Freiheit,
das ist es, was man auf dem Boot empfindet. Grenzenlose Freiheit â
Freiheit als Möglichkeit, als wĂŒrde das ganze bisherige Leben von
einem abfallen. Es geht nicht mehr um die Rollen, die man bisher
auszufĂŒllen bestrebt war, nicht um die Wahrnehmung oder
WertschĂ€tzung der anderen diesen Rollen gegenĂŒber. Denn keine von
diesen ist hier noch mit Sinn erfĂŒllt.
Auf
dem Wasser, auf dem Boot mit dem Wind in den Segeln wird das Leben
basaler. Es ‚einfacher‘ zu nennen, wĂ€re ĂŒbertrieben, kann es doch
ĂŒber alle MaĂen komplex bleiben. Aber es ist ein Leben im Hier und
Jetzt â planbar manchmal nur fĂŒr wenige Stunden. Man liest die
Wolken, man hofft auf gĂŒnstige Winde.
Man begreift sich als Reisender, der sich mit dem Weg befasst, das Ziel aber erst vage in den Blick genommen hat. Denn es lĂ€sst sich so eventuell gar nicht verwirklichen, vielleicht kommt alles ganz anders. Rollenkonzepte, SelbstĂŒberschĂ€tzung â wozu soll das HIER nutze sein?
All
das wird einem bewusst auf dem Fluss, der zum Meer fĂŒhrt, dem man
ganz unweigerlich folgt, sucht man sich selbst.
‚Nun geh‘ mal und mach‘ Dein Schiff klar!‘ Was fĂŒr ein Satz! Was fĂŒr eine wundervolle Aussage: ‚mein Schiff.‘ DarĂŒber gerĂ€t man ins TrĂ€umen, auch wenn Robert sicher zu Recht das eigene Boot als Loch im Wasser beschrieb, in das man ohne Ende Geld hinein fĂŒllen könnte und trotzdem…
An diesem Tag hieĂ Christians Ansage fĂŒr mich erst einmal nur, dass ich die âHamburg Expressâ von der einen Seite des Stegs zur anderen bringen musste, damit wir spĂ€ter leichter wĂŒrden ablegen können. Am PrĂŒfungstag war ich Skipper of the day, meine Aufgaben als solcher also ĂŒbersichtlich, worĂŒber ich mehr als froh war, hatte ich in der Nacht zuvor doch so gut wie gar nicht geschlafen. Alexander erzĂ€hlte spĂ€ter, ich hĂ€tte in der Koje gesessen und Kommandos erteilt. Gut möglich, ging ich in jener Nacht doch jedes geĂŒbte Manöver Mal um Mal im Kopf erneut durch. Die anstehende PrĂŒfung lieĂ keinen von uns kalt, aber wir stellten uns ihr trotzdem alle tapfer. Heute verfĂŒge ich nun ĂŒber ein lustig buntes Quartett an BefĂ€higungsnachweisen des DSV. Welche Karte wollen wir heute spielen? See oder Binnen, SRC oder UBI? SKS sticht!
Der letzte Tag brach so vielversprechend an, wie der letzte geendet hatte. Die Sonne schob sich ĂŒber den Horizont und wir uns zurĂŒck ins Elbfahrwasser. Immer noch wehte uns der Wind mit mĂ€Ăiger Kraft aus Ost entgegen, immer noch hieĂ es also kreuzen. Von Buhne zu Buhne, das Lot fest im Blick ging es stromaufwĂ€rts. Wir wechselten uns am Ruder ab, und man stellte allgemein erleichtert fest, dass die AusreiĂer am Schiff lagen und nicht am RudergĂ€nger. Es fuhr auf dem Steuerbordbug einfach weniger ruhig, als auf dem Backbordbug. Gewitzelt wurde natĂŒrlich trotzdem ĂŒber die gefahrenen Schlangenlinien. Na ja, vielleicht hatten sie auch einfach recht. Etwas zu viel Steuer gegeben und schon schlingerten wir, abfangen und Wende und ganz easy auf Backbord zur anderen Seite und Wende und im selben Slalomlauf zurĂŒck. Aber war das hier nicht auch ein Ausbildungstörn? Sylke zeigte uns spĂ€ter, wie es richtig geht, als sie in kleinen und kleinsten SchlĂ€gen zwischen dicken Pötten und dem MĂŒhlenberger Loch mit uns kreuzte. Schon klar, warum Christian sie fĂŒr die Regatta ans Ruder gestellt hatte.
Ich wurde derweilen ganz wehmĂŒtig, blickte zurĂŒck auf den Fluss und die vergangenen herrlichen Tage. Nun, da der Strom langsam an Breite verlor, wurde auch das Leben fĂŒr uns wieder stromlinienförmiger. Noch einmal ausschlafen, dann wieder BĂŒro, wieder Alltag wie immer. Wieder ein Montag bis Freitag, ein Wochentags- und Wochenendsleben mit Regeln und mehr oder weniger klaren Zielen, die das Denken bestimmen und beschrĂ€nken. BĂŒromenschendasein, wenn alles in einem nach dem Da-DrauĂen schreit, und man es doch nur hinter der Glasscheibe des eigenen Daseins erleben konnte. Wie schön war es dagegen auf diesem Schiff! VerhieĂ es uns doch, mit uns zu ganz neuen Welten zu segeln â auch wenn diese letztlich klein und beschaulich mitten im Schlick lagen. Aber immerhin, hatten wir nicht alle noch ein bisschen Sand in den Schuhen von Spiekeroog?
Als Kind habe ich mit Begeisterung âDie Acht vom groĂen Flussâ gelesen â eine Jugendbuchserie Ă€hnlich wie âDie fĂŒnf Freundeâ, nur eben drei mehr und ohne Hund, dafĂŒr aber mit Elbe. Heute, so viele Jahre spĂ€ter, bin ich nun selbst Teil eines groĂen Abenteuers auf diesem Fluss â oder, besser gesagt, fĂŒhle mich als ein solcher â der uns ohne groĂe Umschweife hinaus in alle Weiten der Welt tragen konnte. Leinen losgeworfen, Segel gesetzt und schon ist man mitten drinnen in dieser herrlichen ErzĂ€hlung von Freiheit und AbenteuerâŠ
Diese Geschichte könnte ihren Anfang am besten in ihrem Ende nehmen, in diesem Ende am Dienstagvormittag nach Pfingsten auf der Elbe kurz hinter Wedel. Ich sitze auf dem SteuerbordsĂŒll unserer âHelgoland Expressâ und starre in die Ferne, deren Teil wir gerade noch gewesen waren. Wehmut â klingt vielleicht kitschig, war aber das richtige Wort fĂŒr diesen Moment. Wehmut bei der Einsicht, dass in demselben MaĂe, in dem das Fahrwasser der Elbe immer schmaler, auch unser Leben wieder enger und enger wurde. Noch ein paar kurze Stunden, dann wĂŒrden wir wieder als jene AnzugtrĂ€ger von Bord gehen, als welche wir gekommen waren, bevor wir â dazwischen â was wurden?
Ich habe es immer ĂŒbertrieben gefunden, Freiheit als ein GefĂŒhl zu bezeichnen. Nein, der rationale Teil von mir hatte es auch fĂŒr sachlich schlicht falsch erklĂ€rt. Freiheit ist ein Zustand mit zwei wichtigen Bestandteilen, nĂ€mlich der Abwesenheit von Zwang und dem Vorhandensein von Möglichkeiten, aber eben sicher kein GefĂŒhl â soweit also die Ratio. Aber waren wir nicht alle auch fehlbar? Und wenn ich eines mit den vergangenen fĂŒnf Tagen auf diesem Boot verband und wenn es eines gab, dem ich nun, in die Ferne starrend, nachtrauerte, dann war es genau das â das GefĂŒhl von Freiheit, das plötzlich möglich erschien. Das, was uns aus diesem ein- und festgefĂŒgten Dasein fĂŒr Momente herausgehoben und uns die Welt von oben gezeigt hatte, wie Carl Sagans zweidimensionale Wesen nach einem unvermuteten Luftsprung plötzlich in der dritten Dimension das Innerste ihrer Genossen erspĂ€hen konnten â so einfach lieĂ sich das Unvorstellbare erklĂ€ren. Das war Freiheit, und genau diese sah ich nun in der Ferne entschwinden, denn vor uns lag die Stadt mit ihren Jobs, Rechnungen, Versicherungen und all dem anderen. âDoch eines können sie uns nun nicht mehr nehmenâ, dachte ich spĂ€ter, âund das ist der Sand in den Schuhen von SpiekeroogâŠâ