„O die See …“
Spiekeroog-Törn Mai 2018
Inhalt
- Vorbereitungen
- Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven
- Tag 2: Cuxhaven – Spiekeroog
- Tag 3: Spiekeroog: Regattatraining und Old Laramie
- Tag 4: Spiekeroog: 61. Seestern-Gedächtnis-Regatta
- Tag 5: Spiekeroog – Cuxhaven – Rhinplatte
- Tag 6: Rhinplatte – Wedel – Finkenwerder
Vorbereitungen
Dieser Törn begann mit zwei Paar Seestiefeln in unserer Küchenspüle. Mein Freund, ganz Physiker, hatte diverse Testberichte konsultiert, um das passende Paar für unseren anstehenden Nordsee-Törn zu erwerben. Nur knapp zehn Grad verhieß das Meer uns in diesem Mai, da waren kalte Füße sicher, sollten die Wellen schwappen und was anderes sollten Wellen auch schon tun? Gesagt getan. Unser Beschluss stand schnell fest, unser Segelequipment entsprechend aufzustocken. Eigentlich gehört Alexander ja zur Fraktion der Theoretiker, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb lässt er sich den Spaß an einem echten Experiment nur selten verleiden. Also wanderten unsere Stiefel nach dem Kauf umgehend, beschwert mit jeweils einer Literpackung Milch im Schaft, ins Wasserbad in unserer Spüle. Ich hatte Glück, meine hielten dicht. Alexander dagegen leerte bei insgesamt drei aufeinander folgenden Versuchen Mal um Mal seine Stiefel aus. Interessanterweise lief dabei stets der rechte Schuh voll Wasser, beim letzten Paar goss er schließlich eine ganze Kaffeetasse voll zurück in die Spüle. Die Verkäuferin beim örtlichen Yachtausstatter guckte nicht schlecht, als wir innerhalb von nur einer Woche und, wohlgemerkt, bei strahlendem Sonnenschein nun beinahe täglich bei ihr vorbeischauten, um Paar um Paar zu tauschen. Sie tat es verwundert, aber ohne Einwände. Erst die vierte Ausgabe kam ihrer Stiefelpflicht dann schuldig nach und durfte uns in der Folge auf den Törn begleiten. Knoff-Hoff!
Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven
Als Kind habe ich mit Begeisterung „Die Acht vom großen Fluss“ gelesen – eine Jugendbuchserie ähnlich wie „Die fünf Freunde“, nur eben drei mehr und ohne Hund, dafür aber mit Elbe. Heute, so viele Jahre später, bin ich nun selbst Teil eines großen Abenteuers auf diesem Fluss – oder, besser gesagt, fühle mich als ein solcher – der uns ohne große Umschweife hinaus in alle Weiten der Welt tragen konnte. Leinen losgeworfen, Segel gesetzt und schon ist man mitten drinnen in dieser herrlichen Erzählung von Freiheit und Abenteuer…
Diese Geschichte könnte ihren Anfang am besten in ihrem Ende nehmen, in diesem Ende am Dienstagvormittag nach Pfingsten auf der Elbe kurz hinter Wedel. Ich sitze auf dem Steuerbordsüll unserer „Helgoland Express“ und starre in die Ferne, deren Teil wir gerade noch gewesen waren. Wehmut – klingt vielleicht kitschig, war aber das richtige Wort für diesen Moment. Wehmut bei der Einsicht, dass in demselben Maße, in dem das Fahrwasser der Elbe immer schmaler, auch unser Leben wieder enger und enger wurde. Noch ein paar kurze Stunden, dann würden wir wieder als jene Anzugträger von Bord gehen, als welche wir gekommen waren, bevor wir – dazwischen – was wurden?
Ich habe es immer übertrieben gefunden, Freiheit als ein Gefühl zu bezeichnen. Nein, der rationale Teil von mir hatte es auch für sachlich schlicht falsch erklärt. Freiheit ist ein Zustand mit zwei wichtigen Bestandteilen, nämlich der Abwesenheit von Zwang und dem Vorhandensein von Möglichkeiten, aber eben sicher kein Gefühl – soweit also die Ratio. Aber waren wir nicht alle auch fehlbar? Und wenn ich eines mit den vergangenen fünf Tagen auf diesem Boot verband und wenn es eines gab, dem ich nun, in die Ferne starrend, nachtrauerte, dann war es genau das – das Gefühl von Freiheit, das plötzlich möglich erschien. Das, was uns aus diesem ein- und festgefügten Dasein für Momente herausgehoben und uns die Welt von oben gezeigt hatte, wie Carl Sagans zweidimensionale Wesen nach einem unvermuteten Luftsprung plötzlich in der dritten Dimension das Innerste ihrer Genossen erspähen konnten – so einfach ließ sich das Unvorstellbare erklären. Das war Freiheit, und genau diese sah ich nun in der Ferne entschwinden, denn vor uns lag die Stadt mit ihren Jobs, Rechnungen, Versicherungen und all dem anderen. ‚Doch eines können sie uns nun nicht mehr nehmen‘, dachte ich später, ‚und das ist der Sand in den Schuhen von Spiekeroog…‘
Tag 2: Cuxhaven – Spiekeroog
Leider kann Freiheit auch bedeuten, dass einem schlecht wird und zwar so richtig schlecht. Das traf fast die ganze Crew auf dem ersten langen Schlag dieser Reise von Cuxhaven nach Spiekeroog. ‚So ist das also, wenn man seekrank ist‘, dachte ich noch und dann hing ich auch schon über der Reling. Gut nur, dass ich noch nicht allzu viel gegessen hatte an diesem Tag, der nach einer sehr kurzen Nacht morgens um vier im Amerikahafen in Cuxhaven begonnen hatte. Wir hatte Westwind und mussten also aus der Elbmündung gegen an. Wind gegen Strom baute einen entsprechenden Seegang auf, der sich nun lustig mit der Dünung der vorherigen Stark-Wind-Wettertage mischte. Hart schlug unsere „Helgoland Express“ immer wieder in das eine oder andere Wellental. Mit Schaudern erinnerte ich mich an Hendriks Erzählung vom Vortag. Sechs Meter wären die Wellen hoch gewesen bei seiner letzten Regatta. Diese hier schafften es gerade mal auf einen und schon das war mir mehr als genug.
An Backbord zogen mittlerweile all die gefürchteten Untiefen der Deutschen Bucht vorüber. Über Scharhörnriff brodelte und schäumte das Wasser. So hoch türmten sich dort die Grundseen, dass ich zunächst glaubte, weiße Dünen an Land zu sehen. Schon seltsam, was dieses Meer uns alles zu zeigen vermochte. Stundenlang starrte ich übermüdet auf seine Wellen und verstand sehr bald, wie all das Seemannsgarn von Monstern aus der Tiefe in früheren Jahrhunderten hatte gesponnen werden können. Sahen nicht viele der Wellenberge aus wie die Buckel unbekannter Tiere, die sich vor uns aus dem Schoße des Meeres erhoben? Das Meer hat so viele Gesichter. Immer wieder zeigt es uns, wie klein und unbedeutend wir doch sind. Eine 43-Fuß-Yacht ist nichts nach seinen Maßstäben. Bei einem Vortrag, den ich kürzlich beim Tag der offenen Tür beim BSH in Hamburg hören konnte, zeigte der Referent unter anderem ein Video von einem Kreuzfahrtschiff auf hoher See. Seitdem weiß ich, was ‚das Rollen eines Schiffes‘ bedeutete und dass ich diese Erfahrung lieber nicht so bald am eigenen Leib machen wollte. Sehr passend dazu ein Song von Jonny Glut aus dem „Old Laramie“, das wir auf dieser Reise auch noch kennenlernen würden: „Odysee“ – oh, die See – Sehnsuchtsort, Fernwehort – Freiheit, Herausforderung – körperlich, geistig, seelisch. Etwas, von dem man nicht mehr lassen konnte, wenn es einen gepackt hatte, auch wenn es manchmal besser wäre.
Gott sei Dank, bewahrheitete sich an diesem Tag noch eine weitere Seglerweisheit: Steuern hilft! Die nächsten Stunden waren also gerettet. Unser Kurs hieß ‚hoch am Wind‘ – so konnte man also auch navigieren…
Die Nordergründe hatten wir zwischenzeitlich hinter uns gebracht – noch so eine sagenumwogene Untiefe. Wie viele Wracks waren dort auf unserer Seekarte verzeichnet? Entschieden zu viele, aber wir kreuzten sicher über ihre letzten Ausläufer hinweg. So viel Tiefgang, dass sie uns gefährlich werden konnten, hatten wir dann, Gott sei Dank, doch nicht.
Am späten Nachmittag tauchte vor uns endlich ein langer weißer Sandstrand auf. Nach einem sehr langen Tag, mit wenig Schlaf und Essen, dessen Reste die meisten von uns auch glücklich über Bord befördert hatten, waren wir alle froh, endlich anzukommen. Wir froren alle. Inklusive Ölzeug trug ich an diesem Tag alles, was mein Zwiebelschalenschichtmodell herzugeben vermochte. Trotzdem war mir eiskalt – trotz der neuen Seestiefeln, dichten wohlgemerkt, und allem… Dabei war es nur bewölkt, kein Regen, nur viel scheinbarer Wind von vorn. Wie herrlich also, dass endlich diese Insel, das lang ersehnte Ziel, in Sicht kam. Aber von wegen Spiekeroog! Wir waren durch den Strom ein gutes Stück östlich versetzt worden und schauten nun also auf die Ausläufer von Wangerooge statt auf die von uns ersehnte Insel. Bis zum Spiekerooger Hafen war also noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Immerhin weckte die Aussicht auf den Endspurt in uns die noch verbliebenen Lebensgeister, und wir boten entschlossen alles auf, um gegen Wind und Strom voranzukommen. Später, als wir unseren Track in der Aufzeichnung auf dem Plotter noch einmal anschauten, wurde schnell klar, warum Christian auf die wiederholte Frage, wie wir denn vorankämen, gesagt hatte: ‚Frag‘ besser nicht.‘ Die ersten Kreuzschläge machten nicht mal eine lumpige Seemeile gut. Es wäre nicht übertrieben festzustellen, dass das Kreuzen gerade noch so verhindert hatte, dass wir rückwärts trieben. Sylke hatte da von Anfang an so einen Verdacht, und so suchte sie am Strand vor uns nach einem Wegpunkt, der uns erkennen lassen könnte, ob wir uns denn relativ zu diesem überhaupt in die gewünschte Richtung bewegten. Sie fand das Gesuchte im parkenden Traktor des Küstenschutzdienstes. Dumm nur, dass sich dieser ausgerechnet in jenem Augenblick selbst wieder in Bewegung setzte, als wir meinten, wieder etwas Fahrt aufgenommen zu haben.
Glücklicherweise wurden unsere Kreuzschläge schließlich tatsächlich wieder länger, und langsam, aber sicher erreichten wir so das Westende von Wangerooge. Und nun? Wie weiter? Der ursprüngliche Plan war ja gewesen, nördlich an Spiekeroog vorbei zu segeln und dann mit der Flut über die Barre an der Otzumer Balje ins Seegatt – doch das war, wohlgemerkt, der Plan gewesen, als wir noch meinten, Spiekeroog direkt anzulaufen und nicht mit knapper Not die Insel nebendran zu erwischen.
Das Zeitfenster, das uns die Tide vorgab, war mittlerweile so eng, dass unser Skipper – Zahlen und Daten sicher im Kopf – eine Alternative ertüftelte. Lieber doch nach Süden und dort durchs Wattfahrwasser. Aye, aye! Also vorn rum um die Spitze von Wangerooge und dann bloß gut klar halten von der Gefahrentonne, die – wo noch mal genau? – ah, da – ohh, daaa!!! – eine viel zu weit ins Fahrwasser hineinragende Buhne markierte, fast so als strecke Wangerooge klammheimlich unter dem Tischtuch der Nordsee die Hand nach der Nachbarin aus. Nur gut, dass wir mit Christian einen Ortskundigen an Bord hatten. Wir wären nie im Leben darauf gekommen, dass man so etwas so bauen würde. Zwangsläufig ein klares Hindernis für alle Revierneulinge – und eine sichere Methode den Touristenzustrom vom Meer her auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren… Doch war der aufregende Teil der Reise damit noch keineswegs zu Ende, sondern fing gerade erst an.
Die Fahrt durchs Wattfahrwasser war ein Erlebnis für sich. ‚Kreuzen geht hier nicht‘, lautete die klare Ansage von unserem Skipper und, ‚es gibt da ’ne Stelle, da stehen in der Karte zehn Zentimeter.‘ Schluck! Unsere Blicke waren in den folgenden Stunden quasi am Lot festgeschraubt. Nur ab und an schauten wir auf und hinüber zu den wiegenden Pricken im Watt. ‚Damit die Seehunde auch mal…‘ Nur hoffentlich nicht gerade jetzt unter unserem Kiel, wo wir sowieso gerade so wenig Wasser hatten, andererseits konnte natürlich jeder Tropfen helfen… Selten hatten wir auf diesem Törn den Kurs so eisern eingehalten wie hier. Immerhin hatte unsere Gib Sea einen Tiefgang von 1,70 m und auch wenn wir alle nur zu gerne endlich im Hafen von Spiekeroog einlaufen wollten, welches sich nun scheinbar endlos steuerbords an uns entlang zog, so wollten wir doch eben gerne auch in einem Stück ankommen und nicht die Hälfte hier auf den Sänden zurücklassen. Christian dirigierte unsere Steuerfrau beharrlich an den ostfriesischen Salzwasserbirken vorbei, wie Martin sie so schön getauft hatte. Dann kam besagtes Flach. Christian unter Deck am Plotter, ich am Lot, Sylke am Steuer: 2,70 – 2,50, – 2,30 – 2,20 – 2,30 … Geschafft. Wir hatten unsere Handbreit Wasser unter dem Kiel behalten.
Ich weiß gar nicht mehr, wer von uns an diesem ersten Tag auf Spiekeroog angelegt hat. Wohl weiß ich aber noch, wie erstaunt wir alle waren, den kleinen Hafen bereits so gut belegt vorzufinden. Boote aller möglicher Klassen lagen dort schon an den verschiedenen Stegen: Jollenkreuzer und Plattbodenschiffe, Contender und Laser auf dem Schlick dahinter.
Sehr genau erinnere ich mich auch an die heiße Dusche in der Marina – endlich war mir wieder warm. Dann ab in die Koje für ein halbes Stündchen, aus dem beinahe die ganze Nacht geworden wäre, hätten die anderen uns nicht geweckt, wollten wir doch noch alle zusammen essen gehen. Gesagt getan. So ein Hunger! Im lokalen Fischrestaurant schmauste ich gebackenen Schafskäse mit Tomaten und Oliven – sehr lecker. Wären wir nicht so müde gewesen, es hätte noch ein lustiger Abend an Land werden können. Doch allen stand der Sinn nur nach ihren Kojen und so setzten wir wenig später fort, was vor dem Essen schon so vielversprechend begonnen hatte. Unser Schiff lag schließlich so weich im Hafenschlick wie wir in unseren Kojen.
Tag 3: Spiekeroog: Regattatraining und Old Laramie
Erst gute zwölf Stunden später kehrte wieder das Leben auf unser Schiff zurück, das nun leise gluckernd aus seinem Schlammbett wieder aufschwamm. Nie hätte ich vermutet, dass unser 1,70-Kiel einfach so im Schlick würde untergehen können. Vor dem inneren Auge hatte ich beim Gedanken ans Trockenfallen schon der Reihe nach umgekippte Yachten im Hafen vor mir liegen sehen. Allerdings riet mir meine innere Stimme nun auf Grund der jüngsten Beobachtung auch eindringlich vom Wattwandern in diesem Gebiet ab – 1,70 war der Tiefgang unserer Yacht, ich war 1,75 groß…
Zum Geschrei der Austernfischer nahmen wir ein opulentes Frühstück im Cockpit ein. Und während am Strand die Limikolen auf ihren Stockbeinchen Wattwürmer pickten, verschlangen wir Brötchen um Brötchen. Strahlender Sonnenschein zeigte uns Hafen und Insel von ihrer schönsten Seite. Der Landgang führte uns zuerst zum Supermarkt um die Ecke zwecks Aufstockung unserer Vorräte. Dort trafen wir so ziemlich alle anderen Crews der Nachbarboote wieder. War klar oder?
Gleich am ersten Deich schossen wir auch einen Fasan – Martin ergatterte das beste Foto, ich bekam ihn gleich dreimal vor meine Linse. Scheu waren die Tiere hier wirklich nicht. Von wegen Fluchtdistanz… Danach führte uns unser Weg durch ein Blumenmeer an verschieden farbigen Rhododendronbüschen und duftenden Heckenrosen in ein verträumtes Dorf mit Reetdachhäuschen und Straßencafés. Ein Postkartenmotiv nach dem anderen bot sich uns so dar. Das einzige, das hier durch die Gassen flitzte, waren Fahrräder, denen man auch besser auswich, denn die Abwesenheit von Autos reizte sie offensichtlich zu den kühnsten Manövern – Bierbauch hin, Bierbauch her. Unterwegs trafen wir Christian, der sich fürsorglich erkundigte, ob wir denn auch schon den Strand gesehen hätten. Hatten wir nicht, wollten wir aber unbedingt. Die Richtung war klar – hey, wir waren auf einer Insel, wie weit konnte das Wasser da schon sein? Weiter, wie wir bald merkten.
Zwischenzeitlich hatten wir den Eindruck, durch Nachbars Garten zu schleichen, wurden die Fußwege durch den Ort doch schmal und schmaler. Eine Katze räkelte sich faul zu unseren Füßen. Wohin so eilig, schien sie zu fragen, und man konnte es ihr angesichts der Ruhe in diesem Ort auch nicht verdenken. Unser Zeitplan allerdings war immer noch tidenabhängig. Mittags wollten wir zum Regattatraining auslaufen, also flugs noch schnell zum Strand. Allerdings mussten wir feststellen, dass mit ‚flugs‘ hier nichts zu reißen war. Wir kamen in einen breiten Dünenstreifen. Auf dem höchsten dieser norddeutschen Gipfel angelangt, erspähten wir den Strand in für unseren Zeitplan unerreichbarer Ferne. Erst viel später an diesem Tag würden wir ihn dann tatsächlich zu Gesicht bekommen, wenn unser Weg dem Larimie-Reiter folgen würde.
Das Regattatraining war Spaß pur. Zwölf Stunden Schlaf hatten uns zu neuem Leben erweckt – und dann die Sonne, ein frischer Wind für unsere Segel, was wollten wir mehr? Im Fahrwasser vor Spiekeroog tummelten sich bereits die verschiedensten Boote. Kleine Jollen, Contender, in deren Trapezen die sportliche Jugend hing, Jollenkreuzer und bald auch unser besegelter Wohnwagen. Für einen Wohnwagen waren wir allerdings ganz schön flott unterwegs.
Wir nutzten die Gelegenheit, verschiedene Segeltypen auszuprobieren. Den Anfang machte der Gennaker, dessen Stoff verheißungsvoll wie Geschenkpapier raschelte, als wir ihn hochzogen. Einmal voller Wind zog er uns in rauschender Fahrt über das Wasser. Juhu, was für ein Spaß! Leider erwies er sich letztlich aber doch als zu unhandlich. Unser Kurs würde ein stetiges Einholen und Neusetzen erfordern – ja, kann man machen – allerdings würden wir dafür definitiv mehr Übung brauchen, als wir derzeit aufweisen konnten. Zumindest für Alexander und für mich war es schließlich das erste Mal, dass wir mit dieser Art Segel arbeiteten, vielleicht nicht die beste Voraussetzung für die Nutzung desselben bei der Regatta am nächsten Tag. Christian seufzte bei derselben Erkenntnis in sich hinein. Doch glaube ich, hatte er seiner Crew diese Schwäche bald wieder verziehen – spätestens als wir alle ganz entspannt am nächsten Tag beobachten konnten, wie andere Crews mit ihren Segeln kämpften. Da wurde gebrüllt und wie wild an den Fallen gezerrt. Wild schlagende Segel, hinter der Fock verkeilte Gennaker – wir bekamen alles zu Gesicht – am schönsten war der Knoten in einem knallroten Gennaker am Nachbarboot – klarer Fall von Schadenfreude. Alle ließen wir hinter uns.
Auch die Genua probierten wir aus und verstauten sie dann wieder wohlweislich in der Backskiste. Mit der simplen Fock würden wir im Wortsinn am besten fahren. Mag langweilig klingen, aber manchmal sind die einfachsten Dinge auch die besten.
Viel zu früh drängte uns die Tide an diesem Tag wieder zur Heimfahrt in den Spiekerooger Hafen. Ohne sie wären wir sicher einfach immer weiter gesegelt, aus purem Spaß an der Freude. Auf dem Rückweg lernte ich dann auch zum ersten Mal kennen, was die Leute als Hafenkino bei anderen genießen und bei sich selbst so zu fürchten scheinen. Hafenmanöver stehen bei Roberts Skippertrainings immer ganz oben auf der Wunschliste der verschiedenen Teilnehmer. Noch kaum einer, der oder die mit uns zu diesen abendlichen Lektionen in den Köhlfleet gesegelt war, hatte nicht schon gleich beim An-Bord-Kommen verkündet, er oder sie wolle Hafenmanöver fahren üben. Gut, haben wir gedacht, kann man machen, ist wichtig, aber Segelmanöver sind trotzdem viel spannender und lustiger. Warum nur wollten all diese Leute die wenigen schönen Stunden auf dem Wasser motorend direkt am Steg verbringen?!
Klar, um das Folgende später dann möglichst zu vermeiden. Tags zuvor hatten wir es mit noch ausreichend Platz gut rückwärts in unsere Box geschafft. Der Plan sah vor, das an diesem Nachmittag zu wiederholen. Leider wurde daraus nichts – weder das mit dem gut noch das mit der Wiederholung überhaupt. Frustriert stellte Martin am Ruder fest, dass unsere „Helgoland Express“ doch eher der Wohnwagen unter den Segelbooten war. Zu träge, um den Bewegungen des Steuers unmittelbar zu folgen, schafften wir den notwendigen Bogen in die Box nicht – zur großen Freude und Belustigung der Crews in den Cockpits der Nachbarboote. Wie war das noch mal gleich mit der Schadenfreude?! Christian blieb cool, bot die Spottmäulern Popcorn an und dirigierte Martin dann mit geänderter Taktik sicher und problemlos vorwärts in die Box hinein. Geschafft! Das Anlegerbier hatten wir uns heute wirklich verdient!
Nachdem wir etwas später dann mit segelertypischem Heißhunger das Abendessen auf dem Boot vertilgt und das Töpfe-Tetris nach dem Abwasch beim Klarschiffmachen schließlich gewonnenen hatten, wartete an diesem Abend noch eine schöne Überraschung an Land auf uns. Die Sonne ging glutrot über der Insel unter und voller Glut sollte es danach noch etwas weitergehen. Zu Fuß machten wir uns auf zum letzten Haus am Westende der Insel – last homely house, sozusagen – immer entlang der Schienen der alten Pferdebahn. Christian erklärte, dass der Fähranleger noch gar nicht sehr lange so nah am Dorf lag, sondern früher die Touristen notwendig auf eben jene Pferdebahn angewiesen waren, um vom westlichen Fähranleger zu ihren Ferienwohnungen im Dorf zu gelangen.
Es dämmerte bereits, als wir nach diesem Spaziergang immer zwischen Salzwiesen und Deich entlang endlich unser Ziel erreichten. Eine Schlange Wartender am Eingang verriet uns, dass wir aber keineswegs zu spät gekommen waren. Das „Old Larimie“ lud erst ab 21 Uhr zum Konzert, von welchem wir bis dato noch gar keine Ahnung hatten. Kurzentschlossen bogen wir an dieser Stelle noch einmal ab, nutzten die Gelegenheit und Christians Ortskundigkeit, um doch wenigstens noch einmal den Strand zu sehen. Wir kamen, sahen und – waren baff. Vor uns lag ein endloser weißer Sandstrand, dahinter das Watt, auf dem einige Kurzkieler trockengefallen waren. Deren Crews saßen nun gemütlich bei kalten Getränken in vereinzelten Grüppchen verteilt und plauderten sich in die beginnende Nacht. Wie gemalt lag diese Szenerie nun vor uns zur schönsten blauen Stunde. Die Ankerlichter der Yachten erschienen als lockende Irrlichterchen im Watt, und wir folgten ihnen willig. Fast schon magisch erschien die Landschaft um uns herum. Wir sogen diese Bilder tief in uns auf. Freiheit – hatte ich das schon erwähnt? Was konnte es Besseres geben…
Wir witzelten über die Mädelscrew, die ein neues Trinkspiel auf dem Watt erfunden hatte – sehr zur Freude des mitreisenden Schiffshundes, der hechelnd von einer zur anderen wetzte. Angefüllt mit den schönsten Seebildern kehrten wir schließlich zu unserer Verabredung im „Old Larimie“ zurück. Dort war es mittlerweile richtig voll. Jeder Quadratzentimeter – man mag es in Norddeutschland ja gar nicht sagen, aber – des Biergartens war voller feiernder Menschen. Alle Altersstufen waren vertreten und, wie unschwer an den Klamotten festzustellen, nicht wenige davon Segler. Wie alle bestellten auch wir Bier, gesellten uns dazu und nur wenig später sang ich mit wachsender Begeisterung die eingängigen Refrains der Lieder von Jonny Glut mit, der sich an diesem Abend mit seiner Band die Ehre auf der Bühne der Kneipe gab und von dessen Musik Christian so schön gesagt hatte: ‚ Entweder man hasst es, oder man liebt es, aber es ist nur schwer zu ignorieren.‘ Wie passend nach den Erfahrungen des Vortrages erschien mir dort nun die Mal um Mal intonierte „Odysee“. Alexander witzelt seitdem über einen neuen Fankult meinerseits, aber was soll’s, ich fand’s toll!
Um elf wurde dann eine Pause angekündigt, die wir ungern, aber doch für den Aufbruch nutzten. Schließlich wollte unser Skipper am nächsten Tag mit uns eine Regatta segeln. Schweren Herzens, aber doch auch beschwingt, verließen wir also diese urige Stätte, die mehr wie ein Strandgut wirkte, denn wie eine echte feste Behausung. Sylke lichtete noch eben den am Dachbalken vor sich hin vegetierenden Scheinwerfer ab, während sich die helfenden Hände am Bierausschank selbst zuprosteten. Wer sagte, dass Arbeiten nicht auch Spaß machen durfte? Mit dem einen oder anderen Ohrwurm auf den Lippen machten wir uns also auf den Weg zurück zu unserem Schiff. Auch wenn ich dort keine einzige Münze in irgendwelches Wasser geworfen hatte, wie man in Rom und anderswo ganze Brunnen fürs Stadtsäckel füllte – so hatte ich doch längst fest beschlossen, dass ich hier unbedingt noch einmal wieder würde herkommen müssen. Schließlich hatten wir alle spätestens seit diesem Abend ’noch Sand in den Schuhen von Spiekeroog…‘
Tag 4: Spiekeroog: 61. Seestern-Gedächtnis-Regatta
Der Tag der Regatta begann mit spiegelnden Goldflüssen, welche die Morgensonne, vom Meerwasser reflektiert, durch die Achterluke in unsere Kajüte sandte. Ich blinzelte ein-, zweimal in diesen vielversprechenden Morgen und schlief dann noch herrliche drei Stunden weiter. Das Frühstück nahmen wir dann bei eben dieser Frühsommersonne im Cockpit zu uns wie fast alle anderen Crews im Hafen auch. Lärm kam allein von den Schwärmen von Austernfischern und anderen Limikolen, die sich mit schrillen Rufen über die Qualität der frühen Wattwürmer zu streiten schienen, nach denen sie eifrig stocherten.
Der offizielle Teil der Regatta begann dann zur Mittagszeit mit der Steuermann-Besprechung am Spiekerooger Segelclub. Dutzende von Crews hatten sich hier eingefunden, um Strecken- und Startmodalitäten in Erfahrung zu bringen. Wir zählten zur vierten von insgesamt fünf Startgruppen. Ein blaues Band am Achterstag würde unsere Gruppe kenntlich machen. Rund 75 Boote würden an diesem Tag an der 61. Seestern-Gedächtnis-Regatta teilnehmen. Sorgfältig prägten wir uns die Regattastrecke ein und zählten uns wechselseitig immer wieder die Namen der Konkurrenz aus unserer Klasse auf. Jeder von uns konnte später ganz genau sagen, welche Boote es galt, achteraus zu lassen. Mittlerweile hatte auch mich das Wettkampffieber gepackt, auch wenn ich sonst wenig von solchen Sportereignissen halte. In dieser Hinsicht, ich gebe es zu, nagt immer noch das Trauma des Schulsports an mir. Wenn man zu denjenigen gehört hatte, die der Lehrer beim Wählen der Mannschaften schlussendlich zuteilen musste, ist die spätere Begeisterung für Wettkämpfe welcher Art auch immer sehr, sehr übersichtlich.
Unser Startfenster war 13.50 Uhr. Christian bestimmte einen Zeitbeauftragten, und die Stoppuhr wurde gespitzt. Schließlich liefen wir zusammen mit all den anderen Booten aus. Das Fahrwasser vor Spiekeroog füllte sich mit mehr und mehr bunten Segeln. Eine Weile lang galt es für uns noch hin und her zu kreuzen, die Uhr fest im Blick, dann kam unser Startsignal. Als der Blitzknall sein Rauchwölkchen an den Himmel zeichnete, waren wir mehr als bereit, und ein Pulk von Booten schoss zeitgleich zur Startlinie – und eines von Steuerbord her quer in die gesamte Gruppe hinein. Ein großer Tumult brach aus ob dieser rowdiehaften Wildsegelei. Gebrüll, hektische Wenden, noch mehr Gebrüll. Ich verlor den Überblick in all dem Chaos. Jemand hätte das Startschiff gerammt, hieß es. Ich verdrehte mir den Hals danach, konnte aber nichts erkennen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass wir mittlerweile und trotz allem längst auf der Wettkampfstrecke unterwegs waren. Christian, wie immer einen kühlen Kopf bewahrend, hatte uns sicher ins Rennen geschickt, und unsere erste Regatta konnte beginnen.
‚Meine erste Regatta‘, beim Abendessen in Aachen, als ich mir die Sache das erste Mal richtig durch den Kopf gehen ließ, klang das noch verdächtig nach, ‚mein kleines Pony‘. Sicher, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt war mir klar, dass das sicher alles andere als ein rosaroter Kleinmädchentraum werden würde. Und ein wenig hatte ich unseren Skipper schon im Vorwege bedauert, war ich mir doch sicher, dass eine gute Platzierung, auf die er bestimmt spekulierte, mit uns als Mannschaft – nun, sagen wir es nett – herausfordernd werden würde. Und nun waren wir schon mittendrin.
Am Vormittag hatten die Nachbarcrews alles Mögliche von ihren Booten auf den Steg geschafft, um das Gewicht ihrer Schiffe für die Regatta zu optimieren. Diverse Bierkästen und Spirituosenflaschen vom Vorabend tauchten dort auf, und wir witzelten später darüber, ob wir nicht doch besser noch den Anker von unserem segelnden Wohnwagen abmontieren und zu Pütt un Pann auf den Steg legen sollten. Doch war unsere „Helgoland Express“ gar nicht auf solcherlei Spielereien angewiesen. Zuverlässig und gewandt segelte sie nun mit uns von Wendeboje zu Wendeboje, sich gut im Feld der Kontrahenten machend.
Die Crew hielt derweil die Augen offen nach der „Grauen Maus“ und dem „Buttpedder“ – der Konkurrenz aus unserer Klasse. Beide erspähten wir schon nach der ersten Wende weit abgeschlagen achteraus. Juhu, wir lagen vorn! Meine Aufmerksamkeit wurde zunehmend vom bunten Treiben um uns herum in Beschlag genommen. Immer wieder schossen kleinere Boote quer, und Christian nutzte gleich zweimal den Luxus einer Fahrtenyacht – das Schiffshorn – um die Crews entsprechend wildsegelnder Boote an ihre Ausweichpflicht zu erinnern. Die einen merkten es schnell, als sie aufgeschreckt unter ihrem Segel hervorlugten. Die anderen gar nicht. ‚Sind halt keine großen Guckis‘, kommentierte unser Skipper die Lage nach erfolgreichem Ausweichmanöver unsererseits.
Insgesamt war ich als völliger Regattaneuling sehr erstaunt, dass uns auf einigen Teilstrecken so viel Zeit blieb, das Geschehen rund ums eigene Boot so genau zu studieren und die Fahrt in der Sonne auch entspannt zu genießen. Ich hatte mir das Ganze wesentlich hektischer vorgestellt. Dass es das durchaus auch sein konnte, erfuhren wir später, als unser Bootsnachbar am Steg stolz verkündete, er hätte nur sechsmal das Segel wechseln müssen auf dieser Strecke. Wir dagegen schafften es ohne Wechsel des Segelkleids und vorheriger Zwangsdiät des Schiffsbauches und freuten uns über herrlichstes Segelwetter. Sonne satt. Der Fahrtwind kühlte auf den Am-Wind-Strecken, raumschots baumten wir die Fock aus, und ich schaute mich an den bunten Spis und Gennakern um uns herum satt. Besonders hübsch anzuschauen waren auch die Teilnehmer des letzten Startfensters – einige Plattbodenschiffe mit den typisch roten Segeln über Vollholzrümpfen. Wieder einmal bedauerte ich zutiefst, dass ich von Papas Tischlerfertigkeiten aber auch so gar nichts geerbte hatte, sonst stünde die Entscheidung für das Traumboot längst fest.
Der schönste Zuschauer der Seestern-Gedächtnis-Regatta auf Spiekeroog: ein Seehund, der sein Köpfchen neugierig aus dem Wasser reckte und das lustige Treiben der schnellen Boote mit den bunten Segeln zu begutachten schien. Hätte er gekonnt, ich bin mir sicher, er hätte sicher sein Köpfchen darüber geschüttelt. Wozu die Eile? Es ist doch Wasser genug für alle da…
Zwei Runden waren zu absolvieren: von der Startlinie aus nach Süden gen Neuharlingersiel, eine Wende zurück nach Norden gen Spiekeroog, eine Wende und westwärts gen Langeoog und zurück zum Startschiff für die nächste Runde. Es gab so viel zu sehen, dass die Zeit wie im Flug verging. Sylke stand am Ruder und manövrierte uns sicher durch das Geschehen. Eine der besten Gelegenheiten, diverse Ausweichregeln zu repetieren. Als besonderes Schmankerl navigierte auch noch die Fähre zwischen Insel und Festland durch das dichte Feld der Segelboote oder besser, dies um besagte Fähre drum herum.
Und dann wurde es spannend: die Ziellinie kam in Sicht, die Startnummer wurde an Deck geholt und gleich – da drängte uns doch glatt das grüne Boot, das uns schon einige Male während der Regatta frech nahegekommen war, auf den letzten Metern ab, schob sich vor uns und durchs Ziel. Gute Seemannschaft geht anders! ‚Hey, hallo!‘ das war der Moment für echte Entrüstung, aber Christian riet zur Ruhe. Und ja eigentlich war es auch egal, denn sie segelten nicht in unserer Klasse, und von Mäusen und Plattfischpiekern hatten wir schon seit gefühlten Stunden nichts mehr gesehen. Also Startnummer hochgerissen und rein ins Ziel. Das war’s. Juhu! Gefühlt hatten wir auf alle Fälle schon mal gewonnen.
Ich löste Sylke am Ruder ab, nun ging es nach Hause in den Hafen – zusammen mit allen anderen. Wir drehten eine Orientierungsrunde durchs Hafenbecken. Ja, der Liegeplatz war noch frei – gleich neben den Bierkästen und dem anderen Krams vom Nachbarboot. Also Segel bergen, Motor an und rein in die gute Stube. So ging ein weiterer herrlicher Segeltag langsam zu Ende.
Auf dem Plan stand nun als nächstes das wohlverdiente Abendessen: Kartoffelgratin, Grillkäse, Salat und für die Nichtvegetarier ein Hühnerbein. Das Ankerbier wurde an diesem Abend um ein wohlverdientes zweites ergänzt. Satt und zufrieden harrten wir der Siegerehrung, die im Segelclub am selben Abend noch stattfinden sollte. Das Ereignis war für 21 Uhr angesetzt. So wogen wir uns schon vor Beginn in der Gewissheit, dass dies nur ein kurzes Gastspiel unsererseits auf dem Regattaball werden würde, denn für den nächsten Tag stand die Heimreise und damit das Auslaufen mit dem Morgenhochwasser schon fest. Das hieß, um fünf Uhr würden wir wieder losmachen müssen. Also wie viele Stunden Schlaf? Es gibt Momente im Leben, da rechnet man lieber nicht so genau… Egal, bis dahin war es ja noch etwas Zeit. Grund genug, ein wenig stolz zu sein, hatten wir allemal. Immerhin waren wir keine jahrelang eingespielte Crew, sondern gerade mal drei Tage zusammen auf dem Wasser unterwegs, und unsere „Helgoland Express“ war sowieso eine Kuriosität für sich im flachen Wattfahrwasser. Also: freuen – jetzt!
‚Das war Können!‘ schallte ein bereits deutlich angetrunkener Ruf aus den hinteren Reihen, als die Regattaleitung kritisch das Tohuwabohu ansprach, das unsere Startsequenz so durcheinander gewirbelt hatte. Die Preisrichter hoben ob dieser Uneinsichtigkeit missbilligend die Augenbrauen. Allgemeines Kopfschütteln. Dann ging es endlich an die Preisverleihung.
Für uns gab es dann noch eine unerwartete Überraschung, wies doch unsere Bootsklasse plötzlich zwei weitere Mitstreiter auf, die bei der Steuermann-Besprechung noch nicht auf dem Plan gestanden hatten. Und auch wenn wir deutlich schneller als Mäuse und Plattfischpiecker gewesen waren, hatte man uns zu guter Letzt in Gemeinschaftsarbeit doch noch überholt. Der Skipper der „Teamwork“ strahlte ins Publikum, und Christian kehrte etwas irritiert mit Silberschiffchen und der aus dem Geschenkeboot geangelten Dose Isolierspray an unseren Tisch zurück. Wir witzelten darüber, wer letztere wohl als erstes auf seinem Kaminsims würde drapieren dürfen, fotografierten eifrig unser Schiffchen, reichten es von Hand zu Hand und freuten uns über unsere Platzierung. Als die Regattaleitung schließlich die Tanzfläche freigab und wie aufs Stichwort die Liedzeile „Verstand über Herz“ erklang, nahmen wir selbige wörtlich, machten uns auf den Weg zurück zum Boot und zu einer viel zu kurzen Nacht.
Tag 5: Spiekeroog – Cuxhaven – Rhinplatte
Der nächste Morgen begann viel zu früh, schon um halbfünf wurde durchs Schiff geklappert. Draußen stritten sich die Spätheimgekehrten immer noch in weinseliger Stimmung auf dem Steg. Doch was zu anderer Zeit sicher eine interessante Charakterstudie gewesen wäre, ging im eigenen Tran der Übernächtigung unter. Auch galt es, den sexistischen und frauenfeindlichen Plan umzusetzen, den ich am Abend zuvor ausgeheckt hatte. Die Männer machten das Boot klar zum Ablegen und motorten uns aus dem Hafen, während Sylke und ich unterdecks, noch ein wenig die Ruhe der vergangen Nacht genießend, am Salontisch Klappbrote für den geplanten langen Schlag des Tages schmierten. Kurz nachdem wir die westliche Südspitze der Insel passiert hatten, waren wir damit fertig. Als wir nun mit kleinen Augen und Händen voll Frühstücksbroten im Cockpit auftauchten, verschlug uns der Anblick, der sich uns nun bot, glatt die Sprache. Glutrot ging die Sonne gerade über den Insel auf. Als dann auch noch ein heimkehrendes Fischerboot mit anhängendem Möwenschwarm in dieses Panorama hineinschipperte, war das Postkartenmotiv schon beinahe zu schön, um wahr zu sein. Tschüß, Spiekeroog – kleine Insel, große Liebe, bis zum nächsten Mal!
Dann ging es wieder hinaus aufs Meer. Hatte es uns vor noch nicht ganz drei Tagen ordentlich durchgeschüttelt und mit grauen Wellenungeheuern genarrt, zeigte es sich uns heute von seiner wunderbarsten Seite: Sonnenschein, Wind aus Ost drei bis vier und eine fantastische Fernsicht – so schön kann Segeln sein.
Martin steuerte uns sicher durch die Zufahrt zu Weser und Jade – Fahrwasser, die auf unserer Übungskarte vorgestellt zu den belebtesten Ecken der Deutschen Bucht zählen mussten – doch auch auf der Rückfahrt begegnete uns hier kein einziges Schiff. Auf Verkehr in diesem Sinne sollten wir erst wieder in der Zufahrt zur Elbe treffen, so kann man sich täuschen. Allerdings hatten wir das Meer mitnichten ganz für uns alleine. Auf der Reede der Neuen Weser lagen jede Menge dümpelnde Pötte. Wir schlängelten uns hindurch. Wie öde musste dort der Alltag für die Matrosen an Bord sein. Kein Landgang, keine Abwechslung, kein Austausch mit anderen Menschen. Manche Schiffe sahen aus, als wären sie dort bereits zum endgültigen Verrosten vor Anker gegangen. Robert hatte mal erzählt, dass man die Lage unserer Wirtschaft am sichersten an der Anzahl der Schiffe auf den Hochseereeden ablesen könne: je mehr von ihnen dort draußen vor Anker lagen, desto schlechter liefen die Geschäfte. Im Hafen zu liegen wäre viel zu teuer. Wenn sie also von keinen Aufträgen, von keinen Warenströmen kreuz und quer über die Weltmeere getrieben wurden, ankerten sie da draußen, wo nur selten jemand Außenstehendes sie zu Gesicht bekam. Einer der Kähne ließ die ganze Zeit über den Schiffsdiesel laufen. Eine große, gelbe Wolke lag über dem Schiff. Es stank nach verbranntem Schweröl – auch so ein Thema, gerade für uns Hamburger und unseren Hafen. Nur gut, dass unsere „Helgoland Express“ mit dem besten aller Kraftstoffe lief – mit frischem Nordseewind, der uns sicher aus diesem Industriefriedhof wieder hinaus wehte.
Wir wechselten uns am Ruder ab und was nun in Sicht kam, gefiel mir deutlich besser. Hatten wir bei unserem ersten Törn im letzten Jahr Helgoland beinahe verpasst, weil die Insel bis zum letzten Augenblick im dicken Hochnebel steckte, zeigte sie sich wie zur Entschuldigung bei diesem Mal grazil von ihrer besten Seite. Erst konnten wir gar nicht glauben, was wir da vor Augen hatten, dass das dort am Horizont tatsächlich eben jene rote Felseninsel war, doch kamen wir ihr beständig näher und schließlich war kein Zweifel mehr möglich: An Backbord voraus lag Helgoland. Dort war die Lange Anna, da hinten Helgolands Leuchtturm, sogar ein Stück von der Düne und dem dortigen rot-weiß-gestreiften Leuchtfeuer konnten wir erkennen. Was für ein Anblick! In Aachen hatte eine Zeitlang eine Familie mit fünf sehr kleinen Kindern bei uns im Haus gewohnt. Klingelte man an ihrer Tür und öffneten ihre Eltern, quoll alsbald eine ganze Schar von ihnen – neugierig auf die Welt jenseits der elterlichen Wohnung – in den Flur hinaus. Ebenso entließ an diesem Tag Helgoland Segelboot um Segelboot aus seinem Hafen, den diese nach dem Ende der dortigen Nordseewochen nun wieder gen Heimat verließen. Kleine, weiße Segel tanzten uns lustig entgegen, doch keines von ihnen würde unseren Kurs tatsächlich kreuzen, waren sie doch so viel später erst aufgebrochen.
Christian würde später sagen, dass wir Helgoland an diesem Tag bis auf acht Seemeilen nahe gekommen waren. Kein Wunder, dass uns allen dieselbe Idee durch den Kopf schwirrte. Könnte man diese Segelreise nicht einfach um ein, zwei Tage auf diesem Eiland im Meer verlängern? Könnte man nicht? Man könnte doch vielleicht?
Hatte uns unser erster Schlag dieser Kreuz also weit nach Norden geführt, sollte die Wende kurz hinter Helgoland uns nun direkt in die Ansteuerung auf die Elbzufahrt bringen. Die Wende lief gut, aber schon kurze Zeit später triezte Christian mich, ich solle mich nun endlich entscheiden: Elbe oder Weser. Und in der Tat eierte ich schon eine gewisse Zeitlang mit unserem Boot so vor mich hin. Ich hatte den Wind verloren! Eine Sache, die uns sehr bewusst wurde auf diesem Törn, war der Unterschied, der zwischen, etwas theoretisch verstanden zu haben und es praktisch umsetzen zu können, bestand. Sicher hatte auch ich mittlerweile kapiert, was die berüchtigte Windkante denn wohl sein sollte, an der wir segeln wollten. Aber was brachte einem das, wenn der eben noch so lustig pustende Wind plötzlich weg war oder doch mehr von querab kam als eben noch? Anluven, abfallen, anluven – hundert Mal und mehr spielten wir dieses Spiel mit dem Nordseewind an diesem Tag. Windfäden, Verklicker, Kompass, das Vorliek des Vorsegels – alles gab Hinweise, alles sollte man beachten. Irgendwann war die Konzentration dann futsch, und ich dankbar für eine Ablösung.
Cuxhaven ließ sich dieses Mal bei Tageslicht schon vom Meer aus begutachten. In Sicht kam auch der Campingplatz auf der Betonplatte, über den wir unlängst eine Dokumentation im Fernsehen gesehen hatten. Ich bedauerte die Leute dort. Sicher, war der Blick auf die Schiffe schön und interessant. Doch um wie vieles besser war es, sich auf einem solchen zu befinden und diese Tristesse weit hinter sich zurücklassen zu können?!
Unter Vollzeug rauschten wir schließlich in den Amerikahafen. Christian wollte dort noch schnell unsere Wasservorräte nachfüllen, bevor es noch ein Stückchen weiter elbaufwärts gehen sollte. Was man nicht alles tat der Tide und des richtigen Windes wegen. Also schnell die Leinen los und weiter.
Eine ganze Reihe Segelboote genoss so wie wir die guten Bedingungen an diesem Abend. Mit vier Beaufort griff der Wind in unsere Genua und trieb uns flott voran. Immer wieder mal mussten wir dem einen oder anderen etwas ausguckschwachen Mitsegler und motorisierenden Kapitän ausweichen. Manche schienen es da ganz wie die Autofahrer zu halten: Vorne ist da, wo ich bin, und wo ich bin, herrscht Vorfahrt. Nun ja…
Unsere Route führte uns an diesem Tag noch bis nach Rhinplatte bei Glückstadt, wo wir ankern wollten. Knapp hundert Seemeilen hatten wir bis dahin achteraus gelassen, unser bis dahin längster Schlag.
Rhinplatte erreichten wir bei Sonnenuntergang. Dasselbe goldene Licht, das uns am Morgen auf Spiekeroog verabschiedet hatte, nahm uns hier nun wieder in Empfang. Neben uns ankerte noch ein Plattbodenschiff, was in Ergänzung zum Sonnenuntergang, dem Naturschutzgebiet vor und hinter uns sowie unter gewissenhaftem Ignorieren des AKWs im Norden erneut ein herrliches Postkartenmotiv ergab. Aufmerksam verfolgte ich dieses Mal das Ankermanöver, während unterdecks bereits die andere Hälfte der Crew mit den Vorbereitungen fürs Abendessen befasst war. Der Kuckuck rief über das Wasser, ansonsten war es still.
Nach dem Essen schauten wir an Deck noch einmal nach dem Rechten und nach den Sternen darüber. Zu hell war es hier, als dass man die Milchstraße hätte sehen können, trotzdem war das Meer der fernen Lichter beeindruckend schön. Jedes einzelne von ihnen eine ferne Sonne mit eigenen Welten. Astronomie war ein Fachgebiet, bei welchem man noch zu Lebzeiten quasi echte Quantensprünge in den Erkenntnissen miterleben konnte. Als Teenager hatte ich angefangen, mich für dieses ferne Lichtermeer zu interessieren – sicherlich auch motiviert durch das Dachfenster meines Kinderzimmers. Damals wusste man nicht, was Quasare sind und hatte mitnichten Belege für ferne Planetensysteme geführt. Man hatte sich noch in der Ignoranz der einzig belegten Existenz sonnen können. All das war nun mittlerweile erforscht worden ebenso wie die Landung einer Raumsonde auf dem Nukleus eines Kometen, die im nahen Vorbei- bzw. im Anflug aufgenommenen Bilder von Jupiter und später von Pluto, den Verlust desselbigen als Planeten bedingt durch die Erkenntnis, dass noch so viele andere Objekte seiner Größe im anschließenden Kuipergürtel um die Erde ihre Bahnen zogen und so vieles mehr. Alles in diesen wenigen Jahren – wie viel mochte noch vor uns liegen, das wir noch lange nicht erforscht, geschweige denn begriffen hatten?
Ein letzter Blick, dann hieß es ab in die Kojen, denn hier unten beherrschte weiterhin die profane Tide unseren Lebensrhythmus.
Tag 6: Rhinplatte – Wedel – Finkenwerder
Der letzte Tag brach so vielversprechend an, wie der letzte geendet hatte. Die Sonne schob sich über den Horizont und wir uns zurück ins Elbfahrwasser. Immer noch wehte uns der Wind mit mäßiger Kraft aus Ost entgegen, immer noch hieß es also kreuzen. Von Buhne zu Buhne, das Lot fest im Blick ging es stromaufwärts. Wir wechselten uns am Ruder ab, und man stellte allgemein erleichtert fest, dass die Ausreißer am Schiff lagen und nicht am Rudergänger. Es fuhr auf dem Steuerbordbug einfach weniger ruhig, als auf dem Backbordbug. Gewitzelt wurde natürlich trotzdem über die gefahrenen Schlangenlinien. Na ja, vielleicht hatten sie auch einfach recht. Etwas zu viel Steuer gegeben und schon schlingerten wir, abfangen und Wende und ganz easy auf Backbord zur anderen Seite und Wende und im selben Slalomlauf zurück. Aber war das hier nicht auch ein Ausbildungstörn? Sylke zeigte uns später, wie es richtig geht, als sie in kleinen und kleinsten Schlägen zwischen dicken Pötten und dem Mühlenberger Loch mit uns kreuzte. Schon klar, warum Christian sie für die Regatta ans Ruder gestellt hatte.
Ich wurde derweilen ganz wehmütig, blickte zurück auf den Fluss und die vergangenen herrlichen Tage. Nun, da der Strom langsam an Breite verlor, wurde auch das Leben für uns wieder stromlinienförmiger. Noch einmal ausschlafen, dann wieder Büro, wieder Alltag wie immer. Wieder ein Montag bis Freitag, ein Wochentags- und Wochenendsleben mit Regeln und mehr oder weniger klaren Zielen, die das Denken bestimmen und beschränken. Büromenschendasein, wenn alles in einem nach dem Da-Draußen schreit, und man es doch nur hinter der Glasscheibe des eigenen Daseins erleben konnte. Wie schön war es dagegen auf diesem Schiff! Verhieß es uns doch, mit uns zu ganz neuen Welten zu segeln – auch wenn diese letztlich klein und beschaulich mitten im Schlick lagen. Aber immerhin, hatten wir nicht alle noch ein bisschen Sand in den Schuhen von Spiekeroog?
Nicola Mößner