Tag 2: Cuxhaven – Helgoland
Sehr bald schon vernahm ich dann wieder die ersten Schritte über den Niedergang. Der neue Tag eilte auf uns zu, und wir krabbelten aus den Kojen zum Frühstück. Kaffee. Es geht doch nichts über einen guten Kaffee am Morgen! Die warme Dusche wurde allseits auf die Marina auf Helgoland verschoben und so ging, fast unbemerkt, der erste in den zweiten Tag auf dem Wasser über, als wir, aus Cuxhaven auslaufend, den Amerikahafen mit ohrenzuhaltendem Signalton gen Westen wieder verließen. Das Abenteuer war zum Greifen nah. Vor uns lag die Welt im grauen ersten Morgenlicht: auf zu neuen Entdeckungen!
Der Hochnebel sollte sich halten an diesem Tag. Bisher hatte ich ihn noch gar nicht recht als Problem identifiziert. Die Sonne war nicht zu sehen, aber dass der Nebel tatsächlich unsere Sicht behinderte, wurde mir erst viel später an diesem Tag bewusst – als wir nämlich bei der Ansteuerung auf Helgoland irritiert feststellten, dass die Insel von jenem Nebel bis zum allerletzten Augenblick verschluckt und das Grau von Nordsee und Tag einfach in alle Himmelsrichtung gleich blieb. Optisch, ohne elektronische Hilfsmittel, hätten wir unser Ziel an diesem Tag niemals gefunden. Enttäuscht stellten wir fest, dass das Helgoländer Leuchtfeuer, von dem wir schon viel gehört hatten, durchaus nicht bereit war, uns den Weg zum roten Felsen im Meer zu weisen. Eines der stärksten Leuchtfeuer der Deutschen Bucht lag – vermuteterweise – unmittelbar rechtvoraus, aber was nützte einem diese Ahnung, wenn es an diesigen Tagen nicht eingeschaltet wurde? Bewundert haben wir das Feuer dann sehr viel später, als wir lange nach dem Anlegen vom Abendessen zurück zum Schiff strawanzten. Da bot sich uns dann ein beeindruckendes Lichtschauspiel über der Insel. Alle fünf Sekunden griff ein Lichtstrahl hinaus in die unendliche Nacht, verhieß Sicherheit und Orientierung – aber für die Segler auf dem grauen Meer des Tages lag das noch in weiter Ferner.
In Cuxhaven waren wir zwar alle noch ziemlich müde, aber allseits guter Dinge und abenteuerhungrig im Cockpit versammelt. Wir wechselten uns am Ruder ab, und unser Schmetterling hatte seine Flügel zuversichtlich in den Wind aus guter Richtung, aber mit wenig Kraft gestreckt. Wir machten nur mäßige Fahrt an diesem Tag.
Eine Weile noch folgten wir dem Fahrwasser der Elbe. Wie anders die Lage dort sein konnte, wurde mir klar, als wir die dortigen Baken sahen. Manchmal sei der Seegang so hoch, dass man die regulären Tonnen schlicht nicht mehr entdecken könne, da wären die Baken die einzige optische Hilfe zur sicheren Navigation, jenseits der Technik versteht sich, erklärt uns unser Skipper. Schwer vorzustellen, dass man die mehrere Meter hohen Tonnen, die uns den bisherigen Weg über so sicher die Elbe abwärts begleitet hatten, nicht würde sehen können. Aber klar hatten sie uns auch vorher schon davon erzählt, dass schon Wind gegen Strom an dieser Stelle reichte, um die See bis zu sechs Meter und mehr Höhe aufzutürmen. Einen Sturm brauchte es zu diesem Zweck noch gar nicht. Ob sie bei schlechtem Wetter auch nach Helgoland auslaufen würden, hatten wir schon Wochen zuvor tolldreist und ich auch zugegebenermaßen ängstlich von Robert wissen wollen. Er hatte uns mit der langen Erfahrung seiner Skipper beruhigt, und nun präzisierte Christian das ganze: klar, würden sie erst mal auch bei eher suboptimalen Bedingungen auslaufen, wenn die Crew das so entschied. Schließlich war er ja kein schlechter Skipper. Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu, dass die meisten dann doch sehr schnell sehr dankbar für seinen Hinweis seien, dass man in der Elbe auch da und dort ein paar schöne ruhige Stunden verbringen könne. Das Umdrehen fiele dann entsprechend leicht…
Für uns gab es, Gott sei Dank, keine Probleme solcher Natur – eher ein wenig vom Gegenteil, also zu wenig Wind für Groß und Genua. Dafür war das Ruder simpel und anfängergeeignet und so stand ich an diesem Tag gleich mehrere Stunden am Steuerrad, stolz wie Bolle und strahlend vor Glück, während uns der Strom gemächlich mit nach Helgoland nahm.
Zwei weitere Segelboote sahen wir unterwegs. Schnittig überholte uns der Segelmacher aus Stade und war schon weit auf der grauen See voraus, als ich endlich meinen Fotoapparat aus der Kajüte geholt hatte. Am Horizont zog dann und wann die Fähre vorbei – ansonsten nur graue See soweit das Auge reichte. Nachdem unser Navigationsteam beschlossen hatte, ich solle 315 Grad steuern, kehrte allgemein Ruhe ein, und der eine oder andere verlängerte die viel zu kurze Nacht auf der Hundekoje im Salon. Ich blieb derweil oben, ich blieb am Ruder. Mangels Wind kämpfte unsere Gib Sea in den Wellen der Strömung – hüpfte mal nach Steuerbord, dann wieder nach Backbord. Ich bemühte mich um entsprechende Kurskorrekturen und lauschte dem Plätschern des Wassers. Die Stunden verstrichen auf dem gleichmäßig grauen Meer. Die letzte Tonne hatten wir schon vor Stunden passiert und eigentlich sollte doch langsam eine rote Insel am Horizont erscheinen. Hatten wir etwa falsch navigiert? Wo waren denn die Boote geblieben, die uns unlängst noch überholt hatten? Sollten wir die nicht sehen können? In Mitten dieser Fragen erschien Christian wieder an Deck und wies die längst überfällige Kurskorrektur an. Backbord, mehr nach backbord – schließlich wollten wir doch nicht an Helgoland vorbei fahren!
Auch der Rest der Crew erschien nun nach und nach wieder an Deck, und es entbrannte ein kleiner Wettkampf darüber, wer wohl als erstes Land – sprich: Helgoland – aus dem Nebel auftauchen sehen würde. Schon bald wurde spekuliert, ob nicht dieser oder jener Umriss… Ich kniff die Augen zusammen und starrte in die angegebene Richtung. Aber, nein, für mich blieb das Grau einfach das, was ich schon den lieben langen Tag vor der Nase gehabt hatte, nämlich grau. Ausguck würde also eher nicht meine Spezialität, beschloss ich, als sich die angegebene Wolkenbank dann schließlich doch in die ersehnte Insel auflöste. Dass wir unser Ziel definitiv erreicht hatten, wurde mir klar, als uns ein kleiner Schmetterling von der Insel begrüßte. Lustig umschwirrte er das Rigg unseres Bootes, und dieser auf dem Wasser eher surreale Anblick konnte nur heißen, dass das Land nicht mehr fern war.
Cool wäre es ja, wenn man unter vollen Segeln in den Hafen einliefe, erklärte unser Skipper Sylke, die das Ruder übernommen und sich fürs Anlegemanöver bereit erklärt hatte. Aha. Also mit vollen Segeln in den Hafen hinein und dann blitzschnell alles zum Festmachen fertig machen. Das Groß hatten wir eingeholt, aber wohin bloß mit unserem Boot? Ein Schwimmsteg dümpelte einsam an einer Leiter gut zwei Meter unterhalb der Kaimauer. Unsere Begeisterung für diese Option war endlich, und alles war froh, als Christian entschied, mit einem der bereits vertäuten Schiffe am Bootssteg gegenüber ins Päckchen zu gehen. Fender hingen nur bei diesem einen Boot an der richtigen Seite, also steuerbords einladend für uns. Sie steckten in gehäkelten Säckchen. Noch dachten wir uns nichts dabei, galt doch die Regel: Fender an der freien Seite, also keine Einwände gegen weitere müde Segler auf der Suche nach einem Liegeplatz für die Nacht. Das war jedenfalls unser Kenntnisstand der guten Seemannschaft, wie man so schön sagte. Doch hatten wir diese Rechnung ohne den Wirt – Pardon, ohne den Eigner gemacht, der – als ihm klar wurde, worauf unser Manöver hinauslaufen sollte – sehr ungehalten aus seiner Kuchenbude herausschnaubte, uns eindringlich Richtung besagt meterhoher Hafenleiter verwies. Die Crew blickte ihn, dann sich, dann ihn betroffen und verständnislos an. Zu unser aller Glück wurde das dann zu einer Angelegenheit zwischen Schiffsführern erklärt. Christian wechselte einige sehr höfliche Worte mit dem Herren, der – oh schau‘ und guck‘ – seine Meinung innerhalb weniger Minuten vollständig änderte. Unser Skipper war ein wahrer Diplomat! Wir machten also fest und noch während die letzten Leinen vertäut und Klampen belegt wurden, schärfte er uns ein, dass An-Land-Gehen für uns nun hieße, über das Vorschiff des Nachbarn wie barfüßige – nein, wie schwebende, barfüßige Elfen hinweg zu gleiten. Aye, aye, Herr Kapitän! Aber noch bevor wir diese grazile Meisterleistung allseits ausprobieren konnten, gab es ein für uns alle unerwartetes Hallo. Es traf Roberts zweite Yacht, die „Hamburg Express“, von ihrem Törn über die Nordfriesischen Inseln auf Helgoland ein und machte, na klar, an unserer Steuerbordseite fest. Das würden viele Elfen werden in dieser Nacht…
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst beschlossen, dass mein erster Gang an Land mich ins, nein, unters Wasser führen würde. Und die heiße Dusche im Seglerheim der dortigen Marina genoss ich dann lange in ausgiebigen Zügen. Dann war es Zeit für die Inselerkundung und den notorisch überfälligen Abgleich der Geografie mit meiner lückenhaften Erinnerung. Das war dann der einzige Moment während dieses Törns, zu dem ich den spät im Jahr gelegenen Segeltermin aufrichtig bedauerte, denn der Abend war schon längst hereingebrochen, und unser Rundgang über die Insel musste flux im letzten Licht der schon untergehenden Sonne erledigt werden. Diese hatte sich nach der grauen Suppe, die uns den ganzen Tag über begleitet hatte, nun endlich auch für ein kurzes Zwischengastspiel aus ihrem Wolkenbett erhoben, nur um sich umgehend zwecks nächtlicher Vergnügungen auf der anderen Seite wieder zu verabschieden. Doch versüßte sie uns unsere Ankunft für einen Moment noch mit einem schönen Abendrot. Wochen später hörte ich dazu eine nette Anekdote im Radio, die hier kurz eingefügt sei.
In der Zeit, als Helgoland sein Dasein als deutsches Seebad entdeckte, seufzte offenbar recht herzerweichend die eine oder andere Dame über eben jenen Sonnenuntergang auf der roten Insel, welcher auch uns einen einen so schönen Empfang bereitet. Die Rührung ging so weit, dass jene, die sich zu anderen Zeiten selbst für eben jene emotionale Seite der Damenwelt schon von Berufswegen stark erwärmen konnten, also die deutschen Dichter, fanden, dass des Guten denn langsam aber sicher doch genug getan sei. In diesem Sinne schrieb Heinrich Heine auf dieser Insel die folgenden hübschen Zeilchen:
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
(Heinrich Heine, 1832)
Wie gesagt, auch uns begrüßte nun dieses schöne Abendrot, das so gut zu dieser Insel und farblich auch zu ihrer Flagge passen wollte: grün wie die Wiesen, rot wie der Stein und weiß wie der Sand. Pflichtschuldig hatten wir diese natürlich längst unter der Steuerbordsaling gehisst.
Helgoland ist wahrlich keine große Insel und sicher kein guter Ort, um sich mit jemandem im Streit zu entzweien. Man wird sich dort nicht lange aus dem Weg gehen können! Zwar mahnte uns die anbrechende Dämmerung zur Eile für unsere Besichtigungstour, allerdings hätten wir auch bei besseren Lichtbedingungen nicht viel mehr als die letztlich benötigte gute Stunde für den Rundgang übers Oberland gebraucht. Jenseits des Örtchens gibt es nur Wiesen und den roten Fels, der zu allen Seiten schroff ins Meer hinab abfällt. Markant thront der Leuchtturm, beheimatet in einem alten Flakleitstand, und damit sind wir auch schon beim dunkelsten Kapitel dieser Insel angekommen, welches es, wenn man all die fein säuberlich vom lokalen Tourismusverband angebrachten Infotafeln über die Inselgeschichte auf jener Rundtour gelesen hat, umso erstaunlicher machte, dass dieser Felsklotz im Meer überhaupt noch vorhanden und nicht einfach zu jener Fata Morgana geworden war, der wir mittags noch nachgejagt waren.
Schaut man sich diese Insel auf einer Karte an, hat ihre Form etwas Krabbenartiges. Weite Scheren reichen hinaus ins Meer und scheinen die Boote einzufangen, die später in ihrem Hafen festmachen. Dies und die weitläufigen Wellenbrecher am nordöstlichen Ufer, welche die Felsenküste und die Lange Anna umschließen, verleihen dem Aussehen der Insel etwas Martialisches. Kein Vergleich zu den Wanderoasen und Touristenfallen anderer Eilande, die wir bisher besucht hatten.
Jenseits dieser an Festung, Militär und entsprechende Historie gemahnende Äußerlichkeit der roten Insel im Meer wartete diese aber auch mit einer noch ganz anderen, mir deutlich sympathischeren Eigenart auf: den Lummenfelsen. Natürlich führte uns unser Weg über das Oberland – artig dem Touristen-, aber eben auch dem einzigen Inselpfad folgend – zunächst zur Langen Anna, der Felsnadel im Meer. Trotz später Stunde und Jahreszeit waren wir am dortigen Aussichtspunkt längst nicht die einzigen Besucher. Fotos wurden massenweise geschossen, sodass Alexander witzelte, dass von den vielen Fotostativen schon Löcher in den Felsen gebohrt worden sein müssten. Menschen sind nun mal Herdentiere und als solche auch immer wieder selbst ein interessantes Beobachtungsobjekt. So ruhte mein Blick zunächst auf ihnen, um dann – das Interesse war geweckt – zu erkunden, was sie wohl so Faszinierendes an der Steilwand unter uns betrachteten. Ich gebe zu, solche Blicke in die Tiefe gehören nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Höhenangst hat mich schon immer geplagt – sehr zum Leidwesen Alexanders, dem dadurch der eine oder andere Berggipfel entgangen ist, den zu erklimmen ich mich auf Grund besagter weicher Knie an abfallenden Hängen nicht im Stande gesehen hatte. Ungebrochener Spitzenreiter in dieser Kategorie der Fast-bestiegenen-Berggipfel ist dabei nach wie vor der Goatfell auf Arran. Waren wir schon drei Mal fast oben oder vier? Aber das ist eine andere Geschichte…
Auf Helgoland blieb mein Blick in die Tiefe glücklicherweise bereits nach wenigen Metern, zusammen mit den dort nistenden Basstölpeln, am Felsen hängen. Eine ganze Kolonie lebte dort. Auch sie hatte ich schon auf besagter schottischer Insel gesehen, aber immer nur in Form am Himmel kreisender Einzelkämpfer über der Bucht in Brodick, die sich dann urplötzlich, kamikazeartig ins Wasser fallen ließen, grazil eintauchten, um nur Minuten später wieder neue Kreise am Himmel über der Bucht zu ziehen. Ein, zwei Vögel hatte ich auf diese Weise auf Arran beobachtet, auf Helgoland saß nun ein gutes Dutzend nur wenige Meter von meinen Füßen entfernt auf dem Felsen – wobei sicher nicht nur mir, sondern ebenso den Vögeln klar gewesen sein muss, dass sie dort für alle menschlichen Dummheiten unerreichbar waren. Basstölpel sind interessante, aber keine besonders schönen Vögel. Ihr Kopf ist ihrem Jagdverhalten optimal angepasst. Sie sehen aus, als trügen sie Gummimasken über ihren Köpfchen: der lange Schnabel, die dunkel umränderten Augen blicken stets streng. Wie die meisten Seevögel folgt ihre Gestalt sicher keinem Kindchenschema, das sie im Auge des Betrachters zu Kuschelobjekten degradieren würde.
Leider bewahrheitete sich bei dieser Beobachtung auch noch etwas anderes, von dem ich bisher nur medial erfahren hatte: Ihre Nester, die eng in den Felsen geschmiegt lagen, leuchteten bunt in der Abendsonne. Rot und blau. Vor allem Nylonseile, Stücke von Fischernetzen und anderer Plastikunrat bildeten ihr Zuhause. Gehört hatte ich schon davon. Auch davon, dass sich die Jungen der Lummen regelmäßig bei ihren waghalsigen Sprüngen ins Meer in diesem Unrat erhängten. Aber die schiere Menge an Müll zu sehen, den die Vögel hier zusammengetragen und nichtsahnend ob der Gefährlichkeit für den eigenen Nachwuchs zu Nestern verbaut hatten, war doch recht beklemmend und bestärkte mich erneut im eigenen Vorhaben, Plastikverpackungen weitestgehend zu vermeiden. Es braucht keine Plastikstrudel im Pazifik, um einem die Notwendigkeit vor Augen zu führen, sein eigenes Müllverhalten nachhaltig zu überdenken.
Nachdenklich gestimmt machten wir uns auf den Rückweg. Der Abend sollte in der „Bunten Kuh“ ausklingen, und ich wartete sehnlichst darauf, dass es endlich soweit war. Nicht weil ich diesen Tag beschließen wollte, nein, das sicher nicht, aber ich hatte Hunger wie ein Seebär! Als besagter Quotenvegetarier der Runde machte ich mir wenig Illusionen über die Auswahlmöglichkeiten des Essens. Reisen an die Küste bedeuteten Fisch in allen möglichen Variationen. Reisen über das Meer würden da keine große Ausnahme mache. Erfreut nahm ich schließlich zur Kenntnis, dass auch seltsamen Leuten wie mir eine Wahl zugesprochen wurde, immerhin gab es also ein Entweder-Oder auf der Karte. Ich entschied mich für das Oder und beschloss, dieses um die aufgeführte Tomatensuppe zu ergänzen. Ja, ich hatte wirklich Hunger!
In der „Bunten Kuh“ trafen wir nicht nur den Rest von unserer Crew wieder, sondern auch die Leute von der „Hamburg Express“. Zusammen füllten wir die Seglerkneipe am Hafen gut aus. Die wohlgemeinte Idee, uns so zu platzieren, dass beide Crews gemeinsam an einem Tisch Platz fanden, wurde angenommen, die zu Grunde liegende Intention, die jeweils anderen besser kennenzulernen, erkannt und – ignoriert. Nachdem die wesentlichen Fragen nach woher, wohin und wie war das Wetter, geklärt waren, blieb man unter sich.
Selten hatten wir die Befürchtung über möglicherweise zu kleine Portionen mit solcher Ernsthaftigkeit erwogen, wie im Vorwege des Mahles an diesem Tisch. Lange hatte ich nicht mehr mit solch einem Appetit gegessen. Segeln machte hungrig, keine Frage! Letztlich erwiesen sich alle unsere Befürchtungen aber als unbegründet. Sogar die als lokale Spezialität und eigentlich als Vorspeise angekündigten „Knieper“ – Krebsscheren mit verschiedenen Dips und Brot serviert – die Holger kosten wollte, füllten in zufriedenstellender Weise die Seglerbäuche. Aber noch bevor die sich absehbar ankündigende Schläfrigkeit nach gutem Essen und viel frischer Luft vollständig von uns Besitz ergreifen konnte, war noch die Frage nach dem ebenfalls angepriesenen Eiergrog zu klären. Unser Skipper riet zum Probieren, um rauszufinden, was es damit wohl auf sich habe, hielt sich ansonsten aber eher bedeckt und zurück, was dieses Getränk betraf. Nach dem ersten Schluck war mir auch sofort klar, warum. Ich musste unwillkürlich daran denken, dass Christian zu Beginn unseres Törns – nicht ohne Stolz in der Stimme – erzählt hatte, dass bei ihm noch nie jemand über Bord gegangen sei. Allerdings sei es durchaus schon vorgekommen, dass der eine oder andere auf Helgoland vom Steg gefallen wäre. Kein Wunder! Ich hatte den Eindruck, gerade puren aufgekochten Alkohol durch einen dünnen Strohhalm zu schlürfen. Eindringlich war ich in der Folge darum bemüht, dieses seltsame Getränk mit Alexander zu teilen, der wohlweislich von einer eigenen Bestellung abgesehen hatte.
Auf dem Rückweg zum Boot schoss das Leuchtfeuer der Insel seine weißen Strahlen in den pechschwarzen Himmel. Wir bewunderten es alle. Heute frage ich mich, wie viele von uns sich in diesem Moment wohl gewünscht haben mögen, es hätte uns tagsüber auch schon den Weg gewiesen. Ich dachte es jedenfalls sofort. Wie leicht hätte man doch an diesem winzigen Felsen einfach vorbeisegeln können, ohne es zu merken – vorausgesetzt natürlich, dass man das GPS nicht konsultierte. Und was für eine Leistung war die Seefahrt vor noch ein paar Jahren gewesen, als all diese Technik nicht zur Verfügung gestanden hatte. Wieder war ich selig im Bewusstsein, gerade ein echtes Abenteuer zu erleben.
Leider und trotz Eiergrog fand ich auch in dieser zweiten Nacht auf dem Boot keine rechte Ruhe. Unsere Kajüte lag steuerbords zur „Hamburg Express“, und unsere Fender rollten lustig zwischen den beiden Booten an der Bordwand entlang, hin und her und her und hin und hin und her…