Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven

Der Törn begann an einem Donnerstagvormittag an unserer Yachtschule in Finkenwerder. Im Köhlfleet hat Robert seinen eigenen Steg für die drei Segelboote und seinen ganzen Stolz – sein Elektromotorboot. Sein Steg liegt hinter dem Fähranleger Finkenwerder. Dort ist also immer was los. Man lernt schon von Klein auf sozusagen, was es heißt, sich mit der Berufsschifffahrt herumzuschlagen. Sein Liegeplatz ist nichtsdestotrotz enorm praktisch für uns, wohnen wir doch quasi gegenüber. Mit den Rädern sind wir in fünfzehn Minuten unten an der Elbe, dankenswerterweise geht es in diese Richtung immer bergab. Soll noch einer behaupten, Hamburg hätte keine Berge – nur jemand, der hier noch nie mit dem Fahrrad an der Elbe unterwegs war, wird sich zu diesem Flachlandvorurteil hinreißen lassen. Unten an der Elbe nehmen wir dann flux die Fähre – mit dem Schiff zu den Schiffen. Diese Stadt hat schon ihren ganz eigenen Charme.

Segelboote der Yachtschule Robert Eichler
Segelboote der Yachtschule Robert Eichler

Wir hatten Rucksäcke dabei, denn dass Koffer auf einem Boot mehr als unpraktisch sein würden, war uns nicht erst seit dem Hinweis in Roberts Mail klar. Leider war uns weniger einsichtig gewesen, dass Wanderrucksäcke auch so ihre Tücken haben würden. Insbesondere deren Tragegurte füllten später den ohnehin recht engen Fußraum unserer Achterkajüte fast vollständig aus. Beim nächsten Mal würden wir uns da was anderes einfallen lassen müssen. Jene, die mit ihren Autos anreisten, hatten es in dieser Hinsicht besser. Sie brachten ihre Sachen in faltbaren Taschen oder gleich in Seesäcken aufs Boot und – eins, zwei, drei – war alles in den Schapps verstaut.

Drei Mitsegler waren schon an Bord, als wir am Donnerstag dann mit besagter Fähre vom anderen Elbufer anreisten. Sylke, Detlef und Tobias. Wie wir beim ersten Beschnuppern herausfanden, waren sie bereits am Vorabend angereist und hatten schon eine Nacht auf dem Boot verbracht. Kurz nach uns trafen dann noch zwei weitere Crewmitglieder ein – Tim und Holger – und auch unser Skipper, Christian, war schon mit von der Partie. Kojen wurden zu-, Handtücher und Bettzeug aus- und wir gleichmäßig über das Boot verteilt. Eine Vorschiffskajüte, zwei im Heck mit Doppelkoje und Leesegel für die fehlende Privatsphäre sowie eine Kajüte mit Stockbett zwischen Salon und Vorschiff waren schnell belegt. Schon beim allerersten Mal, als ich den Raum eines Segelbootes unter Deck erkundet hatte, war ich erstaunt gewesen, wie viel Platz es bieten konnte. Hätte man mich früher gefragt, nie und nimmer hätte ich zugestanden, dass ganze acht Leute bequem auf dieser Gib Sea hätten Platz finden können, ohne sich stetig auf den Füßen zu stehen. Sicher, das Gerücht hielt sich eisern, dass Segeln die langsamste, unbequemste und teuerste Art und Weise sei, um von A nach B zu gelangen – aber auch das war eine Frage der Perspektive. Was brachte es einem, wenn man immer nur von Ort zu Ort hetzte? Hier war doch klarerweise der Weg das Ziel und der Platz, den das Boot uns bot, wäre nur dann ein Problem gewesen, wenn die Chemie in der Crew nicht gestimmt hätte und in solch einem Falle könnte auch ein zehnstöckiger Büroturm zum kleinsten Mauseloch zusammenschnurren.

Zunächst gab es ein großes Hallo und Einander-Kennenlernen – auch das integraler Bestandteil des Abenteuers Helgoland auf temporär eigenem Kiel. Wer würde wohl mit zur Crew gehören? Was für Leute würden kommen? Wie gesagt, in den kommenden Tagen würde man sich schwerlich aus dem Weg gehen können, wenn es dumm lief. Aber es lief nicht dumm, es stellte sich – ganz im Gegenteil – als sehr gelungene Mischung heraus. Persönlich war ich recht angetan, nicht als einzige Frau an Bord zu sein, sondern mit Sylke eine veritable Mitstreiterin zu haben. Noch jemand, die die Kerze auf dem Salontisch beim gemeinsamen Abendessen schön finden würde.

Es folgte eine ausführliche Sicherheitseinweisung durch unseren Skipper – alles unter dem so schön von ihm ausgegebenen Motto: ‚Wir verlassen das Boot nicht, wenn überhaupt verlässt das Boot uns.‘ Begierig saugte ich alle Informationen auf, wo welche nützlichen Dinge verstaut und wie sie zu bedienen waren. Alle waren mit größter Konzentration dabei, auch wenn es für die anderen im Gegensatz zu uns natürlich nicht ihr erster Törn war. Niemand lief an den folgenden Tagen an Deck ohne Rettungsweste oder, wie Christian so schön sagte, ’nackich‘ herum. Alle wussten, wo man sich im Cockpit und auf dem Vorschiff sicher einpicken konnte. Und erstaunt, aber auch erleichtert stellte ich fest, dass im Laufe unserer Fahrt beinahe alle auch bei verschiedenen Gelegenheiten davon Gebrauch machen würden. Und dann ging es endlich los…

Strom und Ostwind nahmen uns mit Richtung Nordsee. Auslaufend grüßte ein Seehund, der beim Mühlenberger Loch sein Köpfchen aus dem Wasser streckte. Wer hätte das gedacht?! Wir hatten diese faszinierende Beobachtung eines Stückchens unvermuteter Wildnis in Mitten der Großstadt schon vor einer Weile bei Roberts Skippertraining machen dürfen: Seehunde auf einer trockenfallenden Sandbank direkt vor dem Airbus-Werk – Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Seehunde trotz der ganzen Riesenpötte, die täglich, wenn nicht sogar stündlich die Elbe hoch- und runterfuhren, das Wasser dabei durchpflügten, sodass man sich selbst daneben winzig und verletzlich vorkam, obwohl man eine 43-Fuß-Yacht um sich herum hatte, viel mehr als so ein Seehundspelz…

Die erste Etappe führte uns nach Glückstadt. Die Elbe hinunter – dorthin, wo die Welt begann. Blankenese, Wedel, Willkomm Höft – alles gut bekannt und dann das Neue, das wir noch nie gesehen hatten: die weiten Elbmarschen jenseits der Stadt. Von nun an hieß es, sich klar vom Tonnenstrich im Fahrwasser halten, Steuerbordtonnen gut an Steuerbord liegen lassen, denn jenseits davon drohten Untiefen und überspülte Buhnen. Die Crew ließ es sich im Cockpit gut gehen. Frische Luft macht bekanntlich hungrig, und erste Vorräte wurden zufrieden verdrückt. Man genoss allseits Sonne und Aussicht bei gemütlicher Fahrt stromabwärts. Dann die Aufgabe an uns, ausgegeben von unserem Skipper: Wie steuerte man wohl den Glückstäder Hafen an? Ein Navigationsteam verschwand unterdecks, allein es fehlte noch an Übung. Die Ansagen an unseren Rudergänger waren doch eher vage – nur gut, dass Christian längst wusste, worauf zu achten sein würde. Sicher führte er uns durch die vorgelagerten Sandbänke – ein Glück, mit so etwas hatten wir wahrlich nicht gerechnet.

Am frühen Nachmittag machten wir dann in Glückstadt fest. Die Idee kursierte und wurde allgemein begrüßt, einen Teil der Bordkasse beim lokalen Fischhändler zu investieren. Als Quotenvegetarier der Runde enthielt ich mich der Stimme, war aber ebenso angetan von der Idee, einen kurzen Ausflug ins Städtchen zu unternehmen, das mir gänzlich unbekannt war. Mit Sylke hatten wir eine ortskundige Führerin dabei und so ging es nach den ersten Stunden auf dem Wasser erst einmal wieder an Land. Fisch und Sightseeing-Eindrücke wurden gesammelt und zwecks späteren Konsums zunächst gut verstaut. Dann noch etwas Ruhe, doch war ich viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Und so ganz hatte ich auch immer noch nicht realisiert, dass man die wenigen sich bietenden Gelegenheiten dazu wirklich nutzen sollte auf diesem Törn. Hier wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass wir mit den Gezeiten segeln würden, dass unser Lebensrhythmus in den folgenden Tagen Ebbe und Flut folgen würde. Und während die Glückstädter dem Tag also einen guten Abend wünschten und sich zu einer erholsamen Nachtruhe anschickten, ging für uns die Reise gegen 21 Uhr wieder weiter, als wir aus dem kleinen Hafen hinausnavigierten. Ein Richtfeuer achteraus zeigte uns den sicheren Weg. Gespenstisch und besorgniserregend glitten die von Christian aufgezählten unbeleuchteten Fahrwassertonnen an uns vorbei. Alle atmeten auf, als auch der letzte schwarze Schatten sicher passiert war.

Die nächtliche Fahrt flussabwärts war ein eindrückliches Erlebnis. Schwärme von Seevögeln stiegen in beinahe regelmäßigen Abständen vor unserem Bug nahezu lautlos auf, aufgestört in ihrer Nachtruhe von unserer Passage. Für die Bruchteile eines Augenblicks waren ihre weißen Flügel und Leiber im Licht unserer Positionslampen zu erkennen, dann verschluckte sie die Dunkelheit erneut. Wer hätte gedacht, dass so viele von ihnen die Nacht auf dem Fluss verbrachten? Im Cockpit ging derweilen ein munterer Wettbewerb im Leuchtfeuer-Zählen los. Zu welcher Tonne mussten wir als nächstes? Wie war die Kennung? Wer hatte sie schon im Blick? Und wer war sicher, ihre Kennung schon korrekt ausgezählt zu haben? Roter Blitz alle vier Sekunden, rotes Funkelfeuer, rotes unterbrochenes Feuer – hatten wir richtig gezählt? Und von vorne. In der Tat war das etwas ganz anderes als ‚Robert macht immer so‘: Blitz, Hand auf – zwei, drei, vier – Hand zu. Manche Dinge muss man tatsächlich gesehen haben, um sie richtig zu verstehen, da hatte er schon recht.

Schiffe auf Reede und das Lichtermeer von Brunsbüttel zogen vorüber. Dann an der Schleuse des NOKs die eindringliche Warnung unseres Skippers, sich möglichst weit davon klar zu halten, weil diese sehr unvermutet ihre Fracht ausspucken konnte und unser Segelboot dann nur allen im Weg sein würde. So glitten wir nächtlich als schönster Schmetterling dahin – nicht wie die Motten, die im Licht der Schleusen verbrennen. Die Elbe wurde zunehmend breiter und, abgesehen vom Gemurmel des Revierfunks, war es still. Seit einer Ewigkeit habe ich dort erstmals wieder die Milchstraße ihren schönen Lichterbogen über den schwarzbetuchten Himmel spannen sehen. Zwei Sterne fielen für unsere Wünsche zur Erde, und dann wurde es Zeit, sich auf das Einlaufen im Amerikahafen von Cuxhaven vorzubereiten. Ein letztes Mal an diesem Tag – oder war es schon der nächste? – sollten wir alle hellwach werden.

Amerikahafen – das klang nach dem großen Schlag über den Ozean und noch weiter, nach Abenteuer. Mir kam es allerdings in dieser Nacht eher ernüchternd wie ein handelsüblicher Industriehafen vor. Sylke brachte unser Boot sicher an den Platz am Steg, den Christian dafür auserkoren hatte. Und nachdem alles gut vertäut war, fand man sich allseits zum wohlverdienten Ankerbier im Cockpit zusammen. Einige vorlaute Möwen teilten mit uns noch das beinahe schon schlafwandlerische Dasein im gelblichen Licht der Hafenmole, dann hieß es ab in die Kojen. Um sieben am nächsten, nein, Pardon, an diesem Morgen sollte es ja weitergehen. Nun war zwei Uhr gerade vorbeigegangen. Für mich brach die erste Nacht meines Lebens an, die ich auf einem Boot verbringen würde. Doch trotz gemütlicher Achterkajüte waren diese nächtlichen Stunden für mich alles andere als erholsam. Lange, viel zu lange lag ich wach und hörte den mir unbekannten Geräuschen an Bord und im Hafen zu.