Mull 2019: Kaffeesegeln nach Kerrera

Dunstaffnage

Der erste kurze Schlag führte uns von Dunstaffnage nach Kerrera. Einmal die Marina verlassen, verschlug uns die Landschaft den Atem. Das Spiel von Licht und Schatten verwandelte die umliegenden Küstenlinien derart, dass man den Eindruck hatte, durch die Kulisse eines Fantasy-Films zu segeln. Diese Empfindung überkam mich Mal um Mal, als wir dort auf dem Wasser unterwegs waren. Jede Lichtstimmung rief neue, ganz eigene Eindrücke hervor, und das Licht wechselte mit den rasch ziehenden Wolken in schneller Abfolge. Die fernen Berge zeigten sich so mal als blaue Schatten, dann wieder in ein milchiges Licht getaucht in zarten Grüntönen, dann nebelverhangen abweisend grau.

Loch Linnhe
Loch Linnhe

Wie soll man die Schattierungen von Silber, Blau, Grün und Schwarz beschreiben, die hier das Wasser anzunehmen vermochte? Wie die geradezu übernatürliche Schönheit der sich sanft in den Himmel schwingenden Hügel und Berge, durch die gelegentlich die Wolken zogen und immer wieder einzelne Burgruinen in ihren versteckten Falten zum Vorschein kommen ließen? Wer Tolkiens Bücher (und die zugehörigen Verfilmungen) kennt, mag sich eine vage Vorstellung von der grandiosen Landschaft machen, die in allen Grüntönen zu leuchten im Stande ist, in der Bäume nicht einfach Bäume, sondern eigene kleine Urwälder mit Flechten, Moosen und Farnbewuchs waren. In der Felsblöcke die Form von Urzeitechsen und knorrige Baumwurzeln jene von Wichtelmännchen aufwiesen. In der Wurzeltreppen zu Elfenhäusern hinauf führten und Wasserfälle aus allen Poren des Landes hervor zu sprudeln schienen. Ja, ich mag dieses Land mit seiner Ursprünglichkeit, seiner Verwunschen- und Abgeschiedenheit. Und es nun vom Wasser aus betrachten zu können, fügte dem Ganzen eine ganz neue, ungeahnt eindrückliche Perspektive hinzu.

Feenleiter, Loch Aline
Feenleiter, Loch Aline

Zum Mittagessen ankerten wir in einer kleinen Bucht auf der Westseite der Isle of Kerrera. Eine Kolonie Seehunde und Robben lag unweit auf einem der Felsen und bildete den Anlaufpunkt für ein Ausflugsboot, dem wir in den folgenden Tagen noch einige Male begegnen würden. Es war unverwechselbar an seiner fein säuberlich nach Form und Farbe aufgereihten Fenderparade erkennbar.

"Fender-Parade", Oban
„Fender-Parade“, Oban

Unsere Westerly war hübsch und urgemütlich, wenn auch nicht mehr ganz die jüngste. Etwas erschreckend fand ich, dass das Lot ausgerechnet in der Einfahrt zur Oban Bay zu spinnen anfing. Wegen des häufigen Fährverkehrs war man angewiesen, sich am äußeren Tonnenstrich zu halten, dort wurde es dann aber auch recht schnell ziemlich flach. In dem Moment also, als es wirklich darauf ankam festzustellen, wie viel Wasser wir wohl unter dem Kiel haben mochten, konnte das blöde Ding sich plötzlich nicht zwischen fünfzehn und null Metern entscheiden. Gut, null Meter war extrem unwahrscheinlich – wir haben den Weg trotzdem gefunden.

Wir machten in der Oban Marina auf Kerrera fest. Im Vergleich zur Transit Marina in Oban bot diese den unschlagbaren Vorteil, durch die ganze Bucht von dieser doch recht lauten Stadt getrennt zu sein und dazu das hübsche Panorama derselben zu offerieren. Im „Waypoint“, dem Pub der Marina, konnte man auch spätabends noch diese wunderbare Aussicht in völliger Ruhe genießen. Hier ließ sich auch das sonderbare Schauspiel der Fahrwassertonnen zur Hafeneinfahrt studieren. Seltsamerweise blinkten sie alle (d.h. die grünen und die wenigen roten) im gleichen Takt mit derselben Kennung. Das ganze sah eher aus wie eine Landepiste für Flugzeuge denn wie die Markierungen eines Fahrwassers.

Oban Marina, Kerrera
Oban Marina, Kerrera

Tagsüber und bei der richtigen Tide konnte man vom „Waypoint“ aus auch einen guten Blick auf die Überreste des Wracks werfen, das am südlichen Ende der Ardantrive Bay sein Dasein fristet und uns gleich zu Beginn daran erinnerte, dass die schottischen Gewässer noch zu keiner Zeit ein Pappenstiel gewesen waren.

Kerrera selbst ist ein dünn besiedeltes Eiland, das auf seiner Nordwestseite einen grandiosen Ausblick auf die Silhouette der Isle of Mull bietet. Von der Marina aus führt eine Landstraße nach Süden, vorbei an einigen sich offensichtlich sauwohl fühlenden, im Freien gehaltenen Schweinen, zum lokalen Farm-Shop. Sehr bald schon wurde dieser Weg von den überall frei auf der Insel umherstreifenden Schafen und Highland-Rindern mit beachtlicher Mähnen und Hörnern in Beschlag genommen. In nördlicher Richtung führt ein typisch schottischer Zwei-Fuß-Wanderweg durch mannshohen Farn und über weite Heidefelder hinweg zum Denkmal für David Hutcheson, den Gründer des Caledonian MacBrayne Fährservices. Von dort oben hat man einen wunderbaren Ausblick auf Maiden Island, die Insel in der Zufahrt zur Bay, sowie auf Dunollie Castle, eine Burgruine auf einer Anhöhe auf der anderen Seite der Bucht in Oban.

Hutcheson-Denkmal, Kerrera
Hutcheson-Denkmal, Kerrera

Von der Marina aus gibt es einen Fährservice mit einem kleinen Boot hinüber nach Oben, den nicht nur wir für einige Shopping-Touren nutzten.

In einer späteren Etappe würden wir Kerrera auch runden. Besonders eindrücklich erwies sich dabei die Südküste, die sich dem offenen Atlantik hin zuwendet und von entsprechender Dünung des Meeres umspült wird. Wiederum war dies ein Platz, den die Schotten für den Bau einer kleinen Festung (Gylen Castle) genutzt hatten. Nun erhob sich dessen Ruine malerisch zwischen saftig grünen Hügeln. Fast schon kitschig wurde es, als durch diese Kulisse dann auch noch ein Dreimaster segelte, der zuvor in Oban seine Crew gewechselt hatte. In welcher Zeit waren wir noch mal unterwegs? In jener der drei Strommasten dort drüben oder doch eher in jener der Elfen und Hexenmeister, die doch ganz gewiss das alte Gemäuer dort auf der Klippe bewohnen mussten?!

Sund, Kerrera
Sund, Kerrera

In der folgenden Nacht zog ein wahrer Sturm über uns hinweg. Der Wind fauchte, brüllte, schnaufte und klapperte mit allem laufendem und stehendem Gut, das er zufassen kriegen konnte. Ganz langsam hatte er sich angepirscht. Erst streifte er ein wenig über den Steg, schlenderte ein wenig hierhin und dorthin zu schauen, ob auch angemessenes Publikum für seine Vorstellung zugegen wäre. Gegen halbelf in der Nacht legte er dann richtig los. Wir lagen in den Kojen und lauschten dem Spektakel. Zuerst versuchte ich noch, einzelne Geräusche zu bestimmen und Dingen an Deck zuzuordnen. Aber je weiter die Nacht voranschritt, desto mehr verschwand alles in ihrem Gewand. Es hatte keinen Anfang und kein Ende mehr, alles passierte irgendwie gleichzeitig. Das letzte Mal hatte ich als Kind dem Wind so intensiv zugehört, wie ich es hier nun wieder in Schottland tat. Ich war in einem Dachzimmer groß geworden, und der Wind strich mit schöner Regelmäßigkeit über das Land, von dem ein Bekannter mal meinte, man könnte am Samstag schon sehen, wer am Sonntag wohl zum Kaffee kommen würde. Damals vermittelte es mir ein Gefühl von Geborgenheit, den um das Haus wütenden Elementen zu lauschen, wohl wissend, dass ich in meinem Zimmer vor ihnen sicher war. Sie nun wieder zu erleben und zwar nicht bloß zu hören, sondern in allen Bewegungen des Schiffes, das an seinen Leinen zog und zerrte, auch körperlich zu spüren, war eine ganz neue Dimension dieser Erfahrung.

Gegen Morgen beruhigte sich das schottische Wetter dann allmählich und ersetzte den Wind durch einen beharrlich fallenden Regen. Bei dieser Gelegenheit stellten wir fest, dass die Decksluke in unserer Kajüte in der hinteren linken Ecke ein winziges Loch haben musste, denn es bildete sich eine beharrliche Kaskade an Wassertropfen, die nach und nach einen kleinen See auf Alexanders Schlafsack bildeten. Wir improvisierten und legten erst mal ein Handtuch auf die fragliche Stelle.