Der nächste Morgen begann viel zu früh, schon um halbfünf wurde durchs Schiff geklappert. Draußen stritten sich die Spätheimgekehrten immer noch in weinseliger Stimmung auf dem Steg. Doch was zu anderer Zeit sicher eine interessante Charakterstudie gewesen wäre, ging im eigenen Tran der Übernächtigung unter. Auch galt es, den sexistischen und frauenfeindlichen Plan umzusetzen, den ich am Abend zuvor ausgeheckt hatte. Die Männer machten das Boot klar zum Ablegen und motorten uns aus dem Hafen, während Sylke und ich unterdecks, noch ein wenig die Ruhe der vergangen Nacht genießend, am Salontisch Klappbrote für den geplanten langen Schlag des Tages schmierten. Kurz nachdem wir die westliche Südspitze der Insel passiert hatten, waren wir damit fertig. Als wir nun mit kleinen Augen und Händen voll Frühstücksbroten im Cockpit auftauchten, verschlug uns der Anblick, der sich uns nun bot, glatt die Sprache. Glutrot ging die Sonne gerade über den Insel auf. Als dann auch noch ein heimkehrendes Fischerboot mit anhängendem Möwenschwarm in dieses Panorama hineinschipperte, war das Postkartenmotiv schon beinahe zu schön, um wahr zu sein. Tschüß, Spiekeroog – kleine Insel, große Liebe, bis zum nächsten Mal!
Dann ging es wieder hinaus aufs Meer. Hatte es uns vor noch nicht ganz drei Tagen ordentlich durchgeschüttelt und mit grauen Wellenungeheuern genarrt, zeigte es sich uns heute von seiner wunderbarsten Seite: Sonnenschein, Wind aus Ost drei bis vier und eine fantastische Fernsicht – so schön kann Segeln sein.
Martin steuerte uns sicher durch die Zufahrt zu Weser und Jade – Fahrwasser, die auf unserer Übungskarte vorgestellt zu den belebtesten Ecken der Deutschen Bucht zählen mussten – doch auch auf der Rückfahrt begegnete uns hier kein einziges Schiff. Auf Verkehr in diesem Sinne sollten wir erst wieder in der Zufahrt zur Elbe treffen, so kann man sich täuschen. Allerdings hatten wir das Meer mitnichten ganz für uns alleine. Auf der Reede der Neuen Weser lagen jede Menge dümpelnde Pötte. Wir schlängelten uns hindurch. Wie öde musste dort der Alltag für die Matrosen an Bord sein. Kein Landgang, keine Abwechslung, kein Austausch mit anderen Menschen. Manche Schiffe sahen aus, als wären sie dort bereits zum endgültigen Verrosten vor Anker gegangen. Robert hatte mal erzählt, dass man die Lage unserer Wirtschaft am sichersten an der Anzahl der Schiffe auf den Hochseereeden ablesen könne: je mehr von ihnen dort draußen vor Anker lagen, desto schlechter liefen die Geschäfte. Im Hafen zu liegen wäre viel zu teuer. Wenn sie also von keinen Aufträgen, von keinen Warenströmen kreuz und quer über die Weltmeere getrieben wurden, ankerten sie da draußen, wo nur selten jemand Außenstehendes sie zu Gesicht bekam. Einer der Kähne ließ die ganze Zeit über den Schiffsdiesel laufen. Eine große, gelbe Wolke lag über dem Schiff. Es stank nach verbranntem Schweröl – auch so ein Thema, gerade für uns Hamburger und unseren Hafen. Nur gut, dass unsere „Helgoland Express“ mit dem besten aller Kraftstoffe lief – mit frischem Nordseewind, der uns sicher aus diesem Industriefriedhof wieder hinaus wehte.
Wir wechselten uns am Ruder ab und was nun in Sicht kam, gefiel mir deutlich besser. Hatten wir bei unserem ersten Törn im letzten Jahr Helgoland beinahe verpasst, weil die Insel bis zum letzten Augenblick im dicken Hochnebel steckte, zeigte sie sich wie zur Entschuldigung bei diesem Mal grazil von ihrer besten Seite. Erst konnten wir gar nicht glauben, was wir da vor Augen hatten, dass das dort am Horizont tatsächlich eben jene rote Felseninsel war, doch kamen wir ihr beständig näher und schließlich war kein Zweifel mehr möglich: An Backbord voraus lag Helgoland. Dort war die Lange Anna, da hinten Helgolands Leuchtturm, sogar ein Stück von der Düne und dem dortigen rot-weiß-gestreiften Leuchtfeuer konnten wir erkennen. Was für ein Anblick! In Aachen hatte eine Zeitlang eine Familie mit fünf sehr kleinen Kindern bei uns im Haus gewohnt. Klingelte man an ihrer Tür und öffneten ihre Eltern, quoll alsbald eine ganze Schar von ihnen – neugierig auf die Welt jenseits der elterlichen Wohnung – in den Flur hinaus. Ebenso entließ an diesem Tag Helgoland Segelboot um Segelboot aus seinem Hafen, den diese nach dem Ende der dortigen Nordseewochen nun wieder gen Heimat verließen. Kleine, weiße Segel tanzten uns lustig entgegen, doch keines von ihnen würde unseren Kurs tatsächlich kreuzen, waren sie doch so viel später erst aufgebrochen.
Christian würde später sagen, dass wir Helgoland an diesem Tag bis auf acht Seemeilen nahe gekommen waren. Kein Wunder, dass uns allen dieselbe Idee durch den Kopf schwirrte. Könnte man diese Segelreise nicht einfach um ein, zwei Tage auf diesem Eiland im Meer verlängern? Könnte man nicht? Man könnte doch vielleicht?
Hatte uns unser erster Schlag dieser Kreuz also weit nach Norden geführt, sollte die Wende kurz hinter Helgoland uns nun direkt in die Ansteuerung auf die Elbzufahrt bringen. Die Wende lief gut, aber schon kurze Zeit später triezte Christian mich, ich solle mich nun endlich entscheiden: Elbe oder Weser. Und in der Tat eierte ich schon eine gewisse Zeitlang mit unserem Boot so vor mich hin. Ich hatte den Wind verloren! Eine Sache, die uns sehr bewusst wurde auf diesem Törn, war der Unterschied, der zwischen, etwas theoretisch verstanden zu haben und es praktisch umsetzen zu können, bestand. Sicher hatte auch ich mittlerweile kapiert, was die berüchtigte Windkante denn wohl sein sollte, an der wir segeln wollten. Aber was brachte einem das, wenn der eben noch so lustig pustende Wind plötzlich weg war oder doch mehr von querab kam als eben noch? Anluven, abfallen, anluven – hundert Mal und mehr spielten wir dieses Spiel mit dem Nordseewind an diesem Tag. Windfäden, Verklicker, Kompass, das Vorliek des Vorsegels – alles gab Hinweise, alles sollte man beachten. Irgendwann war die Konzentration dann futsch, und ich dankbar für eine Ablösung.
Cuxhaven ließ sich dieses Mal bei Tageslicht schon vom Meer aus begutachten. In Sicht kam auch der Campingplatz auf der Betonplatte, über den wir unlängst eine Dokumentation im Fernsehen gesehen hatten. Ich bedauerte die Leute dort. Sicher, war der Blick auf die Schiffe schön und interessant. Doch um wie vieles besser war es, sich auf einem solchen zu befinden und diese Tristesse weit hinter sich zurücklassen zu können?!
Unter Vollzeug rauschten wir schließlich in den Amerikahafen. Christian wollte dort noch schnell unsere Wasservorräte nachfüllen, bevor es noch ein Stückchen weiter elbaufwärts gehen sollte. Was man nicht alles tat der Tide und des richtigen Windes wegen. Also schnell die Leinen los und weiter.
Eine ganze Reihe Segelboote genoss so wie wir die guten Bedingungen an diesem Abend. Mit vier Beaufort griff der Wind in unsere Genua und trieb uns flott voran. Immer wieder mal mussten wir dem einen oder anderen etwas ausguckschwachen Mitsegler und motorisierenden Kapitän ausweichen. Manche schienen es da ganz wie die Autofahrer zu halten: Vorne ist da, wo ich bin, und wo ich bin, herrscht Vorfahrt. Nun ja…
Unsere Route führte uns an diesem Tag noch bis nach Rhinplatte bei Glückstadt, wo wir ankern wollten. Knapp hundert Seemeilen hatten wir bis dahin achteraus gelassen, unser bis dahin längster Schlag.
Rhinplatte erreichten wir bei Sonnenuntergang. Dasselbe goldene Licht, das uns am Morgen auf Spiekeroog verabschiedet hatte, nahm uns hier nun wieder in Empfang. Neben uns ankerte noch ein Plattbodenschiff, was in Ergänzung zum Sonnenuntergang, dem Naturschutzgebiet vor und hinter uns sowie unter gewissenhaftem Ignorieren des AKWs im Norden erneut ein herrliches Postkartenmotiv ergab. Aufmerksam verfolgte ich dieses Mal das Ankermanöver, während unterdecks bereits die andere Hälfte der Crew mit den Vorbereitungen fürs Abendessen befasst war. Der Kuckuck rief über das Wasser, ansonsten war es still.
Nach dem Essen schauten wir an Deck noch einmal nach dem Rechten und nach den Sternen darüber. Zu hell war es hier, als dass man die Milchstraße hätte sehen können, trotzdem war das Meer der fernen Lichter beeindruckend schön. Jedes einzelne von ihnen eine ferne Sonne mit eigenen Welten. Astronomie war ein Fachgebiet, bei welchem man noch zu Lebzeiten quasi echte Quantensprünge in den Erkenntnissen miterleben konnte. Als Teenager hatte ich angefangen, mich für dieses ferne Lichtermeer zu interessieren – sicherlich auch motiviert durch das Dachfenster meines Kinderzimmers. Damals wusste man nicht, was Quasare sind und hatte mitnichten Belege für ferne Planetensysteme geführt. Man hatte sich noch in der Ignoranz der einzig belegten Existenz sonnen können. All das war nun mittlerweile erforscht worden ebenso wie die Landung einer Raumsonde auf dem Nukleus eines Kometen, die im nahen Vorbei- bzw. im Anflug aufgenommenen Bilder von Jupiter und später von Pluto, den Verlust desselbigen als Planeten bedingt durch die Erkenntnis, dass noch so viele andere Objekte seiner Größe im anschließenden Kuipergürtel um die Erde ihre Bahnen zogen und so vieles mehr. Alles in diesen wenigen Jahren – wie viel mochte noch vor uns liegen, das wir noch lange nicht erforscht, geschweige denn begriffen hatten?
Ein letzter Blick, dann hieß es ab in die Kojen, denn hier unten beherrschte weiterhin die profane Tide unseren Lebensrhythmus.