Tag 4: Pagensand – Wedel – Finkenwerder
Am nächsten Morgen führte mich mein erster Weg hinauf ins Cockpit, um zu erkunden, wo wir in der vergangenen Nacht eigentlich gelandet waren. Oben erwartete mich ein fantastischer Sonnenaufgang über der menschenleeren Bucht. Das andere Segelboot, das mit uns hier geankert hatte, trieb noch verschlafen und stumm in einiger Distanz zu uns, und die Sonne stieg in einen strahlend blau gewaschenen Himmel empor. Was für ein Anblick! Jeder Augenblick dieses Segeltörns war interessant und spannend gewesen, die Milchstraße über der nächtlichen Elbe kolossal beeindruckend, aber nichts hatte ich bisher als so schön empfunden wie diesen anbrechenden neuen Tag in unserer Ankerbucht, die nur einen Steinwurf vom Hauptfahrwasser der Elbe entfernt lag und doch wie eine ganz andere Welt wirkte.
Der Duft von Kaffee und das Geklapper von Frühstücksgeschirr holte mich schließlich zurück in unseren gemütlichen Salon, wo fleißige Geister zwischenzeitlich für ein opulentes Mahl zu Beginn und Feier des neuen Tages gesorgt hatten. Während draußen also mit der Sonne ein Spätsommertag im Oktober seinen verheißungsvollen Anfang nahm, wurde drinnen ausgiebig geschmaust, waren wir alle doch lange vor der verabredeten Zeit aufgewacht. Während die Crew den Sonntagmorgen also in aller Gemütlichkeit wie einen Sonntagmorgen begann, packte unseren Skipper der Ehrgeiz – da war ja immer noch die Sache mit der Regatta. Erstaunt schauten ihm also sieben Augenpaare vom Salontisch dabei zu, als er an Deck begann, das Boot klar zu machen, die Segel setzte und dann – alle Positionen scheinbar gleichzeitig bedienend – uns zurück ins Elbfahrwasser manövrierte. Man konnte die „Helgoland Express“ also auch alleine segeln – man konnte. Wir beschlossen, dass es mit Mannschaft dann aber vielleicht doch mehr Spaß machen würde und beeilten uns, ihm zu Hilfe zu kommen.
Den Moment der Frühstückszubereitung hatte ich an diesem Tag glorreich verpasst, daher entschied ich, die Nachsorge zu übernehmen und eilte mich, den Tisch leer und das Geschirr wieder sauber zu bekommen, damit wir den morgendlichen Landwind voll ausnutzen konnten, ohne dass Tassen und Teller durch die Gegend flogen. Wie gesagt, der Wetterbericht dräute nach wie vor mit totaler Flaute und ein Stückchen Weg war es bis zu unserem Heimathafen in Finkenwerder dann schon noch.
Endlich hatte ich alles soweit klarschiff. Unser Skipper war zwischenzeitlich längst wieder zum gewohnt ruhigen Navigator geworden und nun, zum Abschluss der Reise, brachte er noch eine kleine Bastelarbeit aufs Tableau. Die Seekarten waren noch zu berichtigen. Klebstoff, Schere, NfS, Karten und der Ruf nach Freiwilligen standen schnell im Raum. Erstaunt stellte ich fest, dass unsere Crew, die sonst keine Aufgabe scheute, sich allgemein bedeckt zu halten versuchte, was diese Arbeit anbelangte – sie drückten sich vor der ‚Fuddelarbeit‘, wie Christian es so schön nannte.
Karten hatten mich schon immer fasziniert. Gerne ließ ich mich daher in die Bastelei einweisen und klebte bald wie ein Weltmeister. Beharrlich gebe ich auch heute noch den Papierkarten den Vorzug vor all den elektronischen Geräten, die man sonst so mit sich herumschleppen kann. Sicher, es war praktisch, dass Alexander mir „Openstreetmap“ auf meinem Smartphone installiert hatte. Aber wenn man mir die Wahl lässt, nehme ich tausendmal lieber die gedruckte Karte zur Hand. Gerne erinnere ich mich an die Begebenheit in Aberdeen, wo ich vor Jahren an einer Konferenz teilgenommen hatte. Einer meiner ersten Wege dort hatte mich noch am Flughafen in die Buchhandlung geführt, um einen Stadtplan zu erwerben. Der letzte Tag der Veranstaltung ließ einige schöne Stunden am Nachmittag frei, und alle, die bis zum Schluss geblieben waren, nutzten die Gelegenheit zur Erkundung der schottischen grauen Stadt am Meer. Auch ich zog los, lief hier hin und dort hin und traf nach einer Weile auf zwei bekannte Gesichter, die offensichtlich froh waren, ein selbiges in dieser Stadt zu sehen. Ob ich wohl wüsste, wie man zu jener Klippe am Meer kommen könne? Dort gäbe es angeblich Delphine zu bestaunen… Ich zückte also meine Karte und fing an zu erklären. Die beiden grinsten, als sie meinen Stadtplan sahen. ‚Well, we are men. We don’t buy maps.‘ Nur gut, dass sie zwischendurch auf Frauen mit Karten in Taschen trafen…
Nach all dem Regen der vergangenen Nacht verwöhnte uns nun die Sonne umso reichlicher. Es war kaum zu glauben, dass wir tatsächlich schon Oktober hatten. Schicht um Schicht der Seglerklamotten verschwanden wieder unter Deck. In T-Shirt und kurzer Hose würde unser Skipper schließlich mit uns im Hamburger Hafen einlaufen. So schön und unvermutet das plötzliche Sommerwetter war, so leidvoll und missmutig erwartet war die Flaute, die uns – wie angekündigt – nach wenigen morgendlichen Momenten des Seglerglücks einholte. Die restlichen Seemeilen ließen wir uns also mehr als gemütlich vom Strom nach Hause schieben. Immer öfter begegneten uns dabei unterwegs andere Segelboote, die unerschrocken im sonntäglichen Vergnügen auf dem Fluss dahin dümpelten.
Spannend wurde es noch einmal am Wedeler Yachthafen, wo unser Skipper schnell noch auf dem Weg unsere Wasservorräte wieder aufstocken wollte. Die Segel wurden eingeholt, der Diesel gestartet. ‚Jetzt bloß nicht langsamer werden, sondern Augen zu und durch‘, gab Christian mir vor der Einfahrt in den Hafen mit auf den Weg, bevor er das Schiffshorn aufheulen ließ. Zu langsam und der Strom würde uns unweigerlich gegen die Molenköpfe drücken, die quer zum Fluss lagen – ganz einfach. Etwas beklommen steuerte ich also artig auf den schmalen Durchgang im Flutschutzwall zu – und durch. Geschafft! Einen Moment später stand Christian dann hinter mir am Achterstag und dirigierte mich an den Steg, an dem die Wasserversorgung auf uns wartete. Ohne Probleme legte ich an und war verblüfft über den Applaus der Crew, hatte ich doch bloß gemacht, was unser Skipper mir vorgesagt hatte. In meinem Seminarraum wären die Studis, die so brav nachplapperten, was ihre Kommilitonen ihnen einsagten, wohl schlicht von mir abgekanzelt worden. Unwillkürlich musste ich an die Szene aus der „Feuerzangenbowle“ denken: ‚Es saßen die Goten ursprünglich in Schweden.‘ ‚Und von dort gingen sie?‘ ‚Von dort gingen sie in die Gegend von Danzig. Und von da gingen sie dann nach Russland. Und von da nach … und da wussten sie eigentlich nicht so recht was sie machen sollten. Und äh – und zerfielen dann in die Ostgoten und die Westgoten.‘ ‚Gut, Kniebe. Sie können sich setzen. Vier.‚ ‚Wieso vier, Herr Doktor? Ich habe doch alles gekonnt. Ich hätte eigentlich ’ne zwei verdient.‘ ‚Zwei bekommt Pfeiffer.‘ Was hatte ich anderes getan, als meinem Einsager auf eben solche Weise zu folgen? Andererseits, hatte ich nicht soeben ein 14-Tonnen-Schiff sanft an den Steg gelegt?!
In Wedel erwartete uns noch eine weitere Überraschung – jedenfalls die Crew war erstaunt, unser Skipper hatte das sicher längst auf dem Plotter gesehen und gewusst: Etwas weiter drinnen im Hafen lag die „Hamburg Express“ – bunt betucht mit allen Handtüchern und dem Ölzeug, das die Crew zum Trocknen in die Sonne gehängt hatte. Im Vorbeifahren wechselten die beiden Skipper zwei schnelle Wörter, dann ging es für uns auch schon weiter nach Finkenwerder. Wir hatten sie überholt! Und nun dümpelten wir höchst zufrieden mit gut zwei Knoten Fahrt unserem (ersten) Regattasieg entgegen.
Die Elbe füllte sich zwischenzeitlich weiter mit immer neuen Sportbooten, von denen allerdings allein die Motorboote Fahrt machten. Uns war das egal. Wir räkelten uns faul in der Sonne, trockneten uns und unsere Schuhe vom Regen des vorherigen Abends und genossen die Aussicht. Blankenese vom Wasser aus gesehen ist schon etwas Besonderes. Sicher, schön war das Treppenviertel, schön war der Elbstrand – besonders geheimnisvoll, wenn im Frühjahr die Osterfeuer an beiden Flussufern in den Himmel loderten. Doch nichts ließ sich damit vergleichen, diese Stadt aus dem Cockpit eines gemütlich dahin schippernden Segelbootes zu betrachten, wie sie an einem vorbeizog: die Leuchttürme, der Strand, das Treppenviertel mit seinen Villen und reetgedeckten Kapitänshäuschen…
Am Mühlenberger Loch wartete dann die „Alexander von Humboldt“ auf uns. Also, sie wartete natürlich nicht direkt auf uns, war dort aber mal wieder fleißig mit Baggerarbeiten im Elbschlick beschäftigt – ein Koloss von einem Arbeitsschiff. Und auch wenn es für sie und ihre Crew natürlich darum ging, diesen herrlichen Sonntagvormittag mit Arbeit zu verschwenden, setzte sich bei uns der Eindruck fest, sie habe dort nur auf unsere Ankunft gewartet. Denn kaum waren wir mit dem Strom an ihr vorbeigetrieben, setzte sie sich ebenfalls in Bewegung, schloss auf und folgte uns beharrlich die letzten Meter bis Finkenwerder. Aus dem Funkgerät plärrten die Absprachen mit den Lotsen im Hafen, und es wurde deutlich, dass sie nur zu gerne diese Sonntagssegler – also uns – aus dem Weg haben wollte. Vom Rüschpark her sauste schließlich ein Jetski auf uns zu. Christian grinste nur über unsere erstaunten Gesichter. ‚Das ist Thor‘, als wäre damit schon alles gesagt. Sie wechselten ein paar Wörter über das Wasser hinweg, und der Lotse drehte wieder ab. Offenbar erklärte er der „Alexander von Humboldt“ dann die Lage, also dass wir schon wüssten, wohin wir wollten und nicht nur Wissen, sondern – zumindest mit Christian – auch das nötige Können an Bord hätten. Wir schipperten also weiter mit unserem dicken Pott als Begleitung.
Schließlich kam Roberts Steg in Sicht. Also Maschine an und Segel geborgen. Alexander legte ein letztes Mal an. Das letzte Ankerbier dieses Törns genossen wir dann im Schatten der „Alexander von Humboldt“, die mit ihrem Krach dafür sorgte, uns daran zu erinnern, dass wir wieder in der Großstadt angekommen waren.
Selten war ich in meinem Leben so müde, wie am Ende dieses Törns. Selten aber auch so glücklich…
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