Leider kann Freiheit auch bedeuten, dass einem schlecht wird und zwar so richtig schlecht. Das traf fast die ganze Crew auf dem ersten langen Schlag dieser Reise von Cuxhaven nach Spiekeroog. ‚So ist das also, wenn man seekrank ist‘, dachte ich noch und dann hing ich auch schon über der Reling. Gut nur, dass ich noch nicht allzu viel gegessen hatte an diesem Tag, der nach einer sehr kurzen Nacht morgens um vier im Amerikahafen in Cuxhaven begonnen hatte. Wir hatte Westwind und mussten also aus der Elbmündung gegen an. Wind gegen Strom baute einen entsprechenden Seegang auf, der sich nun lustig mit der Dünung der vorherigen Stark-Wind-Wettertage mischte. Hart schlug unsere „Helgoland Express“ immer wieder in das eine oder andere Wellental. Mit Schaudern erinnerte ich mich an Hendriks Erzählung vom Vortag. Sechs Meter wären die Wellen hoch gewesen bei seiner letzten Regatta. Diese hier schafften es gerade mal auf einen und schon das war mir mehr als genug.
An Backbord zogen mittlerweile all die gefürchteten Untiefen der Deutschen Bucht vorüber. Über Scharhörnriff brodelte und schäumte das Wasser. So hoch türmten sich dort die Grundseen, dass ich zunächst glaubte, weiße Dünen an Land zu sehen. Schon seltsam, was dieses Meer uns alles zu zeigen vermochte. Stundenlang starrte ich übermüdet auf seine Wellen und verstand sehr bald, wie all das Seemannsgarn von Monstern aus der Tiefe in früheren Jahrhunderten hatte gesponnen werden können. Sahen nicht viele der Wellenberge aus wie die Buckel unbekannter Tiere, die sich vor uns aus dem Schoße des Meeres erhoben? Das Meer hat so viele Gesichter. Immer wieder zeigt es uns, wie klein und unbedeutend wir doch sind. Eine 43-Fuß-Yacht ist nichts nach seinen Maßstäben. Bei einem Vortrag, den ich kürzlich beim Tag der offenen Tür beim BSH in Hamburg hören konnte, zeigte der Referent unter anderem ein Video von einem Kreuzfahrtschiff auf hoher See. Seitdem weiß ich, was ‚das Rollen eines Schiffes‘ bedeutete und dass ich diese Erfahrung lieber nicht so bald am eigenen Leib machen wollte. Sehr passend dazu ein Song von Jonny Glut aus dem „Old Laramie“, das wir auf dieser Reise auch noch kennenlernen würden: „Odysee“ – oh, die See – Sehnsuchtsort, Fernwehort – Freiheit, Herausforderung – körperlich, geistig, seelisch. Etwas, von dem man nicht mehr lassen konnte, wenn es einen gepackt hatte, auch wenn es manchmal besser wäre.
Gott sei Dank, bewahrheitete sich an diesem Tag noch eine weitere Seglerweisheit: Steuern hilft! Die nächsten Stunden waren also gerettet. Unser Kurs hieß ‚hoch am Wind‘ – so konnte man also auch navigieren…
Die Nordergründe hatten wir zwischenzeitlich hinter uns gebracht – noch so eine sagenumwogene Untiefe. Wie viele Wracks waren dort auf unserer Seekarte verzeichnet? Entschieden zu viele, aber wir kreuzten sicher über ihre letzten Ausläufer hinweg. So viel Tiefgang, dass sie uns gefährlich werden konnten, hatten wir dann, Gott sei Dank, doch nicht.
Am späten Nachmittag tauchte vor uns endlich ein langer weißer Sandstrand auf. Nach einem sehr langen Tag, mit wenig Schlaf und Essen, dessen Reste die meisten von uns auch glücklich über Bord befördert hatten, waren wir alle froh, endlich anzukommen. Wir froren alle. Inklusive Ölzeug trug ich an diesem Tag alles, was mein Zwiebelschalenschichtmodell herzugeben vermochte. Trotzdem war mir eiskalt – trotz der neuen Seestiefeln, dichten wohlgemerkt, und allem… Dabei war es nur bewölkt, kein Regen, nur viel scheinbarer Wind von vorn. Wie herrlich also, dass endlich diese Insel, das lang ersehnte Ziel, in Sicht kam. Aber von wegen Spiekeroog! Wir waren durch den Strom ein gutes Stück östlich versetzt worden und schauten nun also auf die Ausläufer von Wangerooge statt auf die von uns ersehnte Insel. Bis zum Spiekerooger Hafen war also noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Immerhin weckte die Aussicht auf den Endspurt in uns die noch verbliebenen Lebensgeister, und wir boten entschlossen alles auf, um gegen Wind und Strom voranzukommen. Später, als wir unseren Track in der Aufzeichnung auf dem Plotter noch einmal anschauten, wurde schnell klar, warum Christian auf die wiederholte Frage, wie wir denn vorankämen, gesagt hatte: ‚Frag‘ besser nicht.‘ Die ersten Kreuzschläge machten nicht mal eine lumpige Seemeile gut. Es wäre nicht übertrieben festzustellen, dass das Kreuzen gerade noch so verhindert hatte, dass wir rückwärts trieben. Sylke hatte da von Anfang an so einen Verdacht, und so suchte sie am Strand vor uns nach einem Wegpunkt, der uns erkennen lassen könnte, ob wir uns denn relativ zu diesem überhaupt in die gewünschte Richtung bewegten. Sie fand das Gesuchte im parkenden Traktor des Küstenschutzdienstes. Dumm nur, dass sich dieser ausgerechnet in jenem Augenblick selbst wieder in Bewegung setzte, als wir meinten, wieder etwas Fahrt aufgenommen zu haben.
Glücklicherweise wurden unsere Kreuzschläge schließlich tatsächlich wieder länger, und langsam, aber sicher erreichten wir so das Westende von Wangerooge. Und nun? Wie weiter? Der ursprüngliche Plan war ja gewesen, nördlich an Spiekeroog vorbei zu segeln und dann mit der Flut über die Barre an der Otzumer Balje ins Seegatt – doch das war, wohlgemerkt, der Plan gewesen, als wir noch meinten, Spiekeroog direkt anzulaufen und nicht mit knapper Not die Insel nebendran zu erwischen.
Das Zeitfenster, das uns die Tide vorgab, war mittlerweile so eng, dass unser Skipper – Zahlen und Daten sicher im Kopf – eine Alternative ertüftelte. Lieber doch nach Süden und dort durchs Wattfahrwasser. Aye, aye! Also vorn rum um die Spitze von Wangerooge und dann bloß gut klar halten von der Gefahrentonne, die – wo noch mal genau? – ah, da – ohh, daaa!!! – eine viel zu weit ins Fahrwasser hineinragende Buhne markierte, fast so als strecke Wangerooge klammheimlich unter dem Tischtuch der Nordsee die Hand nach der Nachbarin aus. Nur gut, dass wir mit Christian einen Ortskundigen an Bord hatten. Wir wären nie im Leben darauf gekommen, dass man so etwas so bauen würde. Zwangsläufig ein klares Hindernis für alle Revierneulinge – und eine sichere Methode den Touristenzustrom vom Meer her auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren… Doch war der aufregende Teil der Reise damit noch keineswegs zu Ende, sondern fing gerade erst an.
Die Fahrt durchs Wattfahrwasser war ein Erlebnis für sich. ‚Kreuzen geht hier nicht‘, lautete die klare Ansage von unserem Skipper und, ‚es gibt da ’ne Stelle, da stehen in der Karte zehn Zentimeter.‘ Schluck! Unsere Blicke waren in den folgenden Stunden quasi am Lot festgeschraubt. Nur ab und an schauten wir auf und hinüber zu den wiegenden Pricken im Watt. ‚Damit die Seehunde auch mal…‘ Nur hoffentlich nicht gerade jetzt unter unserem Kiel, wo wir sowieso gerade so wenig Wasser hatten, andererseits konnte natürlich jeder Tropfen helfen… Selten hatten wir auf diesem Törn den Kurs so eisern eingehalten wie hier. Immerhin hatte unsere Gib Sea einen Tiefgang von 1,70 m und auch wenn wir alle nur zu gerne endlich im Hafen von Spiekeroog einlaufen wollten, welches sich nun scheinbar endlos steuerbords an uns entlang zog, so wollten wir doch eben gerne auch in einem Stück ankommen und nicht die Hälfte hier auf den Sänden zurücklassen. Christian dirigierte unsere Steuerfrau beharrlich an den ostfriesischen Salzwasserbirken vorbei, wie Martin sie so schön getauft hatte. Dann kam besagtes Flach. Christian unter Deck am Plotter, ich am Lot, Sylke am Steuer: 2,70 – 2,50, – 2,30 – 2,20 – 2,30 … Geschafft. Wir hatten unsere Handbreit Wasser unter dem Kiel behalten.
Ich weiß gar nicht mehr, wer von uns an diesem ersten Tag auf Spiekeroog angelegt hat. Wohl weiß ich aber noch, wie erstaunt wir alle waren, den kleinen Hafen bereits so gut belegt vorzufinden. Boote aller möglicher Klassen lagen dort schon an den verschiedenen Stegen: Jollenkreuzer und Plattbodenschiffe, Contender und Laser auf dem Schlick dahinter.
Sehr genau erinnere ich mich auch an die heiße Dusche in der Marina – endlich war mir wieder warm. Dann ab in die Koje für ein halbes Stündchen, aus dem beinahe die ganze Nacht geworden wäre, hätten die anderen uns nicht geweckt, wollten wir doch noch alle zusammen essen gehen. Gesagt getan. So ein Hunger! Im lokalen Fischrestaurant schmauste ich gebackenen Schafskäse mit Tomaten und Oliven – sehr lecker. Wären wir nicht so müde gewesen, es hätte noch ein lustiger Abend an Land werden können. Doch allen stand der Sinn nur nach ihren Kojen und so setzten wir wenig später fort, was vor dem Essen schon so vielversprechend begonnen hatte. Unser Schiff lag schließlich so weich im Hafenschlick wie wir in unseren Kojen.