Der nĂ€chste Morgen begann viel zu frĂŒh, schon um halbfĂŒnf wurde durchs Schiff geklappert. DrauĂen stritten sich die SpĂ€theimgekehrten immer noch in weinseliger Stimmung auf dem Steg. Doch was zu anderer Zeit sicher eine interessante Charakterstudie gewesen wĂ€re, ging im eigenen Tran der ĂbernĂ€chtigung unter. Auch galt es, den sexistischen und frauenfeindlichen Plan umzusetzen, den ich am Abend zuvor ausgeheckt hatte. Die MĂ€nner machten das Boot klar zum Ablegen und motorten uns aus dem Hafen, wĂ€hrend Sylke und ich unterdecks, noch ein wenig die Ruhe der vergangen Nacht genieĂend, am Salontisch Klappbrote fĂŒr den geplanten langen Schlag des Tages schmierten. Kurz nachdem wir die westliche SĂŒdspitze der Insel passiert hatten, waren wir damit fertig. Als wir nun mit kleinen Augen und HĂ€nden voll FrĂŒhstĂŒcksbroten im Cockpit auftauchten, verschlug uns der Anblick, der sich uns nun bot, glatt die Sprache. Glutrot ging die Sonne gerade ĂŒber den Insel auf. Als dann auch noch ein heimkehrendes Fischerboot mit anhĂ€ngendem Möwenschwarm in dieses Panorama hineinschipperte, war das Postkartenmotiv schon beinahe zu schön, um wahr zu sein. TschĂŒĂ, Spiekeroog â kleine Insel, groĂe Liebe, bis zum nĂ€chsten Mal!
Dann ging es wieder hinaus aufs Meer. Hatte es uns vor noch nicht ganz drei Tagen ordentlich durchgeschĂŒttelt und mit grauen Wellenungeheuern genarrt, zeigte es sich uns heute von seiner wunderbarsten Seite: Sonnenschein, Wind aus Ost drei bis vier und eine fantastische Fernsicht â so schön kann Segeln sein.
Martin steuerte uns sicher durch die Zufahrt zu Weser und Jade â Fahrwasser, die auf unserer Ăbungskarte vorgestellt zu den belebtesten Ecken der Deutschen Bucht zĂ€hlen mussten â doch auch auf der RĂŒckfahrt begegnete uns hier kein einziges Schiff. Auf Verkehr in diesem Sinne sollten wir erst wieder in der Zufahrt zur Elbe treffen, so kann man sich tĂ€uschen. Allerdings hatten wir das Meer mitnichten ganz fĂŒr uns alleine. Auf der Reede der Neuen Weser lagen jede Menge dĂŒmpelnde Pötte. Wir schlĂ€ngelten uns hindurch. Wie öde musste dort der Alltag fĂŒr die Matrosen an Bord sein. Kein Landgang, keine Abwechslung, kein Austausch mit anderen Menschen. Manche Schiffe sahen aus, als wĂ€ren sie dort bereits zum endgĂŒltigen Verrosten vor Anker gegangen. Robert hatte mal erzĂ€hlt, dass man die Lage unserer Wirtschaft am sichersten an der Anzahl der Schiffe auf den Hochseereeden ablesen könne: je mehr von ihnen dort drauĂen vor Anker lagen, desto schlechter liefen die GeschĂ€fte. Im Hafen zu liegen wĂ€re viel zu teuer. Wenn sie also von keinen AuftrĂ€gen, von keinen Warenströmen kreuz und quer ĂŒber die Weltmeere getrieben wurden, ankerten sie da drauĂen, wo nur selten jemand AuĂenstehendes sie zu Gesicht bekam. Einer der KĂ€hne lieĂ die ganze Zeit ĂŒber den Schiffsdiesel laufen. Eine groĂe, gelbe Wolke lag ĂŒber dem Schiff. Es stank nach verbranntem Schweröl â auch so ein Thema, gerade fĂŒr uns Hamburger und unseren Hafen. Nur gut, dass unsere âHelgoland Expressâ mit dem besten aller Kraftstoffe lief â mit frischem Nordseewind, der uns sicher aus diesem Industriefriedhof wieder hinaus wehte.
Wir wechselten uns am Ruder ab und was nun in Sicht kam, gefiel mir deutlich besser. Hatten wir bei unserem ersten Törn im letzten Jahr Helgoland beinahe verpasst, weil die Insel bis zum letzten Augenblick im dicken Hochnebel steckte, zeigte sie sich wie zur Entschuldigung bei diesem Mal grazil von ihrer besten Seite. Erst konnten wir gar nicht glauben, was wir da vor Augen hatten, dass das dort am Horizont tatsĂ€chlich eben jene rote Felseninsel war, doch kamen wir ihr bestĂ€ndig nĂ€her und schlieĂlich war kein Zweifel mehr möglich: An Backbord voraus lag Helgoland. Dort war die Lange Anna, da hinten Helgolands Leuchtturm, sogar ein StĂŒck von der DĂŒne und dem dortigen rot-weiĂ-gestreiften Leuchtfeuer konnten wir erkennen. Was fĂŒr ein Anblick! In Aachen hatte eine Zeitlang eine Familie mit fĂŒnf sehr kleinen Kindern bei uns im Haus gewohnt. Klingelte man an ihrer TĂŒr und öffneten ihre Eltern, quoll alsbald eine ganze Schar von ihnen â neugierig auf die Welt jenseits der elterlichen Wohnung â in den Flur hinaus. Ebenso entlieĂ an diesem Tag Helgoland Segelboot um Segelboot aus seinem Hafen, den diese nach dem Ende der dortigen Nordseewochen nun wieder gen Heimat verlieĂen. Kleine, weiĂe Segel tanzten uns lustig entgegen, doch keines von ihnen wĂŒrde unseren Kurs tatsĂ€chlich kreuzen, waren sie doch so viel spĂ€ter erst aufgebrochen.
Christian wĂŒrde spĂ€ter sagen, dass wir Helgoland an diesem Tag bis auf acht Seemeilen nahe gekommen waren. Kein Wunder, dass uns allen dieselbe Idee durch den Kopf schwirrte. Könnte man diese Segelreise nicht einfach um ein, zwei Tage auf diesem Eiland im Meer verlĂ€ngern? Könnte man nicht? Man könnte doch vielleicht?
Hatte uns unser erster Schlag dieser Kreuz also weit nach Norden gefĂŒhrt, sollte die Wende kurz hinter Helgoland uns nun direkt in die Ansteuerung auf die Elbzufahrt bringen. Die Wende lief gut, aber schon kurze Zeit spĂ€ter triezte Christian mich, ich solle mich nun endlich entscheiden: Elbe oder Weser. Und in der Tat eierte ich schon eine gewisse Zeitlang mit unserem Boot so vor mich hin. Ich hatte den Wind verloren! Eine Sache, die uns sehr bewusst wurde auf diesem Törn, war der Unterschied, der zwischen, etwas theoretisch verstanden zu haben und es praktisch umsetzen zu können, bestand. Sicher hatte auch ich mittlerweile kapiert, was die berĂŒchtigte Windkante denn wohl sein sollte, an der wir segeln wollten. Aber was brachte einem das, wenn der eben noch so lustig pustende Wind plötzlich weg war oder doch mehr von querab kam als eben noch? Anluven, abfallen, anluven â hundert Mal und mehr spielten wir dieses Spiel mit dem Nordseewind an diesem Tag. WindfĂ€den, Verklicker, Kompass, das Vorliek des Vorsegels â alles gab Hinweise, alles sollte man beachten. Irgendwann war die Konzentration dann futsch, und ich dankbar fĂŒr eine Ablösung.
Cuxhaven lieĂ sich dieses Mal bei Tageslicht schon vom Meer aus begutachten. In Sicht kam auch der Campingplatz auf der Betonplatte, ĂŒber den wir unlĂ€ngst eine Dokumentation im Fernsehen gesehen hatten. Ich bedauerte die Leute dort. Sicher, war der Blick auf die Schiffe schön und interessant. Doch um wie vieles besser war es, sich auf einem solchen zu befinden und diese Tristesse weit hinter sich zurĂŒcklassen zu können?!
Unter Vollzeug rauschten wir schlieĂlich in den Amerikahafen. Christian wollte dort noch schnell unsere WasservorrĂ€te nachfĂŒllen, bevor es noch ein StĂŒckchen weiter elbaufwĂ€rts gehen sollte. Was man nicht alles tat der Tide und des richtigen Windes wegen. Also schnell die Leinen los und weiter.
Eine ganze Reihe Segelboote genoss so wie wir die guten Bedingungen an diesem Abend. Mit vier Beaufort griff der Wind in unsere Genua und trieb uns flott voran. Immer wieder mal mussten wir dem einen oder anderen etwas ausguckschwachen Mitsegler und motorisierenden KapitĂ€n ausweichen. Manche schienen es da ganz wie die Autofahrer zu halten: Vorne ist da, wo ich bin, und wo ich bin, herrscht Vorfahrt. Nun jaâŠ
Unsere Route fĂŒhrte uns an diesem Tag noch bis nach Rhinplatte bei GlĂŒckstadt, wo wir ankern wollten. Knapp hundert Seemeilen hatten wir bis dahin achteraus gelassen, unser bis dahin lĂ€ngster Schlag.
Rhinplatte erreichten wir bei Sonnenuntergang. Dasselbe goldene Licht, das uns am Morgen auf Spiekeroog verabschiedet hatte, nahm uns hier nun wieder in Empfang. Neben uns ankerte noch ein Plattbodenschiff, was in ErgĂ€nzung zum Sonnenuntergang, dem Naturschutzgebiet vor und hinter uns sowie unter gewissenhaftem Ignorieren des AKWs im Norden erneut ein herrliches Postkartenmotiv ergab. Aufmerksam verfolgte ich dieses Mal das Ankermanöver, wĂ€hrend unterdecks bereits die andere HĂ€lfte der Crew mit den Vorbereitungen fĂŒrs Abendessen befasst war. Der Kuckuck rief ĂŒber das Wasser, ansonsten war es still.
Nach dem Essen schauten wir an Deck noch einmal nach dem Rechten und nach den Sternen darĂŒber. Zu hell war es hier, als dass man die MilchstraĂe hĂ€tte sehen können, trotzdem war das Meer der fernen Lichter beeindruckend schön. Jedes einzelne von ihnen eine ferne Sonne mit eigenen Welten. Astronomie war ein Fachgebiet, bei welchem man noch zu Lebzeiten quasi echte QuantensprĂŒnge in den Erkenntnissen miterleben konnte. Als Teenager hatte ich angefangen, mich fĂŒr dieses ferne Lichtermeer zu interessieren â sicherlich auch motiviert durch das Dachfenster meines Kinderzimmers. Damals wusste man nicht, was Quasare sind und hatte mitnichten Belege fĂŒr ferne Planetensysteme gefĂŒhrt. Man hatte sich noch in der Ignoranz der einzig belegten Existenz sonnen können. All das war nun mittlerweile erforscht worden ebenso wie die Landung einer Raumsonde auf dem Nukleus eines Kometen, die im nahen Vorbei- bzw. im Anflug aufgenommenen Bilder von Jupiter und spĂ€ter von Pluto, den Verlust desselbigen als Planeten bedingt durch die Erkenntnis, dass noch so viele andere Objekte seiner GröĂe im anschlieĂenden KuipergĂŒrtel um die Erde ihre Bahnen zogen und so vieles mehr. Alles in diesen wenigen Jahren â wie viel mochte noch vor uns liegen, das wir noch lange nicht erforscht, geschweige denn begriffen hatten?
Ein letzter Blick, dann hieĂ es ab in die Kojen, denn hier unten beherrschte weiterhin die profane Tide unseren Lebensrhythmus.
Sehr bald schon vernahm ich dann wieder die ersten Schritte ĂŒber den Niedergang. Der neue Tag eilte auf uns zu, und wir krabbelten aus den Kojen zum FrĂŒhstĂŒck. Kaffee. Es geht doch nichts ĂŒber einen guten Kaffee am Morgen! Die warme Dusche wurde allseits auf die Marina auf Helgoland verschoben und so ging, fast unbemerkt, der erste in den zweiten Tag auf dem Wasser ĂŒber, als wir, aus Cuxhaven auslaufend, den Amerikahafen mit ohrenzuhaltendem Signalton gen Westen wieder verlieĂen. Das Abenteuer war zum Greifen nah. Vor uns lag die Welt im grauen ersten Morgenlicht: auf zu neuen Entdeckungen!
Der Hochnebel sollte sich halten an diesem Tag. Bisher hatte ich ihn noch gar nicht recht als Problem identifiziert. Die Sonne war nicht zu sehen, aber dass der Nebel tatsĂ€chlich unsere Sicht behinderte, wurde mir erst viel spĂ€ter an diesem Tag bewusst â als wir nĂ€mlich bei der Ansteuerung auf Helgoland irritiert feststellten, dass die Insel von jenem Nebel bis zum allerletzten Augenblick verschluckt und das Grau von Nordsee und Tag einfach in alle Himmelsrichtung gleich blieb. Optisch, ohne elektronische Hilfsmittel, hĂ€tten wir unser Ziel an diesem Tag niemals gefunden. EnttĂ€uscht stellten wir fest, dass das HelgolĂ€nder Leuchtfeuer, von dem wir schon viel gehört hatten, durchaus nicht bereit war, uns den Weg zum roten Felsen im Meer zu weisen. Eines der stĂ€rksten Leuchtfeuer der Deutschen Bucht lag â vermuteterweise â unmittelbar rechtvoraus, aber was nĂŒtzte einem diese Ahnung, wenn es an diesigen Tagen nicht eingeschaltet wurde? Bewundert haben wir das Feuer dann sehr viel spĂ€ter, als wir lange nach dem Anlegen vom Abendessen zurĂŒck zum Schiff strawanzten. Da bot sich uns dann ein beeindruckendes Lichtschauspiel ĂŒber der Insel. Alle fĂŒnf Sekunden griff ein Lichtstrahl hinaus in die unendliche Nacht, verhieĂ Sicherheit und Orientierung â aber fĂŒr die Segler auf dem grauen Meer des Tages lag das noch in weiter Ferner.
In Cuxhaven waren wir zwar alle noch ziemlich mĂŒde, aber allseits guter Dinge und abenteuerhungrig im Cockpit versammelt. Wir wechselten uns am Ruder ab, und unser Schmetterling hatte seine FlĂŒgel zuversichtlich in den Wind aus guter Richtung, aber mit wenig Kraft gestreckt. Wir machten nur mĂ€Ăige Fahrt an diesem Tag.
Eine Weile noch folgten wir dem Fahrwasser der Elbe. Wie anders die Lage dort sein konnte, wurde mir klar, als wir die dortigen Baken sahen. Manchmal sei der Seegang so hoch, dass man die regulĂ€ren Tonnen schlicht nicht mehr entdecken könne, da wĂ€ren die Baken die einzige optische Hilfe zur sicheren Navigation, jenseits der Technik versteht sich, erklĂ€rt uns unser Skipper. Schwer vorzustellen, dass man die mehrere Meter hohen Tonnen, die uns den bisherigen Weg ĂŒber so sicher die Elbe abwĂ€rts begleitet hatten, nicht wĂŒrde sehen können. Aber klar hatten sie uns auch vorher schon davon erzĂ€hlt, dass schon Wind gegen Strom an dieser Stelle reichte, um die See bis zu sechs Meter und mehr Höhe aufzutĂŒrmen. Einen Sturm brauchte es zu diesem Zweck noch gar nicht. Ob sie bei schlechtem Wetter auch nach Helgoland auslaufen wĂŒrden, hatten wir schon Wochen zuvor tolldreist und ich auch zugegebenermaĂen Ă€ngstlich von Robert wissen wollen. Er hatte uns mit der langen Erfahrung seiner Skipper beruhigt, und nun prĂ€zisierte Christian das ganze: klar, wĂŒrden sie erst mal auch bei eher suboptimalen Bedingungen auslaufen, wenn die Crew das so entschied. SchlieĂlich war er ja kein schlechter Skipper. Mit einem Augenzwinkern fĂŒgte er hinzu, dass die meisten dann doch sehr schnell sehr dankbar fĂŒr seinen Hinweis seien, dass man in der Elbe auch da und dort ein paar schöne ruhige Stunden verbringen könne. Das Umdrehen fiele dann entsprechend leicht…
FĂŒr uns gab es, Gott sei Dank, keine Probleme solcher Natur â eher ein wenig vom Gegenteil, also zu wenig Wind fĂŒr GroĂ und Genua. DafĂŒr war das Ruder simpel und anfĂ€ngergeeignet und so stand ich an diesem Tag gleich mehrere Stunden am Steuerrad, stolz wie Bolle und strahlend vor GlĂŒck, wĂ€hrend uns der Strom gemĂ€chlich mit nach Helgoland nahm.
Zwei weitere Segelboote sahen wir unterwegs. Schnittig ĂŒberholte uns der Segelmacher aus Stade und war schon weit auf der grauen See voraus, als ich endlich meinen Fotoapparat aus der KajĂŒte geholt hatte. Am Horizont zog dann und wann die FĂ€hre vorbei â ansonsten nur graue See soweit das Auge reichte. Nachdem unser Navigationsteam beschlossen hatte, ich solle 315 Grad steuern, kehrte allgemein Ruhe ein, und der eine oder andere verlĂ€ngerte die viel zu kurze Nacht auf der Hundekoje im Salon. Ich blieb derweil oben, ich blieb am Ruder. Mangels Wind kĂ€mpfte unsere Gib Sea in den Wellen der Strömung â hĂŒpfte mal nach Steuerbord, dann wieder nach Backbord. Ich bemĂŒhte mich um entsprechende Kurskorrekturen und lauschte dem PlĂ€tschern des Wassers. Die Stunden verstrichen auf dem gleichmĂ€Ăig grauen Meer. Die letzte Tonne hatten wir schon vor Stunden passiert und eigentlich sollte doch langsam eine rote Insel am Horizont erscheinen. Hatten wir etwa falsch navigiert? Wo waren denn die Boote geblieben, die uns unlĂ€ngst noch ĂŒberholt hatten? Sollten wir die nicht sehen können? In Mitten dieser Fragen erschien Christian wieder an Deck und wies die lĂ€ngst ĂŒberfĂ€llige Kurskorrektur an. Backbord, mehr nach backbord â schlieĂlich wollten wir doch nicht an Helgoland vorbei fahren!
Auch der Rest der Crew erschien nun nach und nach wieder an Deck, und es entbrannte ein kleiner Wettkampf darĂŒber, wer wohl als erstes Land â sprich: Helgoland â aus dem Nebel auftauchen sehen wĂŒrde. Schon bald wurde spekuliert, ob nicht dieser oder jener Umriss… Ich kniff die Augen zusammen und starrte in die angegebene Richtung. Aber, nein, fĂŒr mich blieb das Grau einfach das, was ich schon den lieben langen Tag vor der Nase gehabt hatte, nĂ€mlich grau. Ausguck wĂŒrde also eher nicht meine SpezialitĂ€t, beschloss ich, als sich die angegebene Wolkenbank dann schlieĂlich doch in die ersehnte Insel auflöste. Dass wir unser Ziel definitiv erreicht hatten, wurde mir klar, als uns ein kleiner Schmetterling von der Insel begrĂŒĂte. Lustig umschwirrte er das Rigg unseres Bootes, und dieser auf dem Wasser eher surreale Anblick konnte nur heiĂen, dass das Land nicht mehr fern war.
Cool wĂ€re es ja, wenn man unter vollen Segeln in den Hafen einliefe, erklĂ€rte unser Skipper Sylke, die das Ruder ĂŒbernommen und sich fĂŒrs Anlegemanöver bereit erklĂ€rt hatte. Aha. Also mit vollen Segeln in den Hafen hinein und dann blitzschnell alles zum Festmachen fertig machen. Das GroĂ hatten wir eingeholt, aber wohin bloĂ mit unserem Boot? Ein Schwimmsteg dĂŒmpelte einsam an einer Leiter gut zwei Meter unterhalb der Kaimauer. Unsere Begeisterung fĂŒr diese Option war endlich, und alles war froh, als Christian entschied, mit einem der bereits vertĂ€uten Schiffe am Bootssteg gegenĂŒber ins PĂ€ckchen zu gehen. Fender hingen nur bei diesem einen Boot an der richtigen Seite, also steuerbords einladend fĂŒr uns. Sie steckten in gehĂ€kelten SĂ€ckchen. Noch dachten wir uns nichts dabei, galt doch die Regel: Fender an der freien Seite, also keine EinwĂ€nde gegen weitere mĂŒde Segler auf der Suche nach einem Liegeplatz fĂŒr die Nacht. Das war jedenfalls unser Kenntnisstand der guten Seemannschaft, wie man so schön sagte. Doch hatten wir diese Rechnung ohne den Wirt â Pardon, ohne den Eigner gemacht, der â als ihm klar wurde, worauf unser Manöver hinauslaufen sollte â sehr ungehalten aus seiner Kuchenbude herausschnaubte, uns eindringlich Richtung besagt meterhoher Hafenleiter verwies. Die Crew blickte ihn, dann sich, dann ihn betroffen und verstĂ€ndnislos an. Zu unser aller GlĂŒck wurde das dann zu einer Angelegenheit zwischen SchiffsfĂŒhrern erklĂ€rt. Christian wechselte einige sehr höfliche Worte mit dem Herren, der â oh schau‘ und guck‘ â seine Meinung innerhalb weniger Minuten vollstĂ€ndig Ă€nderte. Unser Skipper war ein wahrer Diplomat! Wir machten also fest und noch wĂ€hrend die letzten Leinen vertĂ€ut und Klampen belegt wurden, schĂ€rfte er uns ein, dass An-Land-Gehen fĂŒr uns nun hieĂe, ĂŒber das Vorschiff des Nachbarn wie barfĂŒĂige â nein, wie schwebende, barfĂŒĂige Elfen hinweg zu gleiten. Aye, aye, Herr KapitĂ€n! Aber noch bevor wir diese grazile Meisterleistung allseits ausprobieren konnten, gab es ein fĂŒr uns alle unerwartetes Hallo. Es traf Roberts zweite Yacht, die âHamburg Expressâ, von ihrem Törn ĂŒber die Nordfriesischen Inseln auf Helgoland ein und machte, na klar, an unserer Steuerbordseite fest. Das wĂŒrden viele Elfen werden in dieser Nacht…
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich lĂ€ngst beschlossen, dass mein erster Gang an Land mich ins, nein, unters Wasser fĂŒhren wĂŒrde. Und die heiĂe Dusche im Seglerheim der dortigen Marina genoss ich dann lange in ausgiebigen ZĂŒgen. Dann war es Zeit fĂŒr die Inselerkundung und den notorisch ĂŒberfĂ€lligen Abgleich der Geografie mit meiner lĂŒckenhaften Erinnerung. Das war dann der einzige Moment wĂ€hrend dieses Törns, zu dem ich den spĂ€t im Jahr gelegenen Segeltermin aufrichtig bedauerte, denn der Abend war schon lĂ€ngst hereingebrochen, und unser Rundgang ĂŒber die Insel musste flux im letzten Licht der schon untergehenden Sonne erledigt werden. Diese hatte sich nach der grauen Suppe, die uns den ganzen Tag ĂŒber begleitet hatte, nun endlich auch fĂŒr ein kurzes Zwischengastspiel aus ihrem Wolkenbett erhoben, nur um sich umgehend zwecks nĂ€chtlicher VergnĂŒgungen auf der anderen Seite wieder zu verabschieden. Doch versĂŒĂte sie uns unsere Ankunft fĂŒr einen Moment noch mit einem schönen Abendrot. Wochen spĂ€ter hörte ich dazu eine nette Anekdote im Radio, die hier kurz eingefĂŒgt sei.
In der Zeit, als Helgoland sein Dasein als deutsches Seebad entdeckte, seufzte offenbar recht herzerweichend die eine oder andere Dame ĂŒber eben jenen Sonnenuntergang auf der roten Insel, welcher auch uns einen einen so schönen Empfang bereitet. Die RĂŒhrung ging so weit, dass jene, die sich zu anderen Zeiten selbst fĂŒr eben jene emotionale Seite der Damenwelt schon von Berufswegen stark erwĂ€rmen konnten, also die deutschen Dichter, fanden, dass des Guten denn langsam aber sicher doch genug getan sei. In diesem Sinne schrieb Heinrich Heine auf dieser Insel die folgenden hĂŒbschen Zeilchen:
Das FrÀulein stand am Meere
Das FrÀulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rĂŒhrte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein FrÀulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes StĂŒck;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurĂŒck.
(Heinrich Heine, 1832)
Wie gesagt, auch uns begrĂŒĂte nun dieses schöne Abendrot, das so gut zu dieser Insel und farblich auch zu ihrer Flagge passen wollte: grĂŒn wie die Wiesen, rot wie der Stein und weiĂ wie der Sand. Pflichtschuldig hatten wir diese natĂŒrlich lĂ€ngst unter der Steuerbordsaling gehisst.
Helgoland ist wahrlich keine groĂe Insel und sicher kein guter Ort, um sich mit jemandem im Streit zu entzweien. Man wird sich dort nicht lange aus dem Weg gehen können! Zwar mahnte uns die anbrechende DĂ€mmerung zur Eile fĂŒr unsere Besichtigungstour, allerdings hĂ€tten wir auch bei besseren Lichtbedingungen nicht viel mehr als die letztlich benötigte gute Stunde fĂŒr den Rundgang ĂŒbers Oberland gebraucht. Jenseits des Ărtchens gibt es nur Wiesen und den roten Fels, der zu allen Seiten schroff ins Meer hinab abfĂ€llt. Markant thront der Leuchtturm, beheimatet in einem alten Flakleitstand, und damit sind wir auch schon beim dunkelsten Kapitel dieser Insel angekommen, welches es, wenn man all die fein sĂ€uberlich vom lokalen Tourismusverband angebrachten Infotafeln ĂŒber die Inselgeschichte auf jener Rundtour gelesen hat, umso erstaunlicher machte, dass dieser Felsklotz im Meer ĂŒberhaupt noch vorhanden und nicht einfach zu jener Fata Morgana geworden war, der wir mittags noch nachgejagt waren.
Schaut man sich diese Insel auf einer Karte an, hat ihre Form etwas Krabbenartiges. Weite Scheren reichen hinaus ins Meer und scheinen die Boote einzufangen, die spĂ€ter in ihrem Hafen festmachen. Dies und die weitlĂ€ufigen Wellenbrecher am nordöstlichen Ufer, welche die FelsenkĂŒste und die Lange Anna umschlieĂen, verleihen dem Aussehen der Insel etwas Martialisches. Kein Vergleich zu den Wanderoasen und Touristenfallen anderer Eilande, die wir bisher besucht hatten.
Jenseits dieser an Festung, MilitĂ€r und entsprechende Historie gemahnende ĂuĂerlichkeit der roten Insel im Meer wartete diese aber auch mit einer noch ganz anderen, mir deutlich sympathischeren Eigenart auf: den Lummenfelsen. NatĂŒrlich fĂŒhrte uns unser Weg ĂŒber das Oberland â artig dem Touristen-, aber eben auch dem einzigen Inselpfad folgend â zunĂ€chst zur Langen Anna, der Felsnadel im Meer. Trotz spĂ€ter Stunde und Jahreszeit waren wir am dortigen Aussichtspunkt lĂ€ngst nicht die einzigen Besucher. Fotos wurden massenweise geschossen, sodass Alexander witzelte, dass von den vielen Fotostativen schon Löcher in den Felsen gebohrt worden sein mĂŒssten. Menschen sind nun mal Herdentiere und als solche auch immer wieder selbst ein interessantes Beobachtungsobjekt. So ruhte mein Blick zunĂ€chst auf ihnen, um dann â das Interesse war geweckt â zu erkunden, was sie wohl so Faszinierendes an der Steilwand unter uns betrachteten. Ich gebe zu, solche Blicke in die Tiefe gehören nicht gerade zu meinen LieblingsbeschĂ€ftigungen. Höhenangst hat mich schon immer geplagt â sehr zum Leidwesen Alexanders, dem dadurch der eine oder andere Berggipfel entgangen ist, den zu erklimmen ich mich auf Grund besagter weicher Knie an abfallenden HĂ€ngen nicht im Stande gesehen hatte. Ungebrochener Spitzenreiter in dieser Kategorie der Fast-bestiegenen-Berggipfel ist dabei nach wie vor der Goatfell auf Arran. Waren wir schon drei Mal fast oben oder vier? Aber das ist eine andere Geschichte…
Auf Helgoland blieb mein Blick in die Tiefe glĂŒcklicherweise bereits nach wenigen Metern, zusammen mit den dort nistenden Basstölpeln, am Felsen hĂ€ngen. Eine ganze Kolonie lebte dort. Auch sie hatte ich schon auf besagter schottischer Insel gesehen, aber immer nur in Form am Himmel kreisender EinzelkĂ€mpfer ĂŒber der Bucht in Brodick, die sich dann urplötzlich, kamikazeartig ins Wasser fallen lieĂen, grazil eintauchten, um nur Minuten spĂ€ter wieder neue Kreise am Himmel ĂŒber der Bucht zu ziehen. Ein, zwei Vögel hatte ich auf diese Weise auf Arran beobachtet, auf Helgoland saĂ nun ein gutes Dutzend nur wenige Meter von meinen FĂŒĂen entfernt auf dem Felsen â wobei sicher nicht nur mir, sondern ebenso den Vögeln klar gewesen sein muss, dass sie dort fĂŒr alle menschlichen Dummheiten unerreichbar waren. Basstölpel sind interessante, aber keine besonders schönen Vögel. Ihr Kopf ist ihrem Jagdverhalten optimal angepasst. Sie sehen aus, als trĂŒgen sie Gummimasken ĂŒber ihren Köpfchen: der lange Schnabel, die dunkel umrĂ€nderten Augen blicken stets streng. Wie die meisten Seevögel folgt ihre Gestalt sicher keinem Kindchenschema, das sie im Auge des Betrachters zu Kuschelobjekten degradieren wĂŒrde.
Leider bewahrheitete sich bei dieser Beobachtung auch noch etwas anderes, von dem ich bisher nur medial erfahren hatte: Ihre Nester, die eng in den Felsen geschmiegt lagen, leuchteten bunt in der Abendsonne. Rot und blau. Vor allem Nylonseile, StĂŒcke von Fischernetzen und anderer Plastikunrat bildeten ihr Zuhause. Gehört hatte ich schon davon. Auch davon, dass sich die Jungen der Lummen regelmĂ€Ăig bei ihren waghalsigen SprĂŒngen ins Meer in diesem Unrat erhĂ€ngten. Aber die schiere Menge an MĂŒll zu sehen, den die Vögel hier zusammengetragen und nichtsahnend ob der GefĂ€hrlichkeit fĂŒr den eigenen Nachwuchs zu Nestern verbaut hatten, war doch recht beklemmend und bestĂ€rkte mich erneut im eigenen Vorhaben, Plastikverpackungen weitestgehend zu vermeiden. Es braucht keine Plastikstrudel im Pazifik, um einem die Notwendigkeit vor Augen zu fĂŒhren, sein eigenes MĂŒllverhalten nachhaltig zu ĂŒberdenken.
Nachdenklich gestimmt machten wir uns auf den RĂŒckweg. Der Abend sollte in der âBunten Kuhâ ausklingen, und ich wartete sehnlichst darauf, dass es endlich soweit war. Nicht weil ich diesen Tag beschlieĂen wollte, nein, das sicher nicht, aber ich hatte Hunger wie ein SeebĂ€r! Als besagter Quotenvegetarier der Runde machte ich mir wenig Illusionen ĂŒber die Auswahlmöglichkeiten des Essens. Reisen an die KĂŒste bedeuteten Fisch in allen möglichen Variationen. Reisen ĂŒber das Meer wĂŒrden da keine groĂe Ausnahme mache. Erfreut nahm ich schlieĂlich zur Kenntnis, dass auch seltsamen Leuten wie mir eine Wahl zugesprochen wurde, immerhin gab es also ein Entweder-Oder auf der Karte. Ich entschied mich fĂŒr das Oder und beschloss, dieses um die aufgefĂŒhrte Tomatensuppe zu ergĂ€nzen. Ja, ich hatte wirklich Hunger!
In der âBunten Kuhâ trafen wir nicht nur den Rest von unserer Crew wieder, sondern auch die Leute von der âHamburg Expressâ. Zusammen fĂŒllten wir die Seglerkneipe am Hafen gut aus. Die wohlgemeinte Idee, uns so zu platzieren, dass beide Crews gemeinsam an einem Tisch Platz fanden, wurde angenommen, die zu Grunde liegende Intention, die jeweils anderen besser kennenzulernen, erkannt und â ignoriert. Nachdem die wesentlichen Fragen nach woher, wohin und wie war das Wetter, geklĂ€rt waren, blieb man unter sich.
Selten hatten wir die BefĂŒrchtung ĂŒber möglicherweise zu kleine Portionen mit solcher Ernsthaftigkeit erwogen, wie im Vorwege des Mahles an diesem Tisch. Lange hatte ich nicht mehr mit solch einem Appetit gegessen. Segeln machte hungrig, keine Frage! Letztlich erwiesen sich alle unsere BefĂŒrchtungen aber als unbegrĂŒndet. Sogar die als lokale SpezialitĂ€t und eigentlich als Vorspeise angekĂŒndigten âKnieperâ â Krebsscheren mit verschiedenen Dips und Brot serviert â die Holger kosten wollte, fĂŒllten in zufriedenstellender Weise die SeglerbĂ€uche. Aber noch bevor die sich absehbar ankĂŒndigende SchlĂ€frigkeit nach gutem Essen und viel frischer Luft vollstĂ€ndig von uns Besitz ergreifen konnte, war noch die Frage nach dem ebenfalls angepriesenen Eiergrog zu klĂ€ren. Unser Skipper riet zum Probieren, um rauszufinden, was es damit wohl auf sich habe, hielt sich ansonsten aber eher bedeckt und zurĂŒck, was dieses GetrĂ€nk betraf. Nach dem ersten Schluck war mir auch sofort klar, warum. Ich musste unwillkĂŒrlich daran denken, dass Christian zu Beginn unseres Törns â nicht ohne Stolz in der Stimme â erzĂ€hlt hatte, dass bei ihm noch nie jemand ĂŒber Bord gegangen sei. Allerdings sei es durchaus schon vorgekommen, dass der eine oder andere auf Helgoland vom Steg gefallen wĂ€re. Kein Wunder! Ich hatte den Eindruck, gerade puren aufgekochten Alkohol durch einen dĂŒnnen Strohhalm zu schlĂŒrfen. Eindringlich war ich in der Folge darum bemĂŒht, dieses seltsame GetrĂ€nk mit Alexander zu teilen, der wohlweislich von einer eigenen Bestellung abgesehen hatte.
Auf dem RĂŒckweg zum Boot schoss das Leuchtfeuer der Insel seine weiĂen Strahlen in den pechschwarzen Himmel. Wir bewunderten es alle. Heute frage ich mich, wie viele von uns sich in diesem Moment wohl gewĂŒnscht haben mögen, es hĂ€tte uns tagsĂŒber auch schon den Weg gewiesen. Ich dachte es jedenfalls sofort. Wie leicht hĂ€tte man doch an diesem winzigen Felsen einfach vorbeisegeln können, ohne es zu merken â vorausgesetzt natĂŒrlich, dass man das GPS nicht konsultierte. Und was fĂŒr eine Leistung war die Seefahrt vor noch ein paar Jahren gewesen, als all diese Technik nicht zur VerfĂŒgung gestanden hatte. Wieder war ich selig im Bewusstsein, gerade ein echtes Abenteuer zu erleben.
Leider und trotz Eiergrog fand ich auch in dieser zweiten Nacht auf dem Boot keine rechte Ruhe. Unsere KajĂŒte lag steuerbords zur âHamburg Expressâ, und unsere Fender rollten lustig zwischen den beiden Booten an der Bordwand entlang, hin und her und her und hin und hin und her…