Als wir das erste Mal nach Arran fahren wollten, lasen wir zu unserem Erstaunen auf der Website des B&Bs, das wir fĂŒr unseren Besuch ausgewĂ€hlt hatten, dass es ganz hervorragend gelegen sei, das hieĂ vor allem weit genug weg vom Trubel der HauptstraĂe. Wir hatten es ausgewĂ€hlt, weil es in der lokalen âMetropoleâ lag â Brodick, wo auch die FĂ€hre vom Festland anlegt. Wir wunderten uns: 4000 Einwohner hatten wir gelesen, also ein gröĂeres Dorf, das sollte doch nicht so laut sein! Wenig spĂ€ter bemerkten wir unseren Irrtum: nicht Brodick zĂ€hlte 4000 Seelen, sondern die ganze Insel Arran. Dennoch sollte sich die AnkĂŒndigung unserer Landlords auf eine gewisse Weise als richtig erweisen.
Es kommt halt alles auf die VergleichsmaĂstĂ€be an. Wir lebten damals in Aachen, eine hĂŒbsche Stadt, doch wimmelte es geradezu von Autos. Dort gab es keine ruhige Ecke. Selbst der Stadtwald rund ums DreilĂ€ndereck wurde in regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden von SchnellstraĂen zerteilt. Nur wenn man es schaffte, exakt in der Mitte eines solchen KuchenstĂŒcks darauf zu achten, war fĂŒr einen kurzen Moment lang das ewige Rauschen des Verkehrs erstorben.
In Brodick war es nun genau anders herum: Der nur wenige hundert Einwohner zĂ€hlende Ort war absolut ruhig, bis auf die ungefĂ€hr vier Mal am Tag, an denen die FĂ€hre vom Festland anlegte und die Autos auf die RingstraĂe der Insel ausspie. Das war also der Moment, an dem unser B&B gerade weit genug vom ‚Trubel des Ortes‘ entfernt lag, um nicht in der Ruhe der schottischen Landschaft gestört zu werden. Das einzige, was hier Krach in AnfĂŒhrungszeichen produzierte, war ein Rotkehlchen, das seinen Gesang ĂŒber die GĂ€rten hinweg schmetterte, in denen wegen der NĂ€he zur WĂ€rme des Golfstroms Palmen wuchsen und Fuchsien ihre rote Pracht in Form von Heckenpflanzen verströmten und nicht als die uns bekannten kĂŒmmerlichen Topfpflanzen.
Blickte man aus unserem Fenster, schaute man direkt auf die wunderbare Bergkulisse, die nur wenige Kilometer auĂerhalb des Ortes mit dem âGoatfellâ, dem lokalen Hausberg beginnt und sich dann majestĂ€tisch in den Norden der Insel fortsetzt.
Unser Landlord gehörte zum lokalen Mountain Rescue Team, wie der eine oder andere der Einheimischen auch. Was fĂŒr die Insulaner eher ein Sport, das war fĂŒr so manchen Touristen ein wahrer Segen, denn es waren durchaus letztere zu deren Rettung die Leute hier wieder und wieder ausrĂŒcken mussten. Zwar sind die Berge der Insel nicht ĂŒbermĂ€Ăig hoch â schlieĂlich waren wir hier nicht in den Alpen, trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ĂŒberschĂ€tzte sich so mancher Wanderer und kam an den entscheidenden Stellen dann weder vor noch zurĂŒck. Die Briten machen einen lustigen Unterschied in ihrer Sprache zwischen âscramblingâ und âclimbingâ â ersteres ist auf Arran durchaus ĂŒblich, letzteres fast unmöglich. Ăbersetzt der Germane beides einfach mit âkletternâ, ist das fatale MissverstĂ€ndnis so gut wie vorprogrammiert. Auch âscramblingâ kann durchaus anspruchsvoll sein, auch wenn es weder Seil noch Haken zum unterhaltsam aus dem Deutschen entlehnten âAbseilingâ erfordert. Deutlich wird das durchaus auch an einigen der Landschaftsnamen auf der Insel. Insbesondere âWitch’s Stepâ ist dafĂŒr bekannt. Hat man diesen Weg erst einmal bis hierher eingeschlagen, heiĂt die Anweisung im WanderfĂŒhrer, es gehe jetzt eben nur noch vorwĂ€rts, zurĂŒck könne der normale Wanderer dieses StĂŒck unmöglich bewĂ€ltigen. Hat man diese Einsicht allerdings zu spĂ€t, ist dies dann genau der Moment, wo man mehr als dankbar fĂŒr das lokale Team der Mountain Rescue ist.
Dass Arran eine Insel der Wanderer â oder wie die Briten so schön sagen der âWalkerâ – ist, war uns bei der Wahl des Urlaubsziels irgendwie schon klar gewesen, doch was das wirklich bedeutete, erfasste ich erst, als wir nach unserer ersten Ankunft von unserem Landlord sehr stolz ĂŒber sein Anwesen gefĂŒhrt wurden. Zu guter Letzt zeigte er uns dort nĂ€mlich seinen âDrying roomâ mit den Worten: âAnd if you get really wet and muddyâ, und nach einem Blick in mein wohl etwas bestĂŒrztes Gesicht ergĂ€nzte er eifrig, âthis can happen.â
Besonders schön und dann in der Tat von uns dort gelegentlich genutzt: die Trockner fĂŒr die Wanderstiefel, eine Art Föhn, den man direkt in den Schaft der Stiefel stecken konnte, sodass diese bis zum nĂ€chsten Gebrauch garantiert wieder wunderbar trockengelegt waren. In unserem B&B traf man zum FrĂŒhstĂŒck am Morgen oftmals den einen oder anderen Gast auf Strumpfsocken, was hier niemanden in Verwunderung versetzte und auf dem dicken Teppichboden auch völlig unproblematisch war.
Zwei weitere Eigenheiten dieses wunderbaren Platzes, so herrlich weit abgelegen vom Trubel der HauptstraĂe, seien hier noch kurz erwĂ€hnt, bevor wir uns dann aufmachen wollen in die Wildnis der Insel, derentwegen wir ursprĂŒnglich ja ĂŒberhaupt erst angereist waren: das Kaminzimmer und, in den ersten zwei Jahren zumindest, die Schanklizenz unseres Landlords. So verbrachten wir einige schöne Stunden mit dem inseleigenen Single Malt Whisky vor einem prasselnden Feuer â was fĂŒr jemanden wie mich, der die meiste Zeit seines Lebens in eher ĂŒberschaubaren Stadtwohnungen verbracht hat, eine neue Dimension von Luxus eröffneteâŠ
Von unserem B&B aus waren es nur wenige Meter bis zur Bucht â Brodick Bay. Ich glaube, in all den Jahren, die wir dort hingefahren sind, haben wir höchstens ein- oder zweimal jemanden dort baden sehen. Und das waren dann meist Kinder, die nicht ĂŒber die Wassertemperaturen nachdachten. Ein Strandurlaub ist dort wohl eher was fĂŒr Einheimische. DafĂŒr kann man aber ganz wunderbar die schönsten Steine an den KĂŒsten dieser Insel finden. Sehr zum Leidwesen von Alexander, der allzu oft auf mich warten musste, weil ich das eine oder andere SchĂ€tzchen noch genauer âbeguckenâ wollte, wie mein Vater das einmal so schön genannt hatte. Ich fĂŒrchte, diesen Spleen habe ich auch von ihm. UnabhĂ€ngig von dieser vielleicht etwas abstrusen und fĂŒr Flugreisende mit entsprechender GewichtsbeschrĂ€nkung fĂŒr das ReisegepĂ€ck auch etwas bescheuerten Sammelleidenschaft ist Arran geologisch gesehen tatsĂ€chlich ein Highlight, wurde hier doch, sozusagen, der wesentliche Stein fĂŒr die Geologie als Wissenschaft gelegt. Da gerade die Berge der Insel also auch immer wieder Studierende und Hobbyforscher anziehen, steht der schöne und eindeutige Hinweis âDo not hammer awayâ im WanderfĂŒhrer der Insel.
Brodick Bay lieĂ mein Herz aber nicht nur wegen meiner Sammelleidenschaft erglĂŒhen, sie ist auch in noch einer weiteren Hinsicht geradezu formidabel. Steht man sozusagen an ihrem Scheitelpunkt, sieht man zu seiner Linken, einen wunderschönen Wald sich erstrecken, aus welchem Brodick Castle verstohlen hervorblitzt. Zur Rechten fĂŒhrt die Bay zum Anleger der FĂ€hren der Caledonian MacBryne. NĂ€hert sich einmal wieder eines dieser Riesenschiffe der Insel, sieht es fĂŒr Momente so aus, als wollte es Arran rammen.
Ăber der Bucht kreist hĂ€ufig ein einzelner Basstölpel, unverkennbar daran zu identifizieren, dass er, sobald Beute gesichtet ist, die FlĂŒgel anlegt und wie ein Pfeil ins Wasser schieĂt. Ob er bei diesem halsbrecherischen Manöver je etwas hat fangen können, konnte ich leider nie beobachten. Sicher war nur, dass er Augenblicke spĂ€ter wieder seine stoischen Runden ĂŒber der Bucht ziehen wĂŒrde, als wĂ€re nichts geschehen.
Brodick Bay gefiel mir so gut, dass ich mir jedes Mal von neuem vornahm, schon morgens gleich als erstes noch vor dem FrĂŒhstĂŒck hinunter zum Meer zu gehen. Ein Vorsatz, der bis heute auf seine AusfĂŒhrung harrt â ebenso wie jener, dort nachts die Sterne im vom Zivilisationslicht verschonten Himmel zu beobachten. Denn âleiderâ ist Arran auch die Insel des tiefen Schlafs â nach unseren Wanderungen sind zehn Stunden da keine Seltenheit, aber Alexander meinte ja, ich könne sowieso in jeder Lebenslage schlafen…