Als das Wasser dann soweit zurückgegangen war, dass man trockenen Fußes an Land konnte, machten wir uns auf, die Insel zu erkunden. ‚Ihr wart doch schon mal hier, wo kann man denn gut hin laufen?‘ Ich schlug einen Ausflug zum Leuchtturm vor, der mir als markante Wegmarke im Kopf gegenwärtig und anders als die alte Inselkirche zu Fuß in endlicher Zeit auch erreichbar schien. Allein die Navigation auf dem Festland…
Christian und Svenja verliefen sich schon auf dem Weg zum Hafenmeister und quittierten das lapidar mit der Bemerkung, dass sie schließlich auch für die Orientierung auf dem Wasser und nicht an Land zuständig wären. Aber auch das Sich-Verlassen auf vermeintlich Ortskundige war so eine Sache. Der Rest der Crew hatte es wohl allein Alexander zu verdanken, dass ich sie nicht schnurstracks zur Nordseite der Insel führte, wo unser Ziel doch gerade im Süden lag. Jedenfalls waren wir eine gute Zeit unterwegs, denn auch die Entfernung zum Leuchtturm hatte ich wohl zu optimistisch eingeschätzt.
Vollkommen unschuldig waren die anderen daran aber auch nicht, denn man wollte allgemein unbedingt bei der inseleigenen Molkerei vorbeischauen, von der man zuvor gelesen hatte, dass es dort den Inselkäse mittlerweile auch im Automaten gab – sollte man es denn zu den ausgewählten Öffnungszeiten des kleinen Ladens nicht schaffen.
Den Käse-Automaten fanden wir wohl, auch den Stand mit der hausgemachten Marmelade schräg gegenüber. Wie auf den schottischen Inseln stand auch hier einfach eine Blechdose zum Bezahlen der Einkäufe neben den Gläsern. Dann bogen wir in die Straße zum Leuchtturm ein. Dort begegnete uns ein weiteres Stück einer solch originellen Inselkultur: an einer Hofzufahrt stand ein Korb gefüllt mit selbstgeernteten Äpfeln. Dazu ein Schild: ‚Den Korb bitte stehen lassen!‘ Wir lachten und nahmen von dem Obst.
Nur wenige Meter weiter scheuchten wir einen Trupp Rebhühner auf. Sie stoben über einen von Gebüsch gesäumten Hohlweg. Schafe und Rinder waren deutlich weniger beeindruckt von unserem Auftreten – zahlenmäßig aber auch weit überlegen.
Die Sonne spielte mit den Wolken Verstecken. Ein Stück des Deiches tauchte in goldenes Licht, unmittelbar daneben blieb es finster, während die Sonnenstrahlen weiter wanderten – so wie wir. Mehr als einmal gaben die Wolken auch nicht nur die Sonne preis, sondern ebenfalls ihr feuchtes Inneres. Wohlweislich waren wir im Ölzeug losgelaufen und fanden die Entscheidung nun ganz famos.
Dann hatten wir den roten Leuchtturm der Insel erreicht. Bestaunten ihn von der Straße aus und witzelten über den eingezäunten Wartebereich für die Hochzeitsgäste, die das Trauzimmer des Standesamtes im Turm bald in Anspruch nehmen würden. Sorgte man so im Vorwege schon für die eheliche Treue?
Melancholisch grüßte ich den Lichtgeber der Nacht. Vor einigen Jahren hatten wir meinen Geburtstag ganz in der Nähe verbracht in einem Jahr, das ich mir lieber nicht so genau in Erinnerung rufen wollte. Unser Kurzurlaub gipfelte damals in der Hiobsbotschaft, dass das Hotel, in das ich mich gerade verguckt hatte, schon im selben Herbst wieder schließen musste. Kein Geld mehr von der Bank. Die Besitzerin war am Boden zerstört und meine eh getrübte Laune noch weiter im Abstieg. Dieses Mal nun stand ich mit einer ganzen Gruppe lachender und scherzender Menschen vor eben demselben Turm. Das dunkele Jahr hatte ich überstanden. Es waren andere Dinge in mein Leben getreten. Der Leuchtturm würde auch weiter dort stehen und den Seefahrern den Weg in der Nacht weisen. Ein tröstliches Bild, das ich von dort für mich und die kommenden Jahre mitnehmen würde.
Unmittelbar danach begann der Deich, der Insel und Meer – oder Insel und Watt – je nach Tageszeit – voneinander trennte. Nirgends sonst hatte ich bisher ein so ausgedehntes Wattgebiet gesehen wie hier. Es reichte bis zum Horizont und sicher noch ein ganzes Stück über diesen hinaus. Pellworm selbst lag ein Stück tiefer als der Meeresspiegel. Nicht umsonst gingen die Insulaner wegen des sich mehr und mehr zuspitzenden Klimawandels auf die Barrikaden. Ihnen stand das Wasser – wortwörtlich – schon bis zum Hals.
Am Deich wurde kurz beratschlagt, welchen Weg man am besten zurück zum Schiff nehmen sollte. Alexander und ich stimmten lautstark gegen den Vorschlag, oben auf dem Deich zu laufen. Nur zu gut wussten wir noch vom letzten Mal von den zahlreichen Hinterlassenschaften der noch zahlreicher dort grasenden Wollknäule. Wir nahmen den Küstenweg direkt am Watt entlang. Das Wasser hatte sich weit zurückgezogen. Dafür spannte sich nun ein wunderbarer Regenbogen über dieses leere Meer, den wir Mal um Mal fotografierten. Man hätte schwören können, dass gerade dies das Himmelsphänomen mit dem mythischen Goldtopf sein musste – wo sonst hätte man ein solches Phantasma erwarten können, wenn nicht hier in dieser Landschaft, die nicht Wasser, nicht Land sein wollte?
Abends gab es dann die Mathe-Stunde für den nächsten Tag: wir saßen über die Navigation gebeugt am Tisch. Unser Ziel war die Hallig Hooge. Ich war immer noch ganz baff, dass wir die mit unserem Boot überhaupt würden ansteuern können. Jetzt galt es also herauszufinden, wann wir durch das Wattfahrwasser nördlich von Pellworm zur Hallig gelangen konnten. Wann konnten wir hier los? Auch der Pellwormer Hafen fiel trocken und ließ unsere „Helgoland Express“ im Schlick versinken, während neben uns nun eine verrostete Leiter die Spundwand hochführte, die bei unserer Ankunft noch unter Wasser gestanden hatte. Bei unserem kurzen Besuch hier hatten wir mittlerweile auch verstanden, warum Strom- und Wasserversorgung in Kästen gute zwei Meter über dem Boden angebracht waren – manche Sachen sollten halt besser nicht nass werden. Das galt auch für die eher winzigen Sanitäranlagen, in denen wir am nächsten Morgen Tetris spielten: eine Dusche, ein Klo, ein Waschbecken und bitte durchwechseln…