Oktober – Dezember 2014
People
Eine Geschichte ĂŒber New York sollte eine ErzĂ€hlung ĂŒber die Menschen dieser Stadt sein â die Seelen dieses Glas- und Betonmonstrums zwischen Hudson und East River…
Als Teenager wollte ich eine Zeit lang unbedingt nach New York. Am liebsten auswandern und fĂŒr immer dort leben. Diese Stadt schien mir all das zu versprechen, was ich von einem interessanten, spannenden Leben bisher nur gerĂŒchteweise zu hören bekommen hatte. Gerne auch vermittelt durch die damals ĂŒber unsere TV-Bildschirme flimmernden US-Serien. âCagney und Laceyâ lag ganz vorne unter meinen Favoriten. Ein Leben in New York war fĂŒr mich damals der Inbegriff eines Daseins in einer modernen und aufregenden Stadt. Allerdings war es auch nicht sehr schwer, mich in dieser Hinsicht zu beeindrucken, stamme ich doch aus einer Kleinstadt auf dem platten Land, wie man so schön zu sagen pflegt â einer Stadt, die vor allem als Zubringer fĂŒr Hamburg gebaut worden war. VĂ€ter, die ihre 9to5-Jobs haben. MĂŒtter, die mit ihren Kindern zu Hause bleiben â das war das 50er-Jahre-Idyll, in das ich in den 70er Jahren hineingeboren worden war und das mich in den 90ern zu Tode langweilte. Die GröĂe meines Geburtsortes erfasst man am besten, wenn man sich vor Augen fĂŒhrt, dass es dort fĂŒr Jahrzehnte eine einzige Ampelanlage gab. New York hatte es also nicht besonders schwer, mir damals gigantisch viel besser zu erscheinen. Allerdings war mein Vorstellungsvermögen zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht besonders gut ausgebildet. Was hatte ich denn schon gesehen?! New York musste so Ă€hnlich sein wie Hannover, malte ich mir aus. Was in meinen Augen durchaus toll war, war Hannover doch die einzige âGroĂstadtâ, die ich bis dahin ĂŒberhaupt qua Verwandtschaftsbeziehungen und SommerferienausflĂŒgen hatte kennenlernen können. Als ich nun, so viele Jahre spĂ€ter, tatsĂ€chlich die ersehnten StraĂen auf dem fremden Kontinent betrat, hatten sich viele meiner Kindheitsphantasien lĂ€ngst schon revidiert. Vieles Weiteres sollte ich in den kommenden Monaten lernen, mit anderen Augen zu sehen…
Mitten in der Subway, irgendwo tief in den Innereien der Stadt. Lichter flitzen. Menschen standen gedrĂ€ngt. Einige schoben sich zum Ausgang, andere fĂŒllten ihre PlĂ€tze neu auf. Taschen und PĂ€ckchen waren im Weg. Viele versuchten, frei zu stehen â um jeden Preis den Kontakt mit dem blanken, trotzdem stets leicht klebrigen Metall vermeidend. Eine Weile lang hing mein Blick an dem Cent-StĂŒck zu ihren FĂŒĂen. Wie viele Blicke mir folgten? Aber fĂŒr niemanden ging die AbwĂ€gung zu Gunsten des GeldstĂŒcks aus.
Noch zwei. TĂŒren öffneten sich, schlossen sich wieder. Eine Ansage vom Band. ‚Denk dran, es ist ErkĂ€ltungszeit â benutz‘ gefĂ€lligst ein Taschentuch fĂŒr deinen Rotz!‘ so Ă€hnlich jedenfalls. Ja, Sir! Verstohlenes HĂŒsteln.
Noch eine. ‚Sorry, sorry! Ich versuche auszusteigen!‘ so klein sie war, so raumgreifend ihre Stimme. Ein HĂŒndchen schaute verwundert aus seiner TĂŒte. Sein rosa JĂ€ckchen Ă€hnelte frappant jenem des Kindes gegenĂŒber, das auf dem harten Plastiksitz nicht still sitzen konnte, das hin-und herrutschte und her und hin mit seinem Röckchen und den LolitastrĂŒmpfchen. Und hin…
‚Next 125th Street. Transfer is available to LaGuardia bus service.‘ Jetzt, jetzt. Die TĂŒr war offen. Jetzt.
Um bei den Zahlen zu bleiben: Eine Sache, die ich dort lernte, war, dass die sechsfache Population meiner Geburtsstadt dort als Obdachlose durch die StraĂen irrte. Ich war in der Vorweihnachtszeit in dieser Stadt zu Gast. Das hieĂ, âhuman interest storiesâ wurden in der NY-Times groĂ geschrieben: âthe neediest caseâ. Sooft ich mir eine Ausgabe kaufte, gab es darin diese Art von ErzĂ€hlungen seitenweise â in einem Land ohne nennenswertes Sozialsystem, dafĂŒr aber mit der tief verwurzelten Ăberzeugung, fĂŒr das eigene Schicksal selbst verantwortlich zu sein. Vom TellerwĂ€scher zum MillionĂ€r â oder eben nicht, sondern stattdessen zu den 60.000 auf die StraĂe. Dazwischen schien es in der Vorstellungswelt nicht viel zu geben. Lektion eins: Soziale Marktwirtschaft mag nicht die Lösung aller Probleme sein, aber immer noch besser als dieser neoliberale Irrsinnskapitalismus!
Die Obdachlosen dieser Stadt spielen so ihre ganz eigene Rolle. Da ist zum einen das Heer der StraĂenmusiker. Viele wahre KĂŒnstler. SĂ€nger, Schlagzeuger, Geiger… Ăberaus beeindruckend die Gruppe von Breakdancern, die das StĂŒck zwischen der 96th und der 110th Street in der Subway fĂŒr ihre Darbietung nutzten. Musik an und los. Die meisten von uns halten es schon fĂŒr ein KunststĂŒck, in der Bahn das Gleichgewicht fĂŒr einen einfachen Stand zu behalten.
Nachts gehören ihnen die Parks, die die New Yorker dann meiden, wie sie sich insgesamt sehr viele Gedanken darĂŒber zu machen scheinen, welche Teile ihrer Stadt sie fĂŒr sicher halten können. ‚Is it safe?‘ fragten sie mich wohl tausendmal, als ich ihnen erzĂ€hlte, dass ich in Harlem lebte. Was fĂŒr eine Frage an eine Frisch-Zugegezogene! Ist es nicht eure Stadt? MĂŒsstet ihr das nicht besser wissen? Und â wieso ĂŒberhaupt? Vielleicht weil sie genauso ungerĂŒhrt verkĂŒnden, dass es völlig normal sei, dass nachts die Menschen in den StraĂen schrien. ‚Hey, das hier ist New York!‘
Und dann der König der Subway, der sich einen ganzen Waggon im Feierabendverkehr erobert hatte. Wie er darĂŒber lachte, dass die anderen sich im nĂ€chsten Waggon seinetwegen so drĂ€ngten. Herrschte er ĂŒber sein Reich doch mit der schlichten Waffe, die ihm als einzige geblieben war, seinem Gestank.
Dann die Leute, die ganz wie im Film in Pappkartons auf den BelĂŒftungsschĂ€chten der Subway lebten wegen der AbluftwĂ€rme, die zusammen mit den anderen nicht definierbaren Rauchschwaden aus den Eingeweiden der Stadt aufstiegen. Ehrlich gesagt, hatte ich das lange fĂŒr Effekthascherei des amerikanischen Kinos gehalten. Aber nein, es stimmte wirklich: New Yorks StraĂen besaĂen ihre eigene Nebelmaschine, besonders eindrĂŒcklich zu beobachten am Columbus Circle an der sĂŒdlichen Spitze des Central Parks. Rauchschwaden, die aus Schloten der unterschiedlichsten Art in die StraĂen waberten und sich dort langsam in den Menschenmengen auflösten.
Eine Weile lang las ich die Nachrichten mit, die meine Nachbarin auf ihrem iPhone tippte. Als sie ausstieg, setzte sich ein Junge auf ihren Platz, auch er mit einem entsprechenden elektronischen Gadget ausgestattet. Ăberhaupt schien sich kaum noch jemand ohne ein solches in die Subway zu trauen. Eine völlig verzweifelte Ansage: ‚Dear passangers â please â pay attention! Turn off your cell phones and pay attention!‘ Es löste ein schwaches LĂ€cheln aus, dann tippten sie weiter.
Schnell fiel ich dann allerdings als Zugezogene auf. Lange, viel zu lange brauchte ich, um zu kapieren, was wohl ’20 bugs‘ heiĂen sollte, um die mich ein Mann auf der 57th Street anging. Es regnete, und der Wind blies eiskalt durch die HĂ€userschluchten. Midtown war in dieser Hinsicht nie besonders wirtlich gewesen. Gegeben habe ich ihm dann zwei Dollar, was eher meinem Budget entsprach und mir seinerseits ein ‚God bless you!‘ einbrachte. Auch dort lebte man nach der Devise, versuchen kann man es ja mal… In Aachen lebte lange Zeit ein Obdachloser, der seinen grauen SchnĂ€uzer mit letzter WĂŒrde trug und nach fĂŒnfzig Cent fragte. Er kannte die DM noch… In New York war ich versucht, den Clochard zu bitten, seinen scheinbar besseren Draht zum Ganzoberen dazu zu nutzen, ihn um ein Ende des Regens zu ersuchen statt um mein Seelenheil â nun ja.
In dieser Ecke der Stadt waren die Bettler grundsĂ€tzlich fordernder. Einer, der vor dem Plaza Hotel seinen Posten hatte oder, besser gesagt, kurz daneben, denn die Doormen hatten dort immer einen wachsamen Blick fĂŒr ihre Kunden, rollte mit den Augen, wenn man ihm eine Handvoll MĂŒnzen zustecken wollte. MĂŒnzen waren hier nicht wohlgelitten. Noch nirgends hatte ich so viele von ihnen von der StraĂe aufgelesen wie in New York. Auch die Bettler waren hier scharf auf Scheine â kein Wunder, mit MĂŒnzen lieĂ sich dort tatsĂ€chlich nichts kaufen, nicht mal ein besseres Gewissen. An einem Abend in Harlem bekam ich das auf sehr eindrĂŒckliche Weise vorgefĂŒhrt: Ein Mann im Anzug zog aus der GesĂ€Ătasche eine dick gefĂŒllte Geldspange hervor und zĂ€hlte vor den erwartungsfrohen Blicken des Clochard die Scheine solange auseinander, bis er die kleinsten in der Mitte des BĂŒndels gefunden hatte, die er ihm hatte geben wollen. Wollte er ihm seinen Reichtum buchstĂ€blich unter die Nase reiben? Hatte er nur das Denken vergessen? Wie heiĂt es so schön? Herr, dein Tierreich ist groĂ… Es gibt Dinge, die kann man nicht verstehen.
Hatten sie auch kein Geld, so herrschten sie doch fraglos nicht nur ĂŒber die nĂ€chtlichen Parks, sondern ebenso ĂŒber die Ă€uĂeren Enden der Bahnsteige in der Subway. Vor diesen warnte man mich mindestens ebenso eindringlich wie vor den GrĂŒnflĂ€chen im Dunkeln. Beides zeichnete sich durch einen deutlichen Mangel an Licht aus, was auch so ein Thema in diesem stĂ€dtischen Betonpalast ist. Immer brannte dort das Licht â in allen TreppenhĂ€usern, an allen TĂŒreingĂ€ngen. Ja, es wurde schlicht die Möglichkeit, es auszuschalten, abgeschafft. Meine Mitbewohnerin stellte nach wenigen Tagen hocherfreut fest, dass ich definitiv aus Europa kĂ€me. Auf meine irritierte Nachfrage erklĂ€rte sie mir lachend, dass nur EuropĂ€er das Licht in der Wohnung löschten, wenn sie diese verlieĂen.
Nichts schien der New Yorker mehr zu fĂŒrchten als seine Mitmenschen, von denen es ja so viele gab in dieser Stadt. Irrsinn, in den StraĂen etwas anders zu versuchen, als zu FuĂ zu laufen. Stau an Stau fĂŒllte die Wege. Einmal nahm ich wegen des Regens den Bus zum Metropolitan Museum. Ich brauchte drei Mal so lange, als ich fĂŒr den FuĂweg â immer die Fifth Avenue hinunter â benötigt hĂ€tte. Auch die Subway glich zur Hauptverkehrszeit eher einer SardinenbĂŒchse, was sehr dem Habitus der Mitfahrenden entgegenkam, die eisernen Haltegriffe in der Bahn auf gar keinen Fall auch nur zu berĂŒhren. Wer wusste schon, welche Krankheitserreger der VorgĂ€nger dort zur weiteren Verbreitung hinterlassen hatte? So standen sie mit verschrĂ€nkten Armen dicht an dicht und niesten diskret in ihre Armbeugen. Man vergleiche damit den Deutschen in einem ĂŒberfĂŒllten Ferien-ICE oder der Regionalbahn in NRW! Wir stapeln uns scheinbar gerne in jeder Lebenslage in engster Verstrickung mit unseren Nachbarn, sei es vom Sitz gegenĂŒber oder vom Gang nebenan… Offenbar gibt es fĂŒr StĂ€dte eine natĂŒrliche GröĂe, die zu ĂŒberschreiten bei den Einwohnern zu einer sonderbaren Form von Hysterie fĂŒhrt. In Hamburg habe ich maximal auf dem Höhepunkt der alljĂ€hrlichen Wintergrippewille Leute darĂŒber nachdenken sehen, den Griff oder den TĂŒröffner in der U-Bahn anzufassen. In New York desinfizierten sich die Leute die HĂ€nde aus mitgebrachten Tuben. Mehr als zwei Millionen Einwohner scheint die Grenzlinie zu einer kritischen Masse zu markieren.
Es wĂ€re falsch und ungerecht zu behaupten, die New Yorker stĂ€nden ihren Mitmenschen nur ablehnend gegenĂŒber. Neben all den Marotten, die ich dort bei ihnen vorfand, erlebte ich auch eine groĂe Herzlichkeit. Doch musste man genau hinschauen, um die wahre von der aufgemalten unterscheiden zu können. Das deutsche ‚Guten Tag‘ wurde dort stets um ein ‚Wie geht es Dir?‘ erweitert, aber eine Antwort auf diese Frage irritierte sie nicht weniger als die Deutschen. Ăberhaupt die Deutschen, auf die schien man dort an jeder StraĂenkreuzung zu treffen. Sehr bezeichnend dafĂŒr die rotgelockte Frau, die eines Tages zusammen mit ihrem Nachwuchs die Treppen ihrer Kellerwohnung erklomm und beim Ăffnen der GittertĂŒr zu ihrem selbst gewĂ€hlten Verlies, ihr Kind in meiner Muttersprache belehrte â mitten in Harlem!
Die Kinder, ĂŒber sie sollte man unbedingt schreiben, schienen sie doch eine wahrer RaritĂ€t in dieser Stadt zu sein. Gab es Kinder in Manhattan? Zu einem gewissen Grad unvorstellbar und doch waren da eindeutige Hinweise auf ein Vorkommen… Ihr Dasein wurde vor allem durch GitterstĂ€be markiert. Schulen und insbesondere SpielplĂ€tze glichen KĂ€figen. FĂŒnf Meter hohe ZĂ€une, wer wurde hier vor wem geschĂŒtzt? Wen sperrte man ein, wen aus? Einmal flog mir auf dem Weg zur Uni ein Basketball direkt vor die FĂŒĂe. Er kam vom Spielfeld in der Manhattan Avenue, an dem ich beinahe tĂ€glich vorbeieilte. Sofort erscholl ein vielstimmiger Ruf klaren Inhalts. Sie wollten so schnell wie möglich ihren Ball wieder haben, das Spiel sollte weitergehen. Skeptisch blickte ich am meterhohen Zaun empor. Unmöglich, den Ball aus dem Stand dort drĂŒber zu werfen, auch wenn ich im schulischen Ballweitwerfen doch zumindest immer eine passable Höhe geschafft hatte, bevor das dumme Ding mir wieder vor die FĂŒĂe kollerte. Doch noch bevor ich mich zu einem sicher lĂ€cherlich endenden Versuch entschlieĂen konnte, waren die Jungs schon an der Pforte im Zaun, mir eindeutig signalisierend, dass das der mir allgemein zugetraute Weg fĂŒr ihren Ball war.
Freaks zĂ€hlten zweifelsohne zu den Menschen dieser Stadt, wobei das natĂŒrlich immer eine Frage der Perspektive war, denn wer bestimmte schon, was normal war? In Midtown begegnete mir einmal eine Dame im Hello-Kitty-Strampler, mit Platteauschuhen und rosa Bommeln. Auf der Fifth Avenue traf ich eine Mutter mit Tochter, die sicher 25 Jahre und mehr voneinander trennte, optisch aber nicht voneinander zu unterscheiden waren â das MĂ€dchen einfach die Ausgabe ihrer Mutter in klein.
Was die Menschen in Manhattan wohl am besten charakterisierte, war, dass sie alle rastlose Wanderer waren â immer unterwegs. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten sie unter der Stadt in der Subway. Dort wurde alles erledigt, wofĂŒr das Leben ihnen sonst keine Zeit lieĂ. Nirgends habe ich so viele Menschen in einer U-Bahn die Bibel lesen sehen wie dort. Ehrlich gesagt, habe ich in Deutschland noch niemals jemanden in der U-Bahn die Bibel lesen sehen. Sie lasen, sie aĂen, sie tranken, sie waren mit ihren Smartphones beschĂ€ftigt â alle zusammen und jeder fĂŒr sich.
ReligiositĂ€t war ein anderes Thema. Auf orthodoxe Juden traf man ebenso zuverlĂ€ssig wie auf eine Heerschar selbsternannter Prediger â kein Vergleich zu den deutschen Zeugen Jehovas, die still mit ihren BlĂ€ttchen zum festen Stadtbild meiner Metropole gehören. In New York wurde nicht still geglaubt, da wurde einem der Name des Herren mit dem Megaphon ins Ohr gebrĂŒllt. Zu Weihnachten war die Heilsarmee aktiv auf den StraĂen. Sie sangen, was das Zeug hielt und wetteiferten mit den VeteranenverbĂ€nden der US-Army um die mageren Spenden der EinkaufswĂŒtigen auf der Fifth Avenue an der Public Library.
Wahrscheinlich war ich dort auch ein Freak unter Freaks. ‚Nein, jetzt kommt die wieder mit ihrem Stoffbeutel!‘ wird sich die VerkĂ€uferin in meinem Bio-Supermarkt in Harlem bestimmt mehr als einmal gedacht haben. Weitere Feststellung: Es war verdammt schwer, nicht mit Tonnen von PlastiktĂŒten vom Einkauf heimzukommen. In Windeseile wurden die Waren von den Kassierern in diese hineingestopft. Nach nur einer Woche hatte ich schon ein ganzes Schrankfach voll davon gesammelt und beschloss daraufhin, den guten alten Jutebeutel, selbst aus Deutschland importiert, dort im aktiven Gebrauch den Einheimischen vorzufĂŒhren… In meinem Markt in Harlem klappte das leidlich. Es war nicht zu voll, und die MĂ€dels an der Kasse akzeptierten irgendwann einfach meine Sturheit. Im Drugstore â keine Chance. So schnell waren dort die EinkĂ€ufe verstaut, dass man knapp noch ein ‚thanks‘ vorbringen konnte.
Lustig auch die Dame bei der Post in Harlem, der ich zu erklĂ€ren versuchte, dass ich fĂŒr meinen philatelistisch veranlagten Vater einen Haufen Briefmarken zu besorgen hatte. Mein Problem: lange Schlangen an Schaltern, deren Aufgaben sich nur den Eingeweihten zu erschlieĂen schienen. Meine Verwirrung, nie zuvor â und auch nie wieder danach â hat mich eine Postbeamtin mit ‚Sweetie‘ angesprochen.
Und noch einmal die Menschen auf der StraĂe: Wem wĂ€ren dort nicht die Heerscharen an StockgĂ€ngern aufgefallen, wobei KrĂŒcken aller Art zum Einsatz kamen, deren Tauglichkeit in einigen FĂ€llen mindestens zweifelhaft war. Der Rollator hatte es offensichtlich noch nicht ĂŒber den groĂen Teich geschafft. Oder, was wahrscheinlicher war, die Menschen, die dort ihre doch meist beachtliche LeibesfĂŒlle mit ihren zusĂ€tzlichen Stockbeinen durch die Gegend wuchteten, konnten sich diese einfach nicht leisten â womit wir wieder am Anfang des Problems angekommen wĂ€ren…
Mindestens ebenso erstaunlich wie ihre stetige MobilitĂ€t war fĂŒr mich ihre Art der Kommunikation, ihr umfangreiches Vernetzsein. Mittlerweile hat uns ja ein guter Teil davon lĂ€ngst eingeholt, aber damals war es fĂŒr mich doch noch sehr neu, dass alle irgendwie immerzu mit ihren Smartphones beschĂ€ftigt waren. Nie werde ich meinen Geburtstag dort vergessen: die Freude, mit einer guten Bekannten zum Essen verabredet zu sein und das nach nur so kurzer Zeit in dieser Stadt. Und dann die EnttĂ€uschung, schlussendlich mehr oder weniger gesprĂ€chslos mit jemandem am Tisch zu sitzen, der unentwegt auf dieses Ding in seiner Hand starrte. FĂŒr sie war es sicher ganz einfach normal, verhielten sich um uns herum doch alle so. Leider hat es diese Unsitte tatsĂ€chlich recht bald auch ĂŒber den groĂen Teich geschafft, so dass mittlerweile ernsthaft darĂŒber diskutiert wird, die Lichtschaltung der FuĂgĂ€ngerampeln in den Boden einzulassen, damit wenigstens noch der Hauch einer Chance auf Wahrnehmung durch die Smartphone-Gesteuerten besteht.
Andererseits schien aber die ganze Stadt auf diese Weise auch in engstem Kontakt miteinander zu stehen. Was sie nach auĂen hin ausblendeten, schweiĂte sie im Innern dann wieder zusammen. An einem Ereignis wurde das fĂŒr mich besonders deutlich. Eines Abends kehrte meine Mitbewohnerin mit derselben Art T-Shirt heim, welche mir tagsĂŒber mehr und mehr ins Auge gestochen war. ‚I can’t breathe!‘ stand darauf, und ich rĂ€tselte lange, was es damit auf sich haben sollte. Erst einige Tage spĂ€ter fand ich den Hintergrund dieser Aktion heraus, als ich mal wieder einen meiner sporadischen ZeitungskĂ€ufe erledigte. Ein Fall von Polizeigewalt, in dessen Zuge ein Schwarzer im WĂŒrgegriff eines Cops erstickt war. Die New Yorker hatten das Geschehene mehr oder weniger unmittelbar ĂŒber die sozialen Netzwerke erfahren und weiter verbreitet, Protest-T-Shirts gedruckt und angezogen. So demonstrierte beinahe eine ganze Stadt innerhalb weniger Stunden gegen eine Ungerechtigkeit, die an Ignoranten wie mir einfach vorbeiging. Wie die Subway-Tunnel unter den StraĂen verbanden auch die Online-Medien die Menschen dieser Stadt zu einem dichtgefĂŒgten Gewebe aus Interesse, Anteilnahme und AktivitĂ€t. Mochten sie auch zu Millionen nebeneinander leben, schienen sie im Innern doch aufs engste miteinander verbunden â ein Wir-GefĂŒhl erzeugend, das ich vorher nicht gekannt hatte.
New York, Platz der Stadtnomaden…
Parks
Places
In the Streets
Kann man Heimweh nach einem fremden Ort haben?
(FĂŒr Josefa)
Wenn man in der 125th Street aus der Subway hochkommt, fĂ€llt der Blick voraus auf eine Bushaltestelle und zur rechten auf ein Sortiment an Wasserpfeifen, aufgereiht in einem Schaufenster. Ganze vorne auf der Ecke ist das obligatorische Starbucks, die StraĂe weiter hoch folgen verschiedene Restaurants. Erst ein kleines französisches, von dem ich nicht mehr weiĂ, als dass meine Mitbewohnerin es fĂŒr gut erklĂ€rt hatte. Was viel bedeuten mochte, war sie selbst ursprĂŒnglich doch auch aus Frankreich. Dann der Red Rooster, das Lokal mit dem Soulfood des schwedischen Kochs, der aus Ăthiopien stammte. Dort war es immer voll. DrauĂen studierten Leute die Karte, drinnen wurde getanzt. Die Fassade um die groĂen Fenster ist rot eingefasst. Dem Gehsteig wurden mit einigen KĂŒbelpflanzen noch ein paar SitzplĂ€tze abgetrotzt, die bis in den November hinein gerne genutzt wurden, spĂ€ter stand dort ein Weihnachtbaum. Hinter dem Red Rooster folgt eine Bank mit grĂŒnem Logo. Aber jedes Mal, wenn sie mir bewusst wurde, war sie geschlossen und vergittert. An der StraĂe davor stand oft ein BlumenhĂ€ndler mit Topfpflanzen. Vor allem Palmen und Orchideen standen auf dem Gehweg und irgendwo musste auch der zugehörige HĂ€ndler sein. Ich habe nie herausgefunden, wer es war. Orchideen und Palmen gingen scheinbar sogar zur Weihnachtszeit noch gut. Vielleicht konnte man dort aber auch bloĂ nicht einfach sein Sortiment den eh raren Jahreszeiten anpassen, obwohl ich spĂ€testens im Dezember auch bei ihm die in der Stadt einen merkwĂŒrdig fehlplatzierten Duft verströmenden TannenbĂ€ume erwartet hatte. Sie tauchten nie auf, obwohl er trotz der stĂ€dtischen HundekĂ€lte auch im Dezember noch bis spĂ€t in die Nacht mit seinen Orchideen auf dieser StraĂe stand.
Dann kommt die 126th Street quer. Der hohe Bordstein ist abgesenkt. Alles schaut nach rechts. Wenn keine Autos kommen, lĂ€uft man, egal, was die Ampel auch anzeigen mag. Die StraĂe heiĂt auch ‚Sylvia Woods‘ und das ist es auch, was einen auf der anderen Seite erwartet: Sylvia’s und Sylvia’s Best Soulfood in Town. Weniger raumgreifend auf der StraĂe, weniger gut einsehbar. Kleine Fenster, DoppeltĂŒr. Es sah gemĂŒtlich aus. Zwischen beiden LokalitĂ€ten ein mit groĂen, grĂŒnen Toren abgesperrter Platz fĂŒr alles mögliche. Nachts blinkt Sylvia’s mit groĂen GlĂŒhbirnen, drapiert um ihren Namen, wie in alten Kinoreklamen. Das Flackern der Lampen wird begleitet von mechanischem Klickern, das man im Jahr 2014 nicht mehr wirklich zu hören glaubte â aber New York ist so alt wie neu.
Hebt man den Blick und schaut den Malcom X Boulevard weiter hoch, leuchtet einem nachts der Baum auf der linken StraĂenseite mit seinen tausend blauen LĂ€mpchen. Zur Weihnachtszeit haben sie in der Stadt viele BĂ€ume in solche Lichterkorsetts gezwĂ€ngt, aber nie bunt, meist eisblau oder goldgelb.
Dann mĂŒssen wir auch schon nach rechts in die 127th Street einbiegen, vorbei an der Kirche auf der Ecke mit den aufgeklebten bunten Fenstern. Linker Hand auf der anderen StraĂenseite ist ein Kiosk â fast eine echte rheinische Bude möchte man meinen. Immer standen hier ein paar PlastikstĂŒhle auf der StraĂe. Solange es die Temperaturen zulieĂen, saĂ dort eine Gruppe MĂ€nner und trank. Sie erzĂ€hlten viel und lachten laut. Leider entlieĂen sie das viele Bier dann auf der anderen StraĂenseite zwischen den Autos wieder ins Freie. Mir tat die Frau leid, die im Souterrain direkt neben der Kirche wohnte Der Gestank zog direkt in ihre Wohnung, er störte sich nicht an ihren Gittern. Die Wohnung im Hochparterre, auĂen die Brownstone-Treppe. Daneben gleich das Geisterhaus. ‚Keep out! Poison!‘ warnte ein Schild die Ratten. Die gelbe Polizeiabsperrung war nach wenigen Tagen futsch, im Maschendraht ein Loch. Wenn sie es schafften, ihr Kreuz durch den TĂŒrspalt zu schieben, der sich hinter dem VorhĂ€ngeschloss mit Kette öffnete, stand der Party nichts mehr im Weg. Das Souterrain hatten sie vorsorglich zugemauert. Von dieser Architektur â nicht nur in bewohnter, sondern auch in tatsĂ€chlich bewohnbarer QualitĂ€t â sind die meisten HĂ€user in dieser StraĂe.
Ein verhĂ€ltnismĂ€Ăig schmaler BĂŒrgersteig, in dem alle AutolĂ€nge ein BĂ€umchen ein kleines, eingezĂ€untes Zuhause erhalten hat. ‚Curb your dog!‘ Noch schöner, an anderer Stelle ‚Clean up after the dog. It’s the law!‘ Nicht, dass man in Zweifel darĂŒber kĂ€me…
Auf der anderen StraĂenseite hinter einem meterhohen Zaun ein verwilderter Spielplatz, nie sah ich Kinder dort. Ein StĂŒck Wildnis mitten in der Stadt. Auf der HĂ€lfte zur Fifth Avenue eine weitere Kirche â noch kleiner, keine Fenster. Kenntlich nur am Kreuz an der TĂŒr, aber sonntags gut besucht. Musik und Gesang, wahrlich kein abgeklĂ€rter deutscher Kirchenchor, fĂŒllten hier die Nachbarschaft. Links und rechts davon die HĂ€user mit den TĂŒren unter den Treppen. Davor mal mit, mal ohne ZĂ€unchen etwas, wofĂŒr der deutsche Begriff ‚Vorgarten‘ völlig ungeeignet erscheint. Ein StĂŒck Stein oder Beton, zwei Treppen nach unten meist. Manchmal mit Kaminholz, oft mit MĂŒll und wahlweise mit einer angeketteten Parkbank. Sitzen habe ich dort nie jemanden sehen. Die Leute stehen darĂŒber auf der Treppe und schwatzen. Aber eigentlich sind immer alle geschĂ€ftig unterwegs.
Auf der Ecke zur Fifth Avenue wohnte eine deutsche Familie im Souterrain. Wie habe ich mich gewundert, dort meine Muttersprache zu hören, mitten in Harlem.
Linker Hand lebte ein rotgetigerter Kater, der manchmal im Fenster neben der Klimaanlage sein MittagsschlĂ€fchen hielt. Im Baum davor habe ich einmal einen Kardinal beobachtet, ein knallrotes Vögelchen, das man auf den ersten Blick fĂŒr eine SinnestĂ€uschung halten könnte. Auf der anderen StraĂenseite wieder eine Kirche. Dieses Mal eine echte mit Turm, Glocke und Kirchenschiff, Tor und allem. Die Woche ĂŒber ist alles verriegelt. Zwei Beerdigungen habe ich dort erlebt. Die Glocke hebt dann traurig an. Vor der Kirche parken schwere Limousinen â durchaus im Plural. New York, die Stadt verrĂŒckter Kirchen…
Unser tÀglich Brot
Am Columbus Circle, diesem Touristenmagneten sĂŒdlich des Central Parks, gibt es ein schönes Restaurant, in das ich oft ging, Man betritt es ĂŒber ein Rampe an der 7th Avenue, rechts eine KĂŒhltheke, aus der ich mir wĂ€hrend meiner ersten Tage in dieser Stadt ein Sandwich fĂŒrs Abendbrot mitnahm. Geradeaus die hölzerne Verkaufstheke, darĂŒber auf einer Tafel die Empfehlungen, immer auch die ’soup of the day‘: Linsensuppe, Tomatensuppe, WeiĂe-Bohnen-Suppe, Minestrone, KĂŒrbissuppe, Erbsensuppe, Möhrensuppe â alle habe ich probiert, nur nie die SĂŒĂkartoffel-Variante. War noch nie mein Fall… Hervorragend auch der frisch gepresste Orangensaft. Ja, ich kam, weil ich hungrig war nach meinen langen Wanderungen in dieser Stadt, aber auch, weil es dort sehr nett zu sitzen war.
In New York ist es nicht ungewöhnlich, alleine Essen zu gehen. Fast alle, die immer mal wieder dorthin kamen, tauchten dort auch ohne Begleitung auf. Kleine Tische, höchstens fĂŒr zwei Personen. Das Lokal ist an einer StraĂenecke gelegen, sodass man von drinnen dem Geschehen auf zwei unterschiedlichen StraĂen folgen kann. Die groĂen LKWs z.B., die tatsĂ€chlich ausschauen, wie in den Kinofilmen und wenig mit den deutschen Modellen gemeinsam haben. Schnell fĂŒhlt man sich wie in einem Roadmovie. Oder die Pferdekutschen, die abends von ihrer Schicht am Central Park in den dĂ€mmrigen StraĂen der Stadt verschwinden. Die MĂŒllabfuhr oder die zu Weihnachten doppelt so viel blinkende und leuchtende Feuerwehr.
‚Anywhere you feel comfortable.‘ Die kleine Bedienung, sicher keine einssechzig groĂ, aber freundlich fĂŒr drei. Wasser gab es immer umsonst. Viele blieben fĂŒr Stunden.
Am Wochenende war es oft sehr voll, kaum ein Tisch zu bekommen â so viele Touristen. Einmal saĂ ein asiatisches PĂ€rchen neben mir. Sie am Laptop, er aufs Smartphone fokussiert. In der ganzen Zeit wechselten sie kein einziges Wort miteinander. Ein anderes Mal der aufstrebende Jungdesigner mit einer Ă€lteren Frau. Er redete ununterbrochen. Als sie endlich gingen, fiel mir auf, wie still das Lokal ohne sie war. HĂ€tte sie ihn doch bloĂ nicht die ganze Zeit weiter ausgefragt…
Teelichter standen in weiĂen Porzellanschalen auf den Holztischen. Manchmal waren meine HĂ€nde ganz steif gefroren von der KĂ€lte der Stadt. Es gibt den Moment im Winter, wenn es die Sonne in den StraĂenschluchten nicht mehr bis zum Boden schafft. Oft war ich schrecklich hungrig, wenn ich endlich dort ankam, und jedes Mal war es ein bisschen wie zu Hause. ‚Anywhere you feel comfortable.‘ Danke, sehr gerne!
Lighthouse
Von dem LeuchtturmwĂ€rter wollte ich Dir noch schreiben. Habe ich Dir schon mal erzĂ€hlt, dass das einer meiner Traumberufe wĂ€re? LeuchtturmwĂ€rter. Nur das Meer â die absolute Weite. TagsĂŒber ein tiefer Spiegel in grĂŒn, blau und braun. Nachts dann eine tosende Furie, die Dir alles entgegenschleudert, was unser sterbliches Leben zu bieten hat, nur um sich dann morgens wieder glucksend bei Dir anzuschmiegen. Keine Frage, ich wĂ€re völlig ungeeignet fĂŒr den Job. Wahrscheinlich hat die Technik ihn sowieso lĂ€ngst aussterben lassen. Automaten ĂŒbernehmen jetzt die Steuerung unserer Reisen und Wege auf diesem Ball flĂŒssiger Hoffnung. Schon allein meine Höhenangst hielte mich davon ab, die wesentlichen Stufen zu bewĂ€ltigen. Meine Kreise um dieses Feuer blieben weit, mein Leben bliebe verschont â fernere aber wĂ€ren schon bald verloren…
Aber hier soll es ja nicht um Kinderphantasien gehen, sondern um das, was ich sah: Nimmt man also an der sĂŒdlichsten Spitze die FĂ€hre nach Staten Island, die tĂ€glich alle halbe Stunde dort ablegt, quert man eine unsichtbare Grenze zu einer Welt auĂerhalb. Hinter einem liegt die Insel, die ihren Hochmut mit stĂ€hlernen Fingern in den Himmel reckt â dicht an dicht, als gĂ€be es dort keinen Platz mehr zum Atmen. Blickt man zurĂŒck, ist man gleichermaĂen beeindruckt und angewidert, erstaunt und abgestoĂen. Haben wir das geschaffen? Aber wo sind wir dort denn geblieben? Es hat uns verschlungen und nun ausgespien. Auf kleinen, schwankenden Booten schaukeln wir davon.
TouristenschwĂ€rme kleben wie Fliegen an den ungewaschenen Scheiben. Tausende Finger pressen die Aussicht an ihnen platt. Erst habe ich mich noch gewundert, warum sie sich dort alle wohl aufreihten, dann begreife ich es. Es sind die SehenswĂŒrdigkeiten, an denen wir vorbeifahren werden. Sie tauchen langsam auf dem Wasser auf, auf welchem â abgesehen von einem uns beharrlich belauernden Polizeiboot â erstaunlich wenig Schiffe unterwegs sind. Hier vereinigen sich Hudson und East River, um gemeinsam ihren Weg in den Ozean zu finden â der Atlantik, Wasserscheide zwischen alter und neuer Welt.
Vor allem die grĂŒne Lady hat es ihnen angetan. Schlussendlich muss auch ich mich von meinem kalten Hartschalenplastiksitz erheben, um ĂŒber oder zwischen den Menschenmengen hinweg ĂŒberhaupt noch etwas erspĂ€hen zu können. Sie knipsen um die Wette, und ich höre in mich hinein. Was löst es aus? Löst es etwas aus? Aber es bleibt fad â zu weit entfernt vielleicht, trotz der rasanten AnnĂ€herung. Vielleicht hatte sie fĂŒr mich auch einfach nur keine Bedeutung.
Schon sind wir an ihr vorbei, die Menschentrauben lichten sich. Jetzt trete ich ans Fenster. In der Ferne IndustriehĂ€fen wie an jeder gröĂeren WasserstraĂe, ein paar KrĂ€ne, ansonsten nichtssagendes Land. Neugierig wende ich meinen Blick dem Reiseziel zu, aber auch dieses wĂ€chst trotz AnnĂ€herung nicht in seiner Bedeutsamkeit. Es bleibt formlos. Vielleicht hat in all den Jahren das Desinteresse von Millionen von Menschen allmĂ€hlich auf diesen Landstrich abgefĂ€rbt? Kommen sie doch nur, um gleich wieder zu gehen. Kaum angekommen, nehmen sie schon die nĂ€chste FĂ€hre zurĂŒck, um den Anblick der gigantischen Skyline auf der anderen Seite genieĂen zu können. Staten Island kann da nur bescheiden zurĂŒckstecken, sich wegducken in den Schatten der ĂŒbermĂ€chtigen anderen Seite. Sorry, sir!
Das einzige, was es den Touristen bietet â vielleicht als kleine Frage nach einer RĂŒckkehrmöglichkeit fĂŒr spĂ€ter â ist ein Aquarium mit blauen, verschreckten Fischen, die zwischen schwallhaft ansteigenden und wieder abebbenden Menschenwellen stumm ihre Runden ziehen.
Aber eines doch â eines hat dieser karge Anleger dann doch zu bieten: eine Attraktion ganz eigener Art. Man sieht von dort aus einen einsamen Leuchtturm. Nicht auf Staten Island. Nicht in New Jersey. Ganz allein steht er auf einem Inselchen ohne Baum und ohne Strauch â wie vergessen in der Welt. Wie seltsam muss es sein, dieses abgeschiedene kleine Bauwerk zu hĂŒten? Jeden Tag diesen Moloch von Stadt vor Augen, in dem sich die Menschen in viel zu vielen Stockwerken ĂŒber- und untereinander stapeln. Diese Insel, die von der Subway unterhöhlt ist wie ein Schweizer KĂ€se und deren HĂ€user hunderte Stockwerke in den Himmel schieĂen wie psychedelische Pilze, denen sie mit ihrer Alice im Central Park ein bezeichnendes Denkmal gesetzt haben.
Seit ich dieses Fleckchen im Fluss sah, stelle ich mir vor, wie der LeuchtturmwĂ€rter auf seinem leeren Inselchen spazieren geht. Einen Kilometer in die eine Richtung nichts, kehrt, einen Kilometer in die andere Richtung nichts â und vor Augen stets der Wahnsinn von Manhattan. Was fĂŒr ein Leben! Kann man sich ĂŒber das Privileg der Einsamkeit freuen? Vielleicht ist er der glĂŒcklichste Mensch der Welt…