Um halbfünf klingelte der Wecker. An keinem anderen Tag des Törns war ich derart müde, bekam die Augen fast nicht auf. Schon vorbei? Was für eine kurze Nacht. Auch stimmte was mit meinem Magen nicht so recht. Oh, an diesem nächtlichen Morgen ging es mir gar nicht gut. Hatte zu viel von der pikanten Tomatensoße gegessen. Das hätte ich besser bleiben lassen. Oh. Aber leider ist man immer erst hinterher schlauer.

Wieder im Ölzeug standen wir schließlich alle im Cockpit. Während wir nun ablegten, schaute ich zu, wie sich Päckchen um Päckchen im vollen Hafen in seine Bestandteile auflöste.

Unseren kleinen Vorsprung büßten wir im Vorhafen leider wieder ein. Beim Aufheißen des Großsegels stellte sich in der Kiep eine Schraube quer, die dort nichts zu suchen hatte. Während unserer Operation zog die „Hamburg Express“ mal wieder an uns vorbei, aber ihr Vorsprung blieb klein. Schnell hatten wir den Übeltäter aus der Schiene entfernt und waren wieder klar zum Auslaufen.

Vor dem Hafen erwartete uns die ruppige See, die uns schon am vorherigen Abend durchgeschüttelt hatte. Ein Blick zurück auf die Insel – mit ihren Lichtern in der Nacht sah sie aus wie eine riesige Fabrik, während wir uns in Bocksprüngen von ihr entfernten.

‚Also, die nächsten zwei, drei Stunden gibt es hier oben nicht viel zu tun, wenn sich noch jemand aufs Ohr legen will?‘ sagte Jörg, und sechs Augenpaare richteten sich auf mich. Aufs Ohr legen? Die Option hatte ich noch gar nicht in Erwägung gezogen. Normalerweise vermied ich es, unter Deck zu gehen, wenn das Boot so vor sich hin schaukelte, aber an diesem Morgen erschien mir der Vorschlag zu verlockend. ‚Mal schauen, ob ich tatsächlich unterwegs würde schlafen können‘, dachte ich und startete den Selbstversuch. Wenig später lag ich auf der Salonbank. Undeutlich drangen die Geräusche des Bootes zu mir vor. Ob ich wirklich geschlafen haben? Keine Ahnung, werde das Experiment zur Verifizierung wiederholen müssen. Sicher war aber, dass es mir deutlich besser ging, als ich wenige Stunden später zurück ins mittlerweile morgenhelle Cockpit kletterte. Jetzt war auch ich bereit für einen neuen Tag. Immerhin sollte es auch unser längster auf dem Wasser werden, wollten wir doch bis Glückstadt durchsegeln.

Nordsee
Nordsee

Am späten Vormittag stand ich schon wieder eine Weile am Ruder. Wir hatten zwischenzeitlich das Ende der Tiefwasserreede erreicht. Recht voraus kam uns hier ein Segelboot entgegen. ‚Du bist ausweichpflichtig‘, ermahnte mich Jörg. Ja, also auf ihr Heck zu halten. Verdammt noch mal, auf ihr Heck – also das gab‘s doch nicht! Ausweichen kann man schließlich nur, wenn der andere seinen Kurs hält. Aber dieses Boot tanzte geradezu vor unserem Bug herum. Es mag seltsam klingen, doch obwohl wir das ganze freie Meer um uns herum zur Verfügung hatten, gerieten wir nach und nach auf einen ziemlich unguten Kurs zueinander. Fünf hektische Jungs machten wir beim Passieren dieses unglückseligen Entgegenkommers aus. Sie schrien irgend etwas von ‚Autopilot‘, als Jörg ihnen zurief, dass sie ihren Kurs besser im Auge behalten sollten. Dann waren wir schon aneinander vorbei, und das Segeln wurde wieder ruhig und das Meer weit.

Segel "Helgoland Express"
Segel „Helgoland Express“

Etwas später dann kam die Lotsenversetzstation an der Einmündung der Elbe in Sicht. Der Fluss hatte uns also wieder und mit ihm auch das Kreuzen gegen den Wind, der stetig weiterhin mit guten vier Beaufort aus Ost blies. ‚Bis sechs Meter kannst Du.‘ Am Grüne-Tonnen-Strich vorbei, vom Lot zählte ich die Tiefenmeter laut vor. ‚Und Ree!‘ Gleichzeitig kam ein energischer Piepston von unterdecks, der Tiefenalarm. ‚Gut, nächstes Mal dann lieber bei acht Metern.‘ Ja, fand ich auch. Tonnen, Großschifffahrt, ein Vermessungsboot, der Ausflugsdampfer zu den Robbenbänken… Die Zeit verging wie im Flug. Schon tauchte die Kugelbake von Cux auf, lustig umflattert von den bunten Gleitschirmen der Kite-Surfer – ein unverkennbares Zeichen dafür, dass wir die Nordsee wieder hinter uns gelassen hatten.

Schon wieder zurück. Zeit ist hier draußen ein seltsames Phänomen. Sie dehnt sich zur Unendlichkeit, so viele Eindrücke liefern die Stunden auf dem Meer. So vieles gibt es, auf das man sich konzentrieren muss, bei dem man ganz bei sich sein muss jetzt und hier. Wie eine endlos lange Reise kommt es einem vor. Und dann, in nur einem Moment, ist alles schon wieder vorbei. Hatten wir wirklich all das erlebt? All das gesehen, erzählt, gedacht? Noch ein paar Stunden und alle unsere Erzählungen würden mit ‚Weißt Du noch…‘ beginnen. Noch ein paar Stunden und einen ganzen Fluss lang.

Gute 86 Seemeilen später machten wir am frühen Abend in Glückstadt unsere Leinen wieder fest. Beziehungsweise versuchten es erst einmal, denn auch dieser Hafen war gut belegt. Neben unserem Schwesterschiff hatte sich schon ein drittes Boot ins Päckchen gelegt, und mit unserer Gib Sea waren wir für die hinteren Plätze einfach zu dick. Schließlich gingen wie bei einem kleineren Boot an der Vorderseite des Schwimmstegs ins Päckchen. Unsere Nachbarn wollten am nächsten Morgen schon um sechs los, rief man uns vom innenliegenden Boot her zu. Macht nix, wir würden sie nicht aufhalten, und eine Alternative gab es leider nicht, wollten wir noch zu einer heißen Dusche im Hafen kommen. Außerdem war das ja noch lange hin. Jetzt stand uns vor allem der Sinn nach Essen, waren wir doch den ganzen Tag schon auf dem Wasser. Bald hatten wir uns ein geradezu königliches Mahl mit frischem Salat, Bratkartoffeln und Spiegeleiern zubereitet. Was für ein leckerer Geruch in unserem Salon hing und – besser noch – wie gut das alles schmeckte! Satt und zufrieden machten wir uns später auf zu besagter Dusche, nicht ohne zuvor pflichtschuldig die wunderbaren Sonnenuntergangsfotos im Hafen geschossen zu haben. Es war ein rundum gelungener Abend.