒber zwanzig Meter Wassertiefe anzuzeigen. Was fĂŒr eine seltsame Form der Meeresboden hier haben musste! Und dann waren wir auch schon mitten in der Ansteuerung des Spiekerooger Hafens. âDu musst Dich dicht an den Pricken haltenâ, ermahnte mich Christian. Ich nickte. Daran erinnerte ich mich wohl und geriet trotzdem bloĂ einen Augenblick spĂ€ter schier in Panik. Ich konnte den Wald vor lauter Pricken nicht sehen â wo, verdammt noch mal, begann denn die Zufahrt zum Hafen? In Schlangenlinien zogen sich die BirkenstĂ€mmchen dahin, aber den Einstieg in dieses Labyrinth zu finden, erschien mir unmöglich. Christian wusste natĂŒrlich Rat â wie immer.
Nur wenig spĂ€ter erreichten wir den Hafen und standen prompt vor dem nĂ€chsten RĂ€tsel: meine GĂŒte, war das voll hier! Wo konnten wir da bloĂ mit unserem âdicken Wohnwagenâ festmachen? An den schon zu dritt im PĂ€ckchen liegenden Plattbodenschiffen vielleicht? Wer braucht Funk, wenn er auf Rufweite vorbeifahren kann. âKönnen wir lĂ€ngsseits kommen?â âJa, aber der neben uns will bald los.â Hm, also doch lieber woanders? SchlieĂlich endeten wir neben unserem Schwesterschiff, das genau an jenem Fischkutter festgemacht hatte, an welchem wir schon zwei Jahre zuvor gelegen hatten. âHallo Spundwand!â schoss es mir durch den Kopf und ebenso: âNĂŒtzt ja nix â wird schon gut gehen.â Und ging auch gut. Immerhin wĂŒrden wir hier auch am nĂ€chsten Morgen noch genug Wasser unter unserem Kiel haben, um auch zur Regatta auslaufen zu können. Es musste schon verdammt Ă€rgerlich sein, im Schlick zu stecken, wenn das Startzeichen kam. Es gibt Dinge, die braucht man wirklich nichtâŠ
Nur wenig spĂ€ter lagen wir dann gut vertĂ€ut neben der âElbe Expressâ – Zeit fĂŒr ein Anlegerbier oder vielleicht auch zwei? Und waren da nicht auch noch die Reste vom Essen des gestrigen Tages? Definitiv begann nun das entspannte Programm des Tages. Nur zwei Termine gab es fĂŒr uns an diesem Samstag noch: die Bootsmannsbesprechung fĂŒr die Regatta am nĂ€chsten Morgen â aber, eh Moment, traf dazu nicht gerade eine Mail ein, die fĂŒr uns alle wichtigen Infos enthielt? Gut, wenn man die Leute vor Ort so gut kannte wie unser Skipper. Also blieb nur noch ein Tagesordnungspunkt: Essen! Wir hatten eine Tischreservierung in der lokalen Pizzeria fĂŒr zwanzig Uhr. Bis dahin hatten wir âfreiâ. Mich zog es zur Dusche und dann natĂŒrlich zur weltbesten Inseleisdiele mit den selbstgebackenen Zimtwaffeln. Die hatten auch etliche Touristen entdeckt, sodass wir uns artig in die Schlange stellten. Auch die Spatzen und Dohlen warteten geduldig â wenn auch nicht in der Thekenschlange. FrĂŒher oder spĂ€ter wĂŒrde auch fĂŒr sie etwas abfallen, so viel war klar. Und wer konnte schon solchen blauen Augen widerstehen? Unversehens fand ich mich beim DohlenfĂŒttern wieder, immer bemĂŒht, jener etwas zuzustecken, die allzu schnell von den anderen vom Platz gehackt wurde.
Nach all diesen Annehmlichkeiten hatten wir tatsĂ€chlich immer noch Zeit auf unserer erkorenen Lieblingsinsel. Shoppen fiel â bis auf die obligatorischen Postkarten beim InselbĂ€cker â flach. Alles zu. So ging auch mein dritter Anlauf zum lokalen Kunsthandwerksmarkt schief. Es nĂŒtzte alles nichts, ich wĂŒrde einfach wiederkommen mĂŒssen, dachte ich und machte es mir im Salon gemĂŒtlich. Eisessen machte mĂŒde, segeln auch. Und war es nicht einfach herrlich, hier zu sitzen und die Ruhe zu genieĂen? Zwei Löffler hatten wir im Priel an der Hafeneinfahrt schon gesehen. Hier piepten nun die ĂŒbrigen Nordseevögel vor sich hin, inklusive der lautstark gefĂŒhrten Konversation der lokalen Austernfischer, aber sonst? Das Wasser gluckste am Schiff, und ich verlor mich fĂŒr eine Weile in die Welt der TrĂ€ume.
Ich gebe zu, es ist schon ein wenig der Luxus, wenn man aufsteht, nur um gut Essen zu gehen. Aber das war genau das, was wir an diesem Abend taten. Und war ich beim letzten Mal noch am ehrgeizigen Plan gescheitert, die Pizza durch einen Salat begleiten zu lassen, teilten Alexander und ich uns diesen nun problemlos. Es ist schon erstaunlich, wie viel Essen man nach einem Tag auf dem Wasser so verdrĂŒcken konnte.
VerdrĂŒckt haben wir uns nach dem Essen in der Tat selbst auch. Silke wollte unserem Crew-Neuling zu gerne das „Old Laramie“ zeigen. Ich konnte ihr dieses Vorhaben nicht verdenken. Hatte man dort einmal eines der legendĂ€ren Open-Air-Konzerte von Jonny Glut erlebt, war es schwer, nein zu sagen. HĂ€tte er abends um acht gespielt, ich wĂ€re sofort auf dem Weg gewesen, aber um zehn war die Verlockung der nahen Koje gröĂer.
Und immerhin stand fĂŒr den nĂ€chsten Morgen ja auch die Regatta an. Zwar war unser Startfenster erst zwanzig nach neun, aber wir wĂŒrden deutlich frĂŒher auslaufen mĂŒssen, wollten wir vermeiden, dass die SeesterngedĂ€chtnis-Regatta fĂŒr uns im Sande â Ă€h, im Schlick verlief. So trollten wir uns also zum Schiff, wĂ€hrend die andere HĂ€lfte der Crew noch zum CafĂ© Westend zog. Dass es fĂŒr sie noch eine lĂ€ngere Nacht geworden war, schlossen wir aus der Notiz auf dem Salontisch, die wir am nĂ€chsten Morgen dort fanden: â7.00 Uhr Auslaufen! Gute Nachtâ, hatte Christian dort unzweideutig fĂŒr alle vermerkt. Damit war klar, wann die Nacht zu Ende war, und der Morgen beginnen wĂŒrde.