âHey, Christian, kennst Du den? Schauâ, der winkt Dirâ, stellte Sylke verdutzt fest, als wir schon in der Ansteuerung auf die Hafeneinfahrt waren. Gedanklich waren wir schon lĂ€ngst beim Segelbergen, Festmachen und all den guten Dingen, die dann folgen wĂŒrden â warme Duschen, warmes Essen, ein Anlegerbier⊠Aber nun dĂŒmpelte uns dieser graue Motorsegler mit lĂ€cherlich hin und her flappender Fock dazwischen. WĂ€hrend wir noch verblĂŒfft auf das kuriose GefĂ€hrt starrten, erfasste Christian sofort, was da los war. âDer will was von uns.â Etwas betrĂŒbt sah ich die Hafeneinfahrt wieder entschwinden, wĂ€hrend Christian, nun selbst am Steuer, begann, ein paar Kreise um das dĂŒmpelnde Boot zu ziehen, auf dem drei Gestalten winkten und gestikulierten. Nur einer von ihnen trug eine Schwimmweste, obwohl wir es heute doch mit Starkwind und entsprechendem Seegang zu tun hatten. Im ersten Moment hielt ich ihn irrtĂŒmlicherweise fĂŒr den Nachwuchs auf dem Boot, trug er doch dieselbe leuchtend orange Feststoffweste, in welche Eltern ihre kleinen Kinder so gerne als schwimmende Bojen verpackten.
SchlieĂlich stand der Funkkontakt zwischen unseren Booten. Und was wir dann erfuhren, war â nun ja, gleichermaĂen seltsam wie peinlich. âNein, der Revierzentrale hĂ€tte man nicht Bescheid gesagt und wollte man auch auf gar keinen Fall. Nein, aus eigener Kraft in den Hafen hineinsegeln, wĂ€re mit diesem Boot völlig ausgeschlossen. Irgend etwas wĂ€re wohl mit dem Motor nicht in Ordnung. Ob wir sie nicht schnell hinein schleppen könnten?â Was Ominöses mit diesem Motor nicht stimmte, wurde wenig spĂ€ter offensichtlich: kein Sprit mehr. Auf dem Weg zur Tankstelle im Yachthafen war der Motor einfach ausgegangen. Nun trieben die Herren also mitten im Fahrwasser vor dem Amerikahafen, ohne AIS-Signal, ohne Funkmeldung an die Revierzentrale, dafĂŒr aber mit Starkwind und Seegang. Christian fasste das spĂ€ter ironisch zusammen: âDer Schlepper im Amerikahafen? Nee. Die DGzRS? Nee. Die KĂŒstenwache? Nee. Ah, Yachtschule Eichler, den nehmen wir.â So Ă€hnlich kam uns das Ganze vor â irgendwie absurd.
Ich hĂ€tte es nicht gedacht, viel zu groĂ erschien mir der graue Pott, der da vor sich hin trieb. Viel zu planlos die Mannschaft, die darauf herum lief, gut gescheucht von einem missgelaunten Skipper â wie auch sonst? Trotzdem gelang es uns, den Havaristen in den Amerikahafen zu schleppen, dort lĂ€ngsseits zu nehmen und dann sicher an einen freien Liegeplatz am Steg zu bringen. Dort nahmen Jörg und seine Crew ihre Leinen entgegen und machten sie fest. Klingt leicht? Ist bei sechs Beaufort aber keine Kleinigkeit.
SchlieĂlich konnten auch wir selbst einen Steg weiter mit tatkrĂ€ftiger UnterstĂŒtzung der Mannschaft von unserem Schwesterschiff festmachen, froh, den Havaristen, sein Adrenalin und seine schlechte Laune bei jenen an Bord hinter uns gelassen zu haben. âChapeau, Christian, fĂŒr dieses Manöver! Jeder kann froh sein, Dich als Abschleppdienst zu bekommen!â Das sah auch unser Liegenbleiber letztlich noch ein und kam auf ein umfĂ€nglicheres Dankeschön bei unserem Skipper vorbei. Wir fanden das mehr als angebrachtâŠ
Etwas spĂ€ter an diesem Tag machten Alexander und ich uns dann daran, das Vorsegel zu wechseln. Die Genua sollte mit der kleineren Fock vertauscht werden, denn auch fĂŒr den kommenden Tag war weiterhin Starkwind auf der Elbe angesagt: sieben Beaufort, in Böen acht und alles â wen wundertâs? – von vorn. Segelwechseln sollte kein Problem fĂŒr uns sein, meinten wir. Immerhin hatten wir in diesem Jahr im Schnitt einmal pro Woche das Segel der kleinen Sun in unserem Segelclub an- und wieder abgeschlagen. Da sollte die Genua uns doch jetzt keine Schwierigkeiten â ups â und schon lag der SchĂ€kelbolzen im Hafenbecken. Mist! Das gehörte wohl zu âMurphyâs LawââŠ
An diesem Abend saĂen wir bei Pasta an Salbeibutter und frischem Salat zusammen. Ein weiteres kulinarisches Highlight aus Christians Kochtöpfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das unbestimmte GefĂŒhl, schon mindestens zwei Wochen lang auf See gewesen zu sein. War das wirklich alles in den letzten achtundvierzig Stunden passiert? âIntensivâ war das Wort, das mir zu den Erlebnissen der vergangenen zwei Tage einfiel. Sonst mochten Wochen im tĂ€glichen Einerlei vergehen, ohne dass man sich hĂ€tte erinnern können, womit man die Zeit ĂŒberhaupt zugebracht hatte. In diesem Jahr sicher vor allem mit nicht enden wollender Arbeit am Computer. Nichts davon schien relevant oder bleibend. Die letzten Stunden dagegen malten sich deutlich in mein GedĂ€chtnis. All die Bilder. In jeder Einzelheit sah ich die Ereignisse vor mir, sehâ sie noch heute. Vielleicht auch, weil man so intensiv mit Beobachten befasst ist. âEs ist jederzeit gehörig Ausguck zu gehen,â der etwas angestaubt klingende Satz aus den letzten PrĂŒfungsaufgaben bekam hier eine ganz andere Bedeutung: der Blick gleitet vom Kompass, zum Verklicker, in die Segel, hinĂŒber zu den vorbeifahrenden Containerriesen am Horizont, ĂŒber all das Wasser und wieder zurĂŒck. Ununterbrochen beobachtet man die Welt da drauĂen, die sonst so oft gegenĂŒber irgendwelchen GrĂŒbeleien zurĂŒcktritt. Hier lebt man in jedem Moment, den man die Augen offen halten kann.
Als sie mir an diesem Abend das erste Mal zufielen, war es noch nicht acht Uhr durch und fĂŒhrte zu allgemeinem GelĂ€chter. Und doch nur wenig spĂ€ter erloschen auf der âElbe Expressâ die Lichter fĂŒr diese Nacht. Und wĂ€hrend drauĂen die Möwen mit dem Ostwind um die Wette schrien, schlief ich wie ein Baby in meiner Koje.