SP 2018 – Tag 4: Spiekeroog: 61. Seestern-Gedächtnis-Regatta

Der Tag der Regatta begann mit spiegelnden Goldflüssen, welche die Morgensonne, vom Meerwasser reflektiert, durch die Achterluke in unsere Kajüte sandte. Ich blinzelte ein-, zweimal in diesen vielversprechenden Morgen und schlief dann noch herrliche drei Stunden weiter. Das Frühstück nahmen wir dann bei eben dieser Frühsommersonne im Cockpit zu uns wie fast alle anderen Crews im Hafen auch. Lärm kam allein von den Schwärmen von Austernfischern und anderen Limikolen, die sich mit schrillen Rufen über die Qualität der frühen Wattwürmer zu streiten schienen, nach denen sie eifrig stocherten.

Der offizielle Teil der Regatta begann dann zur Mittagszeit mit der Steuermann-Besprechung am Spiekerooger Segelclub. Dutzende von Crews hatten sich hier eingefunden, um Strecken- und Startmodalitäten in Erfahrung zu bringen. Wir zählten zur vierten von insgesamt fünf Startgruppen. Ein blaues Band am Achterstag würde unsere Gruppe kenntlich machen. Rund 75 Boote würden an diesem Tag an der 61. Seestern-Gedächtnis-Regatta teilnehmen. Sorgfältig prägten wir uns die Regattastrecke ein und zählten uns wechselseitig immer wieder die Namen der Konkurrenz aus unserer Klasse auf. Jeder von uns konnte später ganz genau sagen, welche Boote es galt, achteraus zu lassen. Mittlerweile hatte auch mich das Wettkampffieber gepackt, auch wenn ich sonst wenig von solchen Sportereignissen halte. In dieser Hinsicht, ich gebe es zu, nagt immer noch das Trauma des Schulsports an mir. Wenn man zu denjenigen gehört hatte, die der Lehrer beim Wählen der Mannschaften schlussendlich zuteilen musste, ist die spätere Begeisterung für Wettkämpfe welcher Art auch immer sehr, sehr übersichtlich.

Regatta-Kurs 2018
Regatta-Kurs 2018

Unser Startfenster war 13.50 Uhr. Christian bestimmte einen Zeitbeauftragten, und die Stoppuhr wurde gespitzt. Schließlich liefen wir zusammen mit all den anderen Booten aus. Das Fahrwasser vor Spiekeroog füllte sich mit mehr und mehr bunten Segeln. Eine Weile lang galt es für uns noch hin und her zu kreuzen, die Uhr fest im Blick, dann kam unser Startsignal. Als der Blitzknall sein Rauchwölkchen an den Himmel zeichnete, waren wir mehr als bereit, und ein Pulk von Booten schoss zeitgleich zur Startlinie – und eines von Steuerbord her quer in die gesamte Gruppe hinein. Ein großer Tumult brach aus ob dieser rowdiehaften Wildsegelei. Gebrüll, hektische Wenden, noch mehr Gebrüll. Ich verlor den Überblick in all dem Chaos. Jemand hätte das Startschiff gerammt, hieß es. Ich verdrehte mir den Hals danach, konnte aber nichts erkennen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass wir mittlerweile und trotz allem längst auf der Wettkampfstrecke unterwegs waren. Christian, wie immer einen kühlen Kopf bewahrend, hatte uns sicher ins Rennen geschickt, und unsere erste Regatta konnte beginnen.

‚Meine erste Regatta‘, beim Abendessen in Aachen, als ich mir die Sache das erste Mal richtig durch den Kopf gehen ließ, klang das noch verdächtig nach, ‚mein kleines Pony‘. Sicher, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt war mir klar, dass das sicher alles andere als ein rosaroter Kleinmädchentraum werden würde. Und ein wenig hatte ich unseren Skipper schon im Vorwege bedauert, war ich mir doch sicher, dass eine gute Platzierung, auf die er bestimmt spekulierte, mit uns als Mannschaft – nun, sagen wir es nett – herausfordernd werden würde. Und nun waren wir schon mittendrin.

Am Vormittag hatten die Nachbarcrews alles Mögliche von ihren Booten auf den Steg geschafft, um das Gewicht ihrer Schiffe für die Regatta zu optimieren. Diverse Bierkästen und Spirituosenflaschen vom Vorabend tauchten dort auf, und wir witzelten später darüber, ob wir nicht doch besser noch den Anker von unserem segelnden Wohnwagen abmontieren und zu Pütt un Pann auf den Steg legen sollten. Doch war unsere „Helgoland Express“ gar nicht auf solcherlei Spielereien angewiesen. Zuverlässig und gewandt segelte sie nun mit uns von Wendeboje zu Wendeboje, sich gut im Feld der Kontrahenten machend.

Spiekeroog, Regatta 2018
Spiekeroog, Regatta 2018

Die Crew hielt derweil die Augen offen nach der „Grauen Maus“ und dem „Buttpedder“ – der Konkurrenz aus unserer Klasse. Beide erspähten wir schon nach der ersten Wende weit abgeschlagen achteraus. Juhu, wir lagen vorn! Meine Aufmerksamkeit wurde zunehmend vom bunten Treiben um uns herum in Beschlag genommen. Immer wieder schossen kleinere Boote quer, und Christian nutzte gleich zweimal den Luxus einer Fahrtenyacht – das Schiffshorn – um die Crews entsprechend wildsegelnder Boote an ihre Ausweichpflicht zu erinnern. Die einen merkten es schnell, als sie aufgeschreckt unter ihrem Segel hervorlugten. Die anderen gar nicht. ‚Sind halt keine großen Guckis‘, kommentierte unser Skipper die Lage nach erfolgreichem Ausweichmanöver unsererseits.

Insgesamt war ich als völliger Regattaneuling sehr erstaunt, dass uns auf einigen Teilstrecken so viel Zeit blieb, das Geschehen rund ums eigene Boot so genau zu studieren und die Fahrt in der Sonne auch entspannt zu genießen. Ich hatte mir das Ganze wesentlich hektischer vorgestellt. Dass es das durchaus auch sein konnte, erfuhren wir später, als unser Bootsnachbar am Steg stolz verkündete, er hätte nur sechsmal das Segel wechseln müssen auf dieser Strecke. Wir dagegen schafften es ohne Wechsel des Segelkleids und vorheriger Zwangsdiät des Schiffsbauches und freuten uns über herrlichstes Segelwetter. Sonne satt. Der Fahrtwind kühlte auf den Am-Wind-Strecken, raumschots baumten wir die Fock aus, und ich schaute mich an den bunten Spis und Gennakern um uns herum satt. Besonders hübsch anzuschauen waren auch die Teilnehmer des letzten Startfensters – einige Plattbodenschiffe mit den typisch roten Segeln über Vollholzrümpfen. Wieder einmal bedauerte ich zutiefst, dass ich von Papas Tischlerfertigkeiten aber auch so gar nichts geerbte hatte, sonst stünde die Entscheidung für das Traumboot längst fest.

Spiekeroog, Regatta 2018
Spiekeroog, Regatta 2018

Der schönste Zuschauer der Seestern-Gedächtnis-Regatta auf Spiekeroog: ein Seehund, der sein Köpfchen neugierig aus dem Wasser reckte und das lustige Treiben der schnellen Boote mit den bunten Segeln zu begutachten schien. Hätte er gekonnt, ich bin mir sicher, er hätte sicher sein Köpfchen darüber geschüttelt. Wozu die Eile? Es ist doch Wasser genug für alle da…

Zwei Runden waren zu absolvieren: von der Startlinie aus nach Süden gen Neuharlingersiel, eine Wende zurück nach Norden gen Spiekeroog, eine Wende und westwärts gen Langeoog und zurück zum Startschiff für die nächste Runde. Es gab so viel zu sehen, dass die Zeit wie im Flug verging. Sylke stand am Ruder und manövrierte uns sicher durch das Geschehen. Eine der besten Gelegenheiten, diverse Ausweichregeln zu repetieren. Als besonderes Schmankerl navigierte auch noch die Fähre zwischen Insel und Festland durch das dichte Feld der Segelboote oder besser, dies um besagte Fähre drum herum.

Und dann wurde es spannend: die Ziellinie kam in Sicht, die Startnummer wurde an Deck geholt und gleich – da drängte uns doch glatt das grüne Boot, das uns schon einige Male während der Regatta frech nahegekommen war, auf den letzten Metern ab, schob sich vor uns und durchs Ziel. Gute Seemannschaft geht anders! ‚Hey, hallo!‘ das war der Moment für echte Entrüstung, aber Christian riet zur Ruhe. Und ja eigentlich war es auch egal, denn sie segelten nicht in unserer Klasse, und von Mäusen und Plattfischpiekern hatten wir schon seit gefühlten Stunden nichts mehr gesehen. Also Startnummer hochgerissen und rein ins Ziel. Das war’s. Juhu! Gefühlt hatten wir auf alle Fälle schon mal gewonnen.

Ich löste Sylke am Ruder ab, nun ging es nach Hause in den Hafen – zusammen mit allen anderen. Wir drehten eine Orientierungsrunde durchs Hafenbecken. Ja, der Liegeplatz war noch frei – gleich neben den Bierkästen und dem anderen Krams vom Nachbarboot. Also Segel bergen, Motor an und rein in die gute Stube. So ging ein weiterer herrlicher Segeltag langsam zu Ende.

Auf dem Plan stand nun als nächstes das wohlverdiente Abendessen: Kartoffelgratin, Grillkäse, Salat und für die Nichtvegetarier ein Hühnerbein. Das Ankerbier wurde an diesem Abend um ein wohlverdientes zweites ergänzt. Satt und zufrieden harrten wir der Siegerehrung, die im Segelclub am selben Abend noch stattfinden sollte. Das Ereignis war für 21 Uhr angesetzt. So wogen wir uns schon vor Beginn in der Gewissheit, dass dies nur ein kurzes Gastspiel unsererseits auf dem Regattaball werden würde, denn für den nächsten Tag stand die Heimreise und damit das Auslaufen mit dem Morgenhochwasser schon fest. Das hieß, um fünf Uhr würden wir wieder losmachen müssen. Also wie viele Stunden Schlaf? Es gibt Momente im Leben, da rechnet man lieber nicht so genau… Egal, bis dahin war es ja noch etwas Zeit. Grund genug, ein wenig stolz zu sein, hatten wir allemal. Immerhin waren wir keine jahrelang eingespielte Crew, sondern gerade mal drei Tage zusammen auf dem Wasser unterwegs, und unsere „Helgoland Express“ war sowieso eine Kuriosität für sich im flachen Wattfahrwasser. Also: freuen – jetzt!

‚Das war Können!‘ schallte ein bereits deutlich angetrunkener Ruf aus den hinteren Reihen, als die Regattaleitung kritisch das Tohuwabohu ansprach, das unsere Startsequenz so durcheinander gewirbelt hatte. Die Preisrichter hoben ob dieser Uneinsichtigkeit missbilligend die Augenbrauen. Allgemeines Kopfschütteln. Dann ging es endlich an die Preisverleihung.

Spiekeroog, Regatta 2018
Spiekeroog, Regatta 2018

Für uns gab es dann noch eine unerwartete Überraschung, wies doch unsere Bootsklasse plötzlich zwei weitere Mitstreiter auf, die bei der Steuermann-Besprechung noch nicht auf dem Plan gestanden hatten. Und auch wenn wir deutlich schneller als Mäuse und Plattfischpiecker gewesen waren, hatte man uns zu guter Letzt in Gemeinschaftsarbeit doch noch überholt. Der Skipper der „Teamwork“ strahlte ins Publikum, und Christian kehrte etwas irritiert mit Silberschiffchen und der aus dem Geschenkeboot geangelten Dose Isolierspray an unseren Tisch zurück. Wir witzelten darüber, wer letztere wohl als erstes auf seinem Kaminsims würde drapieren dürfen, fotografierten eifrig unser Schiffchen, reichten es von Hand zu Hand und freuten uns über unsere Platzierung. Als die Regattaleitung schließlich die Tanzfläche freigab und wie aufs Stichwort die Liedzeile „Verstand über Herz“ erklang, nahmen wir selbige wörtlich, machten uns auf den Weg zurück zum Boot und zu einer viel zu kurzen Nacht.

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SP 2018 – Tag 3: Spiekeroog: Regattatraining und Old Laramie

Erst gute zwölf Stunden später kehrte wieder das Leben auf unser Schiff zurück, das nun leise gluckernd aus seinem Schlammbett wieder aufschwamm. Nie hätte ich vermutet, dass unser 1,70-Kiel einfach so im Schlick würde untergehen können. Vor dem inneren Auge hatte ich beim Gedanken ans Trockenfallen schon der Reihe nach umgekippte Yachten im Hafen vor mir liegen sehen. Allerdings riet mir meine innere Stimme nun auf Grund der jüngsten Beobachtung auch eindringlich vom Wattwandern in diesem Gebiet ab – 1,70 war der Tiefgang unserer Yacht, ich war 1,75 groß…

Zum Geschrei der Austernfischer nahmen wir ein opulentes Frühstück im Cockpit ein. Und während am Strand die Limikolen auf ihren Stockbeinchen Wattwürmer pickten, verschlangen wir Brötchen um Brötchen. Strahlender Sonnenschein zeigte uns Hafen und Insel von ihrer schönsten Seite. Der Landgang führte uns zuerst zum Supermarkt um die Ecke zwecks Aufstockung unserer Vorräte. Dort trafen wir so ziemlich alle anderen Crews der Nachbarboote wieder. War klar oder?

Spiekeroog Ort 2018
Spiekeroog Ort 2018

Gleich am ersten Deich schossen wir auch einen Fasan – Martin ergatterte das beste Foto, ich bekam ihn gleich dreimal vor meine Linse. Scheu waren die Tiere hier wirklich nicht. Von wegen Fluchtdistanz… Danach führte uns unser Weg durch ein Blumenmeer an verschieden farbigen Rhododendronbüschen und duftenden Heckenrosen in ein verträumtes Dorf mit Reetdachhäuschen und Straßencafés. Ein Postkartenmotiv nach dem anderen bot sich uns so dar. Das einzige, das hier durch die Gassen flitzte, waren Fahrräder, denen man auch besser auswich, denn die Abwesenheit von Autos reizte sie offensichtlich zu den kühnsten Manövern – Bierbauch hin, Bierbauch her. Unterwegs trafen wir Christian, der sich fürsorglich erkundigte, ob wir denn auch schon den Strand gesehen hätten. Hatten wir nicht, wollten wir aber unbedingt. Die Richtung war klar – hey, wir waren auf einer Insel, wie weit konnte das Wasser da schon sein? Weiter, wie wir bald merkten.

Spiekeroog Ort 2018
Spiekeroog Ort 2018

Zwischenzeitlich hatten wir den Eindruck, durch Nachbars Garten zu schleichen, wurden die Fußwege durch den Ort doch schmal und schmaler. Eine Katze räkelte sich faul zu unseren Füßen. Wohin so eilig, schien sie zu fragen, und man konnte es ihr angesichts der Ruhe in diesem Ort auch nicht verdenken. Unser Zeitplan allerdings war immer noch tidenabhängig. Mittags wollten wir zum Regattatraining auslaufen, also flux noch schnell zum Strand. Allerdings mussten wir feststellen, dass mit ‚flux‘ hier nichts zu reißen war. Wir kamen in einen breiten Dünenstreifen. Auf dem höchsten dieser norddeutschen Gipfel angelangt, erspähten wir den Strand in für unseren Zeitplan unerreichbarer Ferne. Erst viel später an diesem Tag würden wir ihn dann tatsächlich zu Gesicht bekommen, wenn unser Weg dem Larimie-Reiter folgen würde.

Das Regattatraining war Spaß pur. Zwölf Stunden Schlaf hatten uns zu neuem Leben erweckt – und dann die Sonne, ein frischer Wind für unsere Segel, was wollten wir mehr? Im Fahrwasser vor Spiekeroog tummelten sich bereits die verschiedensten Boote. Kleine Jollen, Contender, in deren Trapezen die sportliche Jugend hing, Jollenkreuzer und bald auch unser besegelter Wohnwagen. Für einen Wohnwagen waren wir allerdings ganz schön flott unterwegs.

Wir nutzten die Gelegenheit, verschiedene Segeltypen auszuprobieren. Den Anfang machte der Gennaker, dessen Stoff verheißungsvoll wie Geschenkpapier raschelte, als wir ihn hochzogen. Einmal voller Wind zog er uns in rauschender Fahrt über das Wasser. Juhu, was für ein Spaß! Leider erwies er sich letztlich aber doch als zu unhandlich. Unser Kurs würde ein stetiges Einholen und Neusetzen erfordern – ja, kann man machen – allerdings würden wir dafür definitiv mehr Übung brauchen, als wir derzeit aufweisen konnten. Zumindest für Alexander und für mich war es schließlich das erste Mal, dass wir mit dieser Art Segel arbeiteten, vielleicht nicht die beste Voraussetzung für die Nutzung desselben bei der Regatta am nächsten Tag. Christian seufzte bei derselben Erkenntnis in sich hinein. Doch glaube ich, hatte er seiner Crew diese Schwäche bald wieder verziehen – spätestens als wir alle ganz entspannt am nächsten Tag beobachten konnten, wie andere Crews mit ihren Segeln kämpften. Da wurde gebrüllt und wie wild an den Fallen gezerrt. Wild schlagende Segel, hinter der Fock verkeilte Gennaker – wir bekamen alles zu Gesicht – am schönsten war der Knoten in einem knallroten Gennaker am Nachbarboot – klarer Fall von Schadenfreude. Alle ließen wir hinter uns.

Auch die Genua probierten wir aus und verstauten sie dann wieder wohlweislich in der Backskiste. Mit der simplen Fock würden wir im Wortsinn am besten fahren. Mag langweilig klingen, aber manchmal sind die einfachsten Dinge auch die besten.

Viel zu früh drängte uns die Tide an diesem Tag wieder zur Heimfahrt in den Spiekerooger Hafen. Ohne sie wären wir sicher einfach immer weiter gesegelt, aus purem Spaß an der Freude. Auf dem Rückweg lernte ich dann auch zum ersten Mal kennen, was die Leute als Hafenkino bei anderen genießen und bei sich selbst so zu fürchten scheinen. Hafenmanöver stehen bei Roberts Skippertrainings immer ganz oben auf der Wunschliste der verschiedenen Teilnehmer. Noch kaum einer, der oder die mit uns zu diesen abendlichen Lektionen in den Köhlfleet gesegelt war, hatte nicht schon gleich beim An-Bord-Kommen verkündet, er oder sie wolle Hafenmanöver fahren üben. Gut, haben wir gedacht, kann man machen, ist wichtig, aber Segelmanöver sind trotzdem viel spannender und lustiger. Warum nur wollten all diese Leute die wenigen schönen Stunden auf dem Wasser motorend direkt am Steg verbringen?!

Klar, um das Folgende später dann möglichst zu vermeiden. Tags zuvor hatten wir es mit noch ausreichend Platz gut rückwärts in unsere Box geschafft. Der Plan sah vor, das an diesem Nachmittag zu wiederholen. Leider wurde daraus nichts – weder das mit dem gut noch das mit der Wiederholung überhaupt. Frustriert stellte Martin am Ruder fest, dass unsere „Helgoland Express“ doch eher der Wohnwagen unter den Segelbooten war. Zu träge, um den Bewegungen des Steuers unmittelbar zu folgen, schafften wir den notwendigen Bogen in die Box nicht – zur großen Freude und Belustigung der Crews in den Cockpits der Nachbarboote. Wie war das noch mal gleich mit der Schadenfreude?! Christian blieb cool, bot die Spottmäulern Popcorn an und dirigierte Martin dann mit geänderter Taktik sicher und problemlos vorwärts in die Box hinein. Geschafft! Das Anlegerbier hatten wir uns heute wirklich verdient!

Nachdem wir etwas später dann mit segelertypischem Heißhunger das Abendessen auf dem Boot vertilgt und das Töpfe-Tetris nach dem Abwasch beim Klarschiffmachen schließlich gewonnenen hatten, wartete an diesem Abend noch eine schöne Überraschung an Land auf uns. Die Sonne ging glutrot über der Insel unter und voller Glut sollte es danach noch etwas weitergehen. Zu Fuß machten wir uns auf zum letzten Haus am Westende der Insel – last homely house, sozusagen – immer entlang der Schienen der alten Pferdebahn. Christian erklärte, dass der Fähranleger noch gar nicht sehr lange so nah am Dorf lag, sondern früher die Touristen notwendig auf eben jene Pferdebahn angewiesen waren, um vom westlichen Fähranleger zu ihren Ferienwohnungen im Dorf zu gelangen.

Blaue Stunde
Blaue Stunde

Es dämmerte bereits, als wir nach diesem Spaziergang immer zwischen Salzwiesen und Deich entlang endlich unser Ziel erreichten. Eine Schlange Wartender am Eingang verriet uns, dass wir aber keineswegs zu spät gekommen waren. Das „Old Larimie“ lud erst ab 21 Uhr zum Konzert, von welchem wir bis dato noch gar keine Ahnung hatten. Kurzentschlossen bogen wir an dieser Stelle noch einmal ab, nutzten die Gelegenheit und Christians Ortskundigkeit, um doch wenigstens noch einmal den Strand zu sehen. Wir kamen, sahen und – waren baff. Vor uns lag ein endloser weißer Sandstrand, dahinter das Watt, auf dem einige Kurzkieler trockengefallen waren. Deren Crews saßen nun gemütlich bei kalten Getränken in vereinzelten Grüppchen verteilt und plauderten sich in die beginnende Nacht. Wie gemalt lag diese Szenerie nun vor uns zur schönsten blauen Stunde. Die Ankerlichter der Yachten erschienen als lockende Irrlichterchen im Watt, und wir folgten ihnen willig. Fast schon magisch erschien die Landschaft um uns herum. Wir sogen diese Bilder tief in uns auf. Freiheit – hatte ich das schon erwähnt? Was konnte es Besseres geben…

Wir witzelten über die Mädelscrew, die ein neues Trinkspiel auf dem Watt erfunden hatte – sehr zur Freude des mitreisenden Schiffshundes, der hechelnd von einer zur anderen wetzte. Angefüllt mit den schönsten Seebildern kehrten wir schließlich zu unserer Verabredung im „Old Larimie“ zurück. Dort war es mittlerweile richtig voll. Jeder Quadratzentimeter – man mag es in Norddeutschland ja gar nicht sagen, aber – des Biergartens war voller feiernder Menschen. Alle Altersstufen waren vertreten und, wie unschwer an den Klamotten festzustellen, nicht wenige davon Segler. Wie alle bestellten auch wir Bier, gesellten uns dazu und nur wenig später sang ich mit wachsender Begeisterung die eingängigen Refrains der Lieder von Jonny Glut mit, der sich an diesem Abend mit seiner Band die Ehre auf der Bühne der Kneipe gab und von dessen Musik Christian so schön gesagt hatte: ‚ Entweder man hasst es, oder man liebt es, aber es ist nur schwer zu ignorieren.‘ Wie passend nach den Erfahrungen des Vortrages erschien mir dort nun die Mal um Mal intonierte „Odysee“. Alexander witzelt seitdem über einen neuen Fankult meinerseits, aber was soll’s, ich fand’s toll!

Um elf wurde dann eine Pause angekündigt, die wir ungern, aber doch für den Aufbruch nutzten. Schließlich wollte unser Skipper am nächsten Tag mit uns eine Regatta segeln. Schweren Herzens, aber doch auch beschwingt, verließen wir also diese urige Stätte, die mehr wie ein Strandgut wirkte, denn wie eine echte feste Behausung. Sylke lichtete noch eben den am Dachbalken vor sich hin vegetierenden Scheinwerfer ab, während sich die helfenden Hände am Bierausschank selbst zuprosteten. Wer sagte, dass Arbeiten nicht auch Spaß machen durfte? Mit dem einen oder anderen Ohrwurm auf den Lippen machten wir uns also auf den Weg zurück zu unserem Schiff. Auch wenn ich dort keine einzige Münze in irgendwelches Wasser geworfen hatte, wie man in Rom und anderswo ganze Brunnen fürs Stadtsäckel füllte – so hatte ich doch längst fest beschlossen, dass ich hier unbedingt noch einmal wieder würde herkommen müssen. Schließlich hatten wir alle spätestens seit diesem Abend ’noch Sand in den Schuhen von Spiekeroog…‘

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SP 2018 – Tag 2: Cuxhaven – Spiekeroog

Leider kann Freiheit auch bedeuten, dass einem schlecht wird und zwar so richtig schlecht. Das traf fast die ganze Crew auf dem ersten langen Schlag dieser Reise von Cuxhaven nach Spiekeroog. ‚So ist das also, wenn man seekrank ist‘, dachte ich noch und dann hing ich auch schon über der Reling. Gut nur, dass ich noch nicht allzu viel gegessen hatte an diesem Tag, der nach einer sehr kurzen Nacht morgens um vier im Amerikahafen in Cuxhaven begonnen hatte. Wir hatte Westwind und mussten also aus der Elbmündung gegen an. Wind gegen Strom baute einen entsprechenden Seegang auf, der sich nun lustig mit der Dünung der vorherigen Stark-Wind-Wettertage mischte. Hart schlug unsere „Helgoland Express“ immer wieder in das eine oder andere Wellental. Mit Schaudern erinnerte ich mich an Hendriks Erzählung vom Vortag. Sechs Meter wären die Wellen hoch gewesen bei seiner letzten Regatta. Diese hier schafften es gerade mal auf einen und schon das war mir mehr als genug.

An Backbord zogen mittlerweile all die gefürchteten Untiefen der Deutschen Bucht vorüber. Über Scharhörnriff brodelte und schäumte das Wasser. So hoch türmten sich dort die Grundseen, dass ich zunächst glaubte, weiße Dünen an Land zu sehen. Schon seltsam, was dieses Meer uns alles zu zeigen vermochte. Stundenlang starrte ich übermüdet auf seine Wellen und verstand sehr bald, wie all das Seemannsgarn von Monstern aus der Tiefe in früheren Jahrhunderten hatte gesponnen werden können. Sahen nicht viele der Wellenberge aus wie die Buckel unbekannter Tiere, die sich vor uns aus dem Schoße des Meeres erhoben? Das Meer hat so viele Gesichter. Immer wieder zeigt es uns, wie klein und unbedeutend wir doch sind. Eine 43-Fuß-Yacht ist nichts nach seinen Maßstäben. Bei einem Vortrag, den ich kürzlich beim Tag der offenen Tür beim BSH in Hamburg hören konnte, zeigte der Referent unter anderem ein Video von einem Kreuzfahrtschiff auf hoher See. Seitdem weiß ich, was ‚das Rollen eines Schiffes‘ bedeutete und dass ich diese Erfahrung lieber nicht so bald am eigenen Leib machen wollte. Sehr passend dazu ein Song von Jonny Glut aus dem „Old Laramie“, das wir auf dieser Reise auch noch kennenlernen würden: „Odysee“ – oh, die See – Sehnsuchtsort, Fernwehort – Freiheit, Herausforderung – körperlich, geistig, seelisch. Etwas, von dem man nicht mehr lassen konnte, wenn es einen gepackt hatte, auch wenn es manchmal besser wäre.

Gott sei Dank, bewahrheitete sich an diesem Tag noch eine weitere Seglerweisheit: Steuern hilft! Die nächsten Stunden waren also gerettet. Unser Kurs hieß ‚hoch am Wind‘ – so konnte man also auch navigieren…

Die Nordergründe hatten wir zwischenzeitlich hinter uns gebracht – noch so eine sagenumwogene Untiefe. Wie viele Wracks waren dort auf unserer Seekarte verzeichnet? Entschieden zu viele, aber wir kreuzten sicher über ihre letzten Ausläufer hinweg. So viel Tiefgang, dass sie uns gefährlich werden konnten, hatten wir dann, Gott sei Dank, doch nicht.

Am späten Nachmittag tauchte vor uns endlich ein langer weißer Sandstrand auf. Nach einem sehr langen Tag, mit wenig Schlaf und Essen, dessen Reste die meisten von uns auch glücklich über Bord befördert hatten, waren wir alle froh, endlich anzukommen. Wir froren alle. Inklusive Ölzeug trug ich an diesem Tag alles, was mein Zwiebelschalenschichtmodell herzugeben vermochte. Trotzdem war mir eiskalt – trotz der neuen Seestiefeln, dichten wohlgemerkt, und allem… Dabei war es nur bewölkt, kein Regen, nur viel scheinbarer Wind von vorn. Wie herrlich also, dass endlich diese Insel, das lang ersehnte Ziel, in Sicht kam. Aber von wegen Spiekeroog! Wir waren durch den Strom ein gutes Stück östlich versetzt worden und schauten nun also auf die Ausläufer von Wangerooge statt auf die von uns ersehnte Insel. Bis zum Spiekerooger Hafen war also noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Immerhin weckte die Aussicht auf den Endspurt in uns die noch verbliebenen Lebensgeister, und wir boten entschlossen alles auf, um gegen Wind und Strom voranzukommen. Später, als wir unseren Track in der Aufzeichnung auf dem Plotter noch einmal anschauten, wurde schnell klar, warum Christian auf die wiederholte Frage, wie wir denn vorankämen, gesagt hatte: ‚Frag‘ besser nicht.‘ Die ersten Kreuzschläge machten nicht mal eine lumpige Seemeile gut. Es wäre nicht übertrieben festzustellen, dass das Kreuzen gerade noch so verhindert hatte, dass wir rückwärts trieben. Sylke hatte da von Anfang an so einen Verdacht, und so suchte sie am Strand vor uns nach einem Wegpunkt, der uns erkennen lassen könnte, ob wir uns denn relativ zu diesem überhaupt in die gewünschte Richtung bewegten. Sie fand das Gesuchte im parkenden Traktor des Küstenschutzdienstes. Dumm nur, dass sich dieser ausgerechnet in jenem Augenblick selbst wieder in Bewegung setzte, als wir meinten, wieder etwas Fahrt aufgenommen zu haben.

Glücklicherweise wurden unsere Kreuzschläge schließlich tatsächlich wieder länger, und langsam, aber sicher erreichten wir so das Westende von Wangerooge. Und nun? Wie weiter? Der ursprüngliche Plan war ja gewesen, nördlich an Spiekeroog vorbei zu segeln und dann mit der Flut über die Barre an der Otzumer Balje ins Seegatt – doch das war, wohlgemerkt, der Plan gewesen, als wir noch meinten, Spiekeroog direkt anzulaufen und nicht mit knapper Not die Insel nebendran zu erwischen.

Das Zeitfenster, das uns die Tide vorgab, war mittlerweile so eng, dass unser Skipper – Zahlen und Daten sicher im Kopf – eine Alternative ertüftelte. Lieber doch nach Süden und dort durchs Wattfahrwasser. Aye, aye! Also vorn rum um die Spitze von Wangerooge und dann bloß gut klar halten von der Gefahrentonne, die – wo noch mal genau? – ah, da – ohh, daaa!!! – eine viel zu weit ins Fahrwasser hineinragende Buhne markierte, fast so als strecke Wangerooge klammheimlich unter dem Tischtuch der Nordsee die Hand nach der Nachbarin aus. Nur gut, dass wir mit Christian einen Ortskundigen an Bord hatten. Wir wären nie im Leben darauf gekommen, dass man so etwas so bauen würde. Zwangsläufig ein klares Hindernis für alle Revierneulinge – und eine sichere Methode den Touristenzustrom vom Meer her auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren… Doch war der aufregende Teil der Reise damit noch keineswegs zu Ende, sondern fing gerade erst an.

Wattfahrwasser bei Spiekeroog 2018
Wattfahrwasser bei Spiekeroog 2018

Die Fahrt durchs Wattfahrwasser war ein Erlebnis für sich. ‚Kreuzen geht hier nicht‘, lautete die klare Ansage von unserem Skipper und, ‚es gibt da ’ne Stelle, da stehen in der Karte zehn Zentimeter.‘ Schluck! Unsere Blicke waren in den folgenden Stunden quasi am Lot festgeschraubt. Nur ab und an schauten wir auf und hinüber zu den wiegenden Pricken im Watt. ‚Damit die Seehunde auch mal…‘ Nur hoffentlich nicht gerade jetzt unter unserem Kiel, wo wir sowieso gerade so wenig Wasser hatten, andererseits konnte natürlich jeder Tropfen helfen… Selten hatten wir auf diesem Törn den Kurs so eisern eingehalten wie hier. Immerhin hatte unsere Gib Sea einen Tiefgang von 1,70 m und auch wenn wir alle nur zu gerne endlich im Hafen von Spiekeroog einlaufen wollten, welches sich nun scheinbar endlos steuerbords an uns entlang zog, so wollten wir doch eben gerne auch in einem Stück ankommen und nicht die Hälfte hier auf den Sänden zurücklassen. Christian dirigierte unsere Steuerfrau beharrlich an den ostfriesischen Salzwasserbirken vorbei, wie Martin sie so schön getauft hatte. Dann kam besagtes Flach. Christian unter Deck am Plotter, ich am Lot, Sylke am Steuer: 2,70 – 2,50, – 2,30 – 2,20 – 2,30 … Geschafft. Wir hatten unsere Handbreit Wasser unter dem Kiel behalten.

Ich weiß gar nicht mehr, wer von uns an diesem ersten Tag auf Spiekeroog angelegt hat. Wohl weiß ich aber noch, wie erstaunt wir alle waren, den kleinen Hafen bereits so gut belegt vorzufinden. Boote aller möglicher Klassen lagen dort schon an den verschiedenen Stegen: Jollenkreuzer und Plattbodenschiffe, Contender und Laser auf dem Schlick dahinter.

Spiekeroog Hafen, Mai 2018
Spiekeroog Hafen, Mai 2018

Sehr genau erinnere ich mich auch an die heiße Dusche in der Marina – endlich war mir wieder warm. Dann ab in die Koje für ein halbes Stündchen, aus dem beinahe die ganze Nacht geworden wäre, hätten die anderen uns nicht geweckt, wollten wir doch noch alle zusammen essen gehen. Gesagt getan. So ein Hunger! Im lokalen Fischrestaurant schmauste ich gebackenen Schafskäse mit Tomaten und Oliven – sehr lecker. Wären wir nicht so müde gewesen, es hätte noch ein lustiger Abend an Land werden können. Doch allen stand der Sinn nur nach ihren Kojen und so setzten wir wenig später fort, was vor dem Essen schon so vielversprechend begonnen hatte. Unser Schiff lag schließlich so weich im Hafenschlick wie wir in unseren Kojen.

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SP 2018 – Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven

Als Kind habe ich mit Begeisterung „Die Acht vom großen Fluss“ gelesen – eine Jugendbuchserie ähnlich wie „Die fünf Freunde“, nur eben drei mehr und ohne Hund, dafür aber mit Elbe. Heute, so viele Jahre später, bin ich nun selbst Teil eines großen Abenteuers auf diesem Fluss – oder, besser gesagt, fühle mich als ein solcher – der uns ohne große Umschweife hinaus in alle Weiten der Welt tragen konnte. Leinen losgeworfen, Segel gesetzt und schon ist man mitten drinnen in dieser herrlichen Erzählung von Freiheit und Abenteuer…

Wedel, Yachthafen 2018
Wedel, Yachthafen 2018

Diese Geschichte könnte ihren Anfang am besten in ihrem Ende nehmen, in diesem Ende am Dienstagvormittag nach Pfingsten auf der Elbe kurz hinter Wedel. Ich sitze auf dem Steuerbordsüll unserer „Helgoland Express“ und starre in die Ferne, deren Teil wir gerade noch gewesen waren. Wehmut – klingt vielleicht kitschig, war aber das richtige Wort für diesen Moment. Wehmut bei der Einsicht, dass in demselben Maße, in dem das Fahrwasser der Elbe immer schmaler, auch unser Leben wieder enger und enger wurde. Noch ein paar kurze Stunden, dann würden wir wieder als jene Anzugträger von Bord gehen, als welche wir gekommen waren, bevor wir – dazwischen – was wurden?

Elbe
Elbe

Ich habe es immer übertrieben gefunden, Freiheit als ein Gefühl zu bezeichnen. Nein, der rationale Teil von mir hatte es auch für sachlich schlicht falsch erklärt. Freiheit ist ein Zustand mit zwei wichtigen Bestandteilen, nämlich der Abwesenheit von Zwang und dem Vorhandensein von Möglichkeiten, aber eben sicher kein Gefühl – soweit also die Ratio. Aber waren wir nicht alle auch fehlbar? Und wenn ich eines mit den vergangenen fünf Tagen auf diesem Boot verband und wenn es eines gab, dem ich nun, in die Ferne starrend, nachtrauerte, dann war es genau das – das Gefühl von Freiheit, das plötzlich möglich erschien. Das, was uns aus diesem ein- und festgefügten Dasein für Momente herausgehoben und uns die Welt von oben gezeigt hatte, wie Carl Sagans zweidimensionale Wesen nach einem unvermuteten Luftsprung plötzlich in der dritten Dimension das Innerste ihrer Genossen erspähen konnten – so einfach ließ sich das Unvorstellbare erklären. Das war Freiheit, und genau diese sah ich nun in der Ferne entschwinden, denn vor uns lag die Stadt mit ihren Jobs, Rechnungen, Versicherungen und all dem anderen. ‚Doch eines können sie uns nun nicht mehr nehmen‘, dachte ich später, ‚und das ist der Sand in den Schuhen von Spiekeroog…‘

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Suermondtplatz nachts

Und plötzlich, in einem Moment, begannen die Figuren auf dem Platz, sich zu bewegen. Sie streckten ihre bronzenen Glieder – langsam und dennoch deutlich, sodass man Angst haben konnte, ihre Arme und Beine gingen ihnen dabei zu Bruch. Die alte Frau rückte ihre Frisur zurecht, der Herr kratzte sachte das Revers über seiner Weste. Er öffnete seine leeren Augen und wandte sich nach ihr um. Für einen Moment erschien es ihr, als wolle er etwas zu ihr sagen. Aber der geöffnete, zahnlose Mund blieb stumm.

Suermondtplatz Aachen 2018
Suermondtplatz Aachen 2018

Benommen von diesem ersten Eindruck folgte ihr Blick dem Flug eines kleinen Schmetterlings. So schön! Über den ganzen Platz hinweg kam er auf sie zu, zu ihr. Kurz umschwärmte er die alte Dame, die ihre Hände tief in die Taschen ihrer metallenen Schürze gesteckt, die Schultern wie zu einem schweren Seufzer gehoben hatte und doch auch stumm blieb wie ihr Nachbar.

Suermondtplatz Aachen 2018
Suermondtplatz Aachen 2018

Die Farben des Insekts leuchteten, schienen jeden Winkel des Platzes auszufüllen. Das Flügeltier kam ganz nah, und sie zuckte zurück, als sie in dessen Augen Verwunderung zu lesen glaubte.

Im selben Augenblick erfüllte ein Schrei den ganzen Raum, breitete sich aus, rollte von Hauswand zu Hauswand. Der Körper schlug hart gegen den Backstein, blieb liegen, grotesk verdreht, blutend. Erschrocken sprang der Fahrer aus seinem Wagen. Wie angewurzelt blieb er stehen, als er sah, als er erkannte, was geschehen war. Ein Knäuel von Gliedmaßen, über welchem sich ein kleiner Admiral nun in den Nachthimmel schraubte. Er war spät dran in diesem Jahr…

Tag 4: Pagensand – Wedel – Finkenwerder

Hamburg Blankenese 2017

Tag 4: Pagensand – Wedel – Finkenwerder

Am nächsten Morgen führte mich mein erster Weg hinauf ins Cockpit, um zu erkunden, wo wir in der vergangenen Nacht eigentlich gelandet waren. Oben erwartete mich ein fantastischer Sonnenaufgang über der menschenleeren Bucht. Das andere Segelboot, das mit uns hier geankert hatte, trieb noch verschlafen und stumm in einiger Distanz zu uns, und die Sonne stieg in einen strahlend blau gewaschenen Himmel empor. Was für ein Anblick! Jeder Augenblick dieses Segeltörns war interessant und spannend gewesen, die Milchstraße über der nächtlichen Elbe kolossal beeindruckend, aber nichts hatte ich bisher als so schön empfunden wie diesen anbrechenden neuen Tag in unserer Ankerbucht, die nur einen Steinwurf vom Hauptfahrwasser der Elbe entfernt lag und doch wie eine ganz andere Welt wirkte.

Der Duft von Kaffee und das Geklapper von Frühstücksgeschirr holte mich schließlich zurück in unseren gemütlichen Salon, wo fleißige Geister zwischenzeitlich für ein opulentes Mahl zu Beginn und Feier des neuen Tages gesorgt hatten. Während draußen also mit der Sonne ein Spätsommertag im Oktober seinen verheißungsvollen Anfang nahm, wurde drinnen ausgiebig geschmaust, waren wir alle doch lange vor der verabredeten Zeit aufgewacht. Während die Crew den Sonntagmorgen also in aller Gemütlichkeit wie einen Sonntagmorgen begann, packte unseren Skipper der Ehrgeiz – da war ja immer noch die Sache mit der Regatta. Erstaunt schauten ihm also sieben Augenpaare vom Salontisch dabei zu, als er an Deck begann, das Boot klar zu machen, die Segel setzte und dann – alle Positionen scheinbar gleichzeitig bedienend – uns zurück ins Elbfahrwasser manövrierte. Man konnte die „Helgoland Express“ also auch alleine segeln – man konnte. Wir beschlossen, dass es mit Mannschaft dann aber vielleicht doch mehr Spaß machen würde und beeilten uns, ihm zu Hilfe zu kommen.

Den Moment der Frühstückszubereitung hatte ich an diesem Tag glorreich verpasst, daher entschied ich, die Nachsorge zu übernehmen und eilte mich, den Tisch leer und das Geschirr wieder sauber zu bekommen, damit wir den morgendlichen Landwind voll ausnutzen konnten, ohne dass Tassen und Teller durch die Gegend flogen. Wie gesagt, der Wetterbericht dräute nach wie vor mit totaler Flaute und ein Stückchen Weg war es bis zu unserem Heimathafen in Finkenwerder dann schon noch.

Endlich hatte ich alles soweit klarschiff. Unser Skipper war zwischenzeitlich längst wieder zum gewohnt ruhigen Navigator geworden und nun, zum Abschluss der Reise, brachte er noch eine kleine Bastelarbeit aufs Tableau. Die Seekarten waren noch zu berichtigen. Klebstoff, Schere, NfS, Karten und der Ruf nach Freiwilligen standen schnell im Raum. Erstaunt stellte ich fest, dass unsere Crew, die sonst keine Aufgabe scheute, sich allgemein bedeckt zu halten versuchte, was diese Arbeit anbelangte – sie drückten sich vor der ‚Fuddelarbeit‘, wie Christian es so schön nannte.

Karten hatten mich schon immer fasziniert. Gerne ließ ich mich daher in die Bastelei einweisen und klebte bald wie ein Weltmeister. Beharrlich gebe ich auch heute noch den Papierkarten den Vorzug vor all den elektronischen Geräten, die man sonst so mit sich herumschleppen kann. Sicher, es war praktisch, dass Alexander mir „Openstreetmap“ auf meinem Smartphone installiert hatte. Aber wenn man mir die Wahl lässt, nehme ich tausendmal lieber die gedruckte Karte zur Hand. Gerne erinnere ich mich an die Begebenheit in Aberdeen, wo ich vor Jahren an einer Konferenz teilgenommen hatte. Einer meiner ersten Wege dort hatte mich noch am Flughafen in die Buchhandlung geführt, um einen Stadtplan zu erwerben. Der letzte Tag der Veranstaltung ließ einige schöne Stunden am Nachmittag frei, und alle, die bis zum Schluss geblieben waren, nutzten die Gelegenheit zur Erkundung der schottischen grauen Stadt am Meer. Auch ich zog los, lief hier hin und dort hin und traf nach einer Weile auf zwei bekannte Gesichter, die offensichtlich froh waren, ein selbiges in dieser Stadt zu sehen. Ob ich wohl wüsste, wie man zu jener Klippe am Meer kommen könne? Dort gäbe es angeblich Delphine zu bestaunen… Ich zückte also meine Karte und fing an zu erklären. Die beiden grinsten, als sie meinen Stadtplan sahen. ‚Well, we are men. We don’t buy maps.‘ Nur gut, dass sie zwischendurch auf Frauen mit Karten in Taschen trafen…

Nach all dem Regen der vergangenen Nacht verwöhnte uns nun die Sonne umso reichlicher. Es war kaum zu glauben, dass wir tatsächlich schon Oktober hatten. Schicht um Schicht der Seglerklamotten verschwanden wieder unter Deck. In T-Shirt und kurzer Hose würde unser Skipper schließlich mit uns im Hamburger Hafen einlaufen. So schön und unvermutet das plötzliche Sommerwetter war, so leidvoll und missmutig erwartet war die Flaute, die uns – wie angekündigt – nach wenigen morgendlichen Momenten des Seglerglücks einholte. Die restlichen Seemeilen ließen wir uns also mehr als gemütlich vom Strom nach Hause schieben. Immer öfter begegneten uns dabei unterwegs andere Segelboote, die unerschrocken im sonntäglichen Vergnügen auf dem Fluss dahin dümpelten.

Yachthafen Wedel
Yachthafen Wedel

Spannend wurde es noch einmal am Wedeler Yachthafen, wo unser Skipper schnell noch auf dem Weg unsere Wasservorräte wieder aufstocken wollte. Die Segel wurden eingeholt, der Diesel gestartet. ‚Jetzt bloß nicht langsamer werden, sondern Augen zu und durch‘, gab Christian mir vor der Einfahrt in den Hafen mit auf den Weg, bevor er das Schiffshorn aufheulen ließ. Zu langsam und der Strom würde uns unweigerlich gegen die Molenköpfe drücken, die quer zum Fluss lagen – ganz einfach. Etwas beklommen steuerte ich also artig auf den schmalen Durchgang im Flutschutzwall zu – und durch. Geschafft! Einen Moment später stand Christian dann hinter mir am Achterstag und dirigierte mich an den Steg, an dem die Wasserversorgung auf uns wartete. Ohne Probleme legte ich an und war verblüfft über den Applaus der Crew, hatte ich doch bloß gemacht, was unser Skipper mir vorgesagt hatte. In meinem Seminarraum wären die Studis, die so brav nachplapperten, was ihre Kommilitonen ihnen einsagten, wohl schlicht von mir abgekanzelt worden. Unwillkürlich musste ich an die Szene aus der „Feuerzangenbowle“ denken: ‚Es saßen die Goten ursprünglich in Schweden.‘ ‚Und von dort gingen sie?‘ ‚Von dort gingen sie in die Gegend von Danzig. Und von da gingen sie dann nach Russland. Und von da nach … und da wussten sie eigentlich nicht so recht was sie machen sollten. Und äh – und zerfielen dann in die Ostgoten und die Westgoten.‘ ‚Gut, Kniebe. Sie können sich setzen. Vier.‚ ‚Wieso vier, Herr Doktor? Ich habe doch alles gekonnt. Ich hätte eigentlich ’ne zwei verdient.‘ ‚Zwei bekommt Pfeiffer.‘ Was hatte ich anderes getan, als meinem Einsager auf eben solche Weise zu folgen? Andererseits, hatte ich nicht soeben ein 14-Tonnen-Schiff sanft an den Steg gelegt?!

In Wedel erwartete uns noch eine weitere Überraschung – jedenfalls die Crew war erstaunt, unser Skipper hatte das sicher längst auf dem Plotter gesehen und gewusst: Etwas weiter drinnen im Hafen lag die „Hamburg Express“ – bunt betucht mit allen Handtüchern und dem Ölzeug, das die Crew zum Trocknen in die Sonne gehängt hatte. Im Vorbeifahren wechselten die beiden Skipper zwei schnelle Wörter, dann ging es für uns auch schon weiter nach Finkenwerder. Wir hatten sie überholt! Und nun dümpelten wir höchst zufrieden mit gut zwei Knoten Fahrt unserem (ersten) Regattasieg entgegen.

An Deck der Helgoland Express, Yachthafen Wedel
An Deck der Helgoland Express, Yachthafen Wedel

Die Elbe füllte sich zwischenzeitlich weiter mit immer neuen Sportbooten, von denen allerdings allein die Motorboote Fahrt machten. Uns war das egal. Wir räkelten uns faul in der Sonne, trockneten uns und unsere Schuhe vom Regen des vorherigen Abends und genossen die Aussicht. Blankenese vom Wasser aus gesehen ist schon etwas Besonderes. Sicher, schön war das Treppenviertel, schön war der Elbstrand – besonders geheimnisvoll, wenn im Frühjahr die Osterfeuer an beiden Flussufern in den Himmel loderten. Doch nichts ließ sich damit vergleichen, diese Stadt aus dem Cockpit eines gemütlich dahin schippernden Segelbootes zu betrachten, wie sie an einem vorbeizog: die Leuchttürme, der Strand, das Treppenviertel mit seinen Villen und reetgedeckten Kapitänshäuschen…

Am Mühlenberger Loch wartete dann die „Alexander von Humboldt“ auf uns. Also, sie wartete natürlich nicht direkt auf uns, war dort aber mal wieder fleißig mit Baggerarbeiten im Elbschlick beschäftigt – ein Koloss von einem Arbeitsschiff. Und auch wenn es für sie und ihre Crew natürlich darum ging, diesen herrlichen Sonntagvormittag mit Arbeit zu verschwenden, setzte sich bei uns der Eindruck fest, sie habe dort nur auf unsere Ankunft gewartet. Denn kaum waren wir mit dem Strom an ihr vorbeigetrieben, setzte sie sich ebenfalls in Bewegung, schloss auf und folgte uns beharrlich die letzten Meter bis Finkenwerder. Aus dem Funkgerät plärrten die Absprachen mit den Lotsen im Hafen, und es wurde deutlich, dass sie nur zu gerne diese Sonntagssegler – also uns – aus dem Weg haben wollte. Vom Rüschpark her sauste schließlich ein Jetski auf uns zu. Christian grinste nur über unsere erstaunten Gesichter. ‚Das ist Thor‘, als wäre damit schon alles gesagt. Sie wechselten ein paar Wörter über das Wasser hinweg, und der Lotse drehte wieder ab. Offenbar erklärte er der „Alexander von Humboldt“ dann die Lage, also dass wir schon wüssten, wohin wir wollten und nicht nur Wissen, sondern – zumindest mit Christian – auch das nötige Können an Bord hätten. Wir schipperten also weiter mit unserem dicken Pott als Begleitung.

Schließlich kam Roberts Steg in Sicht. Also Maschine an und Segel geborgen. Alexander legte ein letztes Mal an. Das letzte Ankerbier dieses Törns genossen wir dann im Schatten der „Alexander von Humboldt“, die mit ihrem Krach dafür sorgte, uns daran zu erinnern, dass wir wieder in der Großstadt angekommen waren.

Selten war ich in meinem Leben so müde, wie am Ende dieses Törns. Selten aber auch so glücklich…

Tag 3: Helgoland – Pagensand

Pagensand 2017

Tag 3: Helgoland – Pagensand

Aufbruch am nächsten Morgen sollte um elf Uhr sein. Zeit genug, noch schnell einige Besorgungen auf der Insel zu erledigen. Erneut war ich dankbar, mit Sylke eine zweite Frau an Bord zu haben. Vergnügt zogen wir beide los für eine kurze Shoppingtour auf dem Unterland. Noch dankbarer war dabei sicherlich Alexander, dem der Einkaufsbummel damit erspart blieb. Wenige Dinge verabscheut er mehr, als ziellos durch irgendwelche Geschäfte zu laufen. Was das Einkaufen anbelangte, war er den Basstölpeln der Insel gar nicht so unähnlich: Wissen, was man will, kurz Ausschau halten, blitzschnell zuschlagen und dann bloß nichts wie weg… Sylke und ich verfielen dagegen dem Seglerklischee und stöberten uns durch blauweiß-gestreifte Pullis, Shirts und Sonstiges. Zufrieden mit der Ausbeute kehrten wir schließlich zurück zum Hafen, und pünktlich um elf war alles bereit zum Ablegen.

‚Ein Boot ist eine Reise. Zwei Boote sind eine Regatta!‘ schärfte Christian uns beim Loswerfen der Leinen ein, womit das Wettrennen zwischen der „Hamburg Express“ und uns offiziell eröffnet war. Guter Dinge und mit einer frischen Brise in den Segeln verließen wir also den Helgoländer Hafen. Unsere Route sollte uns durch die Norderelbe zurück nach Cuxhaven und, so Christian, an diesem Tag am liebsten so weit wie möglich flussaufwärts führen, denn für den kommenden Tag war Flaute angekündigt. Leider erreichte uns diese aber schon wenige Seemeilen nach unserem Aufbruch und so dümpelten wir eine ganze Weile vor uns hin. Christian, immer mit einem kritischen Blick auf dem AIS: wie weit war die „Hamburg Express“ voraus? Leider sah es auf dem ersten Teil der Etappe gar nicht gut für unseren Platz bei dieser Regatta aus. Das zweite Boot steuerte das Hauptfahrwasser der Elbe von See kommend direkt an. In der nächsten Zeit würde uns also noch ein breites Gebiet an Untiefen voneinander trennen.

Unser Navigationsteam nutzte die Gelegenheit für eine neue Übungsstunde, als die Schifffahrtszeichen der Außenelbe-Reede in Sicht kamen – jedenfalls im Fernglas. Die erste Tonne, die wir seit dem Verlassen des Helgoländer Hafens am Vormittag gesehen hatten. Noch bevor dann an Steuerbord der „Große Vogelsand“, der seinem Namen mit Schwärmen von lustig über ihm treibenden Seevögeln alle Ehre machte, auftauchte, begann auch endlich der Wind wieder aufzufrischen. Die Mittagszeit war da schon längst verstrichen, und der Vorsprung der „Hamburg Express“ schien uns bereits uneinholbar. Deutlich war aber auch, dass unser Skipper da entschieden anderer Ansicht war. Flott kreuzten wir mittlerweile gegen den Wind, der uns entgegen aller Vorhersagen dummerweise immer noch mäßig aus Südosten entgegen blies, anstatt uns brav wie angekündigt von Westen nach Hause zu schieben. Aber immerhin – es gab Wind!

Aufregung entstand für einen Moment wieder an Deck, als jemand plötzlich ‚Schweinswale achteraus!‘ rief. Angestrengt starrten alle in das aufgewühlte Wasser. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Diese Tiere zu sehen, erschien mir noch sonderbarer als die Seehunde in Finkenwerder. Allgemein hatte mich dieses Gefühl schon öfters beschlichen, auch auf Zugfahrten, wenn plötzlich Rehe oder im Osten auch Füchse oder Kraniche auf den Feldern auftauchten. Unser Land ist so dicht besiedelt und so stark urbanisiert, dass jedes Wildtier darin nur Verwunderung auslösen kann. Woher kommen sie auf einmal? Wo leben sie? Wo können sie überhaupt noch Unterschlupf und Schutz in dieser Welt finden, die so sehr dem Menschen angepasst wurde? Auf mich machen sie stets den Eindruck von Besuchern, dabei sollten sie doch ebenso ein Teil des Ganzen sein wie wir auch, oder? Auch die Nordsee erschien mir bisher wie ein solches, völlig vom Menschen vereinnahmtes Gebiet – durch die Schifffahrt und all die endlosen Touristenströme an ihren Küsten. Dass es in diesem Wasser auch Tiere dieser Größe geben könnte, die trotz allem hier ihre Heimat finden konnten, machte einen starken Eindruck auf mich.

Momente später ging mir dann ganz anderes durch den Sinn, denn nun hatte ich das Ruder wieder übernommen. Nur wenige Male hatte ich bisher die Gelegenheit gehabt, das Ruder bei so viel Wind zu führen. Der Sommer in Hamburg war in dieser Hinsicht doch eher mäßig gewesen. Sylke erklärte mir das Geheimnis der Windfäden am Groß, und meine Hände folgten ihren Einflüsterungen eifrig. Und plötzlich schossen wir wie ein Pfeil dahin. Gute acht, neun Knoten Fahrt und entsprechende Lage. Die Jungs schauten ungläubig auf die Logge, und wir Mädels grinsten in uns hinein. Mir kam es vor, als flögen wir nur so über das Wasser. Fahrtwind ist schon eine lustige psychologische Größe in dem ganzen Spiel.

Eine ganze Weile kostete ich meinen neu gewonnenen Ruhm als bisher schnellste Steuerfrau aus, dann setzte langsam, aber sehr beharrlich der Regen ein. Noch einen Augenblick später wies unser Skipper vom Niedergang her die Wende an. Also ‚Alles klar zur Wende‘, ‚Ist klar‘, ‚Und Ree‘. Artig zog unser Boot nach Steuerbord und – dann vermasselte ich alles. Der Regen, mittlerweile als dichter Vorhang fallend, erinnerte mich an mein Ölzeug, das es sich immer noch kuschelig unter Deck machte und das ich jetzt doch gerne seiner eigentlichen Bestimmung zuführen wollte. ‚Übernimmst Du?‘ unklar, wer gemeint war und viel zu früh verließ ich meinen Platz am Ruder. Christian war wenig begeistert von dieser Aktion, ich im doppelten Wortsinne bedröppelt, dafür aber auch in Minutenschnelle und dann in Knallrot wieder an Deck mit trockenem Ölzeug, das ich nur zu gerne gegen die längst durchweichte Wanderjacke getauscht hatte.

Eine Sache, die ich bei diesem Törn auch gelernt habe, ist, dass Regen auf See doch noch mal eine ganz andere Nummer ist als Regen an Land – egal, wo. Wir kannten und respektierten die schottischen Regenschauer, die sich mit einer bedrohlichen Wolkenwand über den westlichen Bergen anzukündigen pflegten. Drei Minuten, das war alles, was einem dann blieb. Drei Minuten, die man besser nutzen sollte, irgendeine Art Dach zwischen sich und das Wetter zu bringen – ausgenommen die stoischen Golfspieler, die einen Schirm über dem Caddy aufspannend auf dem Platz der Wahl einfach ausharrten. Drei Minuten, dann bist du so nass wie noch nie in deinem Leben – von allen Seiten wohlgemerkt, denn nur von oben wäre ja langweilig. Das hatten wir auf Arran oft erlebt und waren der irrigen Auffassung, dass Klamotten, die uns dort heil durchgebracht hatten, uns auch hier auf der Nordsee gut ständen. Bisher war mir der Anblick von Seglern in vollem Ölzeug mit Krägen so hoch, dass vom Gesicht wenig zu sehen blieb, immer recht martialisch vorgekommen und ich hatte es heimlich doch für übertrieben – so ein Männerding eben – gehalten. Aber jetzt stand Tobias genau in dieser Kluft am Ruder, und ich konnte nur zu gut verstehen, warum er für jeden Millimeter Regenschutz, den seine Klamotten ihm boten, dankbar war. Wir anderen quetschten uns, so gut es ging, unter die Sprayhood. Der Wind pfiff nach wie vor, und wir machten gut Lage. Die eine Hälfte der Crew schwebte hoch über dem Wasser, die andere schoss dicht über dem grauen Meer dahin. Christian hatte uns allen gezeigt, wie man auch in einer solch seltsamen Geometrie noch sicher die Winschen für die Genua bedienen konnte. Ich war froh, dass diese Aufgabe zunehmend die Jungs übernahmen – manchmal bin ich auch ganz gerne mal Mädchen…

Der andauernde Regen machte das Cockpit glitschig, und es war gut zu wissen, wo man sich einpicken konnte. Noch so ein psychologischer Faktor der Fahrt. Der Rudergänger sowieso, aber auch der eine oder andere im Cockpit. Dummerweise hatte der andauernde Regen auch den lästigen Effekt, das Tauwerk der Genua gut einzuweichen. Pfützen bildeten sich, mal an Backbord, mal an Steuerbord. Sie schwappten lustig hin und her. Ja, es konnte verdammt nass werden auf diesem Meer!

Tobias steuerte uns sicher durch das Luechter Loch und mit einsetzender Dämmerung hatten wir das Hauptfahrwasser der Elbe wieder erreicht. Viel später sah ich an der Aufzeichnungen unserer Route mit welcher Präzision Christian die Kreuzschläge unseres Schiffes in der Norderelbe geplant hatte. Dieses Zusammenspiel von Planung, Navigation, Rudergänger und dem richtigen Setzen der Segeln, um tatsächlich auch dorthin zu gelangen, wohin man eigentlich wollte – und sich nicht einfach bloß in schönster Kaffeefahrtmanier einfach treiben zu lassen, fasziniert mich nach wie vor am Segeln. Robert hatte mal so schön gesagt: ‚Wenn ihr als Ziel ausgebt, heute fahren wir nach Dänemark, ist der Erfolg schon garantiert. Zu sagen, wir machen um 15 Uhr in Wyk auf Föhr fest, wird euch dagegen keine Freude bereiten.‘ So sei das eben beim Segeln. Damit hatte er zweifellos recht und daher an dieser Stelle ein großes Lob an unseren Skipper, der uns so präzise nach Zeitplan über die See und den Fluss navigierte, damit die Crew pünktlich am Sonntagmittag von Finkenwerder aus wieder mit Zug und Auto in alle möglichen Teile Deutschlands würde entschwinden können.

Cuxhaven ließen wir an diesem Tag an Steuerbord liegen und segelten, dem heimeligen Licht der Leuchttonnen folgend, elbaufwärts. Schließlich war da immer noch diese Regatta, und die „Hamburg Express“ war – zumindest auf dem AIS – wieder in Sichtweite. Das konnte doch gar nicht, das musste doch einfach, das würden wir sicher bald…

Der Regen hielt sich beharrlich, und wir stellten fest, dass mittlerweile auch unter der Sprayhood Wasser in allen Varianten und Mengen verfügbar war. Es fand seinen Weg entlang von Fallen und Schoten. Das Cockpit schwappte vor Pfützen. Zwischenzeitlich hatte Alexander Tobias am Ruder abgelöst und nicht ohne Bewunderung schaute ich ihm beim Steuern zu. Der Wind hatte noch etwas zugelegt, und auch unser Skipper würde später anerkennend von einem ‚tollen Ritt‘ über die Elbe sprechen – und dass im Dunkeln und dass mit einem Steuermann, der nicht mehr Erfahrung bei der Sache besaß als ich selbst. Manchmal hatten wir schon scherzhaft vermutet, dass Alexanders Nicht-Autofahren ihm nun zur Tugend gereichte, denn nie hatte er wie ich das Problem zu denken, ein Auto würde sich jetzt so und so verhalten, wenn ich jetzt in diese oder jene Richtung lenke.

Wir schossen also auf der dunklen Elbe dahin, zählten Leuchttonnen aus, die Christian uns von unten immer wieder ansagte. ‚Seht ihr die nächste Tonne? Eine Quick … Ein unterbrochenes Feuer …‘ Und wir starrten gemeinsam in die Nacht, kniffen im Regen die Augen zusammen und wetteiferten darum, auch schon die übernächste Tonne zu finden, um den Kurs vorhersagen zu können. Ich stand am Rand der Sprayhood und suchte die Lichter in der Nacht, um sie Alexander ansagen zu können, der sie hinter dem Segel nicht immer sehen konnte. Tobias leistete uns Gesellschaft und hielt mit Ausguck. Alle anderen hatten sich nach und nach klammheimlich ins Trockene des Salons verkrümelt. Unsere Kombüsencrew fing an, sich dort überaus nützlich zu machen. Warmes Essen war der Inbegriff des Glücks in dieser verregneten Nacht. Schließlich kam unsere Ablösung, und wir drei verschwanden durchweicht, aber zufrieden unter Deck, wo uns viele wohlmeinende Hände Frisch-Zubereitetes entgegenstreckten. Schon erstaunlich, wie schnell und wie viel Essen man auf so einem Segeltörn verputzen konnte!

Trockengelegt und vollgefuttert saßen wir schließlich im Salon, während nun die anderen unser Boot durch den nächtlichen Regen steuerten. Das Ölzeug hing tropfend in der zweiten Nasszelle – wörtlich sehr passend – des Bootes, und alle murrten mehr oder weniger laut über die durchweichten Segelhandschuhe, die alle trotz marketingtechnisch angepriesener Schnell-Trocknung-Eigenschaft auch am nächsten Tag noch ausgewrungen werden mussten.

‚Wahrschau Welle!‘ irritiert starrten wir Christian an. Warschau? Ein Ostblock-Pott? Waren die hier etwa berüchtigt? Er hatte es, am Plotter stehend, nach oben ins Cockpit gerufen. Alexander und ich schauten ihm interessiert über die Schulter. Auf unserem Radarschirm war ein riesiger roter Fleck erschienen. Die Neugier trieb uns trotz aller wetterlichen Widrigkeiten den Niedergang hinauf. Neben uns fuhr eine Stadt. So viele Lichter! Immer noch im strömenden Regen war weder ein klarer Anfang noch ein klares Ende des Schiffes neben uns auszumachen, nur dass es sich bewegte, das war klar. Was für ein Pott! Eigentlich hatte ich gedacht, dass, nachdem ich die „MSC Zoe“ den Fluss hatte heraufkommen sehen, wie sie „Das Imperium schlägt zurück“ auf dem Schiffshorn spielte, mich kein Schiff mit seiner Größe mehr würde beeindrucken können. Aber nachts auf dem eigenen Boot den Fluss mit diesem Riesen teilend, war das doch noch mal wieder eine ganz andere Nummer. Wir einigten uns schließlich augenzwinkernd auf ‚Waaaaaaaaaah! Schau! Welle!‘ als semantische Erklärung für Christians ursprünglichen Ausruf.

Eine Weile noch fuhren wir flussaufwärts, dann wurde es schließlich definitiv Zeit, Ausschau zu halten nach einem Plätzchen für die Nacht. Wir fanden diesen auf der Höhe von Pagensand. Ich war zu müde, mir das Ankermanöver noch anzuschauen. Nahm mir aber vor, beim nächsten Mal unbedingt mit dabei sein zu wollen. Ein weiteres Segelboot hatte schon vor uns hinter der vorgelagerten Insel Schutz gesucht, ansonsten herrschte hier absolute Ruhe. Christian erläuterte noch, wie es sich mit den notwendigen Platzverhältnissen verhielt, würde doch, während wir schliefen, der Strom irgendwann kentern, und die „Helgoland Express“ einen schönen Bogen um ihre eigene Ankerkette drehen. Das Ankerbier gab es wieder im Cockpit – der Regen hatte, dankenswerterweise, nachgelassen, trotzdem beeilten wir uns, zügig zurück in den Salon zu kommen. Wir Mädels klapperten und verlangten einstimmig nach der Heizung. Immerhin hatte soeben der Oktober begonnen. Den Abend ließen wir mit einem weiteren schönen Seemannsklischee ausklingen. Der auf Helgoland erworbene Rum sollte schließlich nicht schlecht werden. Es wurde eine lustige Runde. In dieser Nacht schlief ich in unserer Koje wie ein Baby.

Tag 2: Cuxhaven – Helgoland

Basstölpel, Insel Helgoland 2017

Tag 2: Cuxhaven – Helgoland

Sehr bald schon vernahm ich dann wieder die ersten Schritte über den Niedergang. Der neue Tag eilte auf uns zu, und wir krabbelten aus den Kojen zum Frühstück. Kaffee. Es geht doch nichts über einen guten Kaffee am Morgen! Die warme Dusche wurde allseits auf die Marina auf Helgoland verschoben und so ging, fast unbemerkt, der erste in den zweiten Tag auf dem Wasser über, als wir, aus Cuxhaven auslaufend, den Amerikahafen mit ohrenzuhaltendem Signalton gen Westen wieder verließen. Das Abenteuer war zum Greifen nah. Vor uns lag die Welt im grauen ersten Morgenlicht: auf zu neuen Entdeckungen!

Der Hochnebel sollte sich halten an diesem Tag. Bisher hatte ich ihn noch gar nicht recht als Problem identifiziert. Die Sonne war nicht zu sehen, aber dass der Nebel tatsächlich unsere Sicht behinderte, wurde mir erst viel später an diesem Tag bewusst – als wir nämlich bei der Ansteuerung auf Helgoland irritiert feststellten, dass die Insel von jenem Nebel bis zum allerletzten Augenblick verschluckt und das Grau von Nordsee und Tag einfach in alle Himmelsrichtung gleich blieb. Optisch, ohne elektronische Hilfsmittel, hätten wir unser Ziel an diesem Tag niemals gefunden. Enttäuscht stellten wir fest, dass das Helgoländer Leuchtfeuer, von dem wir schon viel gehört hatten, durchaus nicht bereit war, uns den Weg zum roten Felsen im Meer zu weisen. Eines der stärksten Leuchtfeuer der Deutschen Bucht lag – vermuteterweise – unmittelbar rechtvoraus, aber was nützte einem diese Ahnung, wenn es an diesigen Tagen nicht eingeschaltet wurde? Bewundert haben wir das Feuer dann sehr viel später, als wir lange nach dem Anlegen vom Abendessen zurück zum Schiff strawanzten. Da bot sich uns dann ein beeindruckendes Lichtschauspiel über der Insel. Alle fünf Sekunden griff ein Lichtstrahl hinaus in die unendliche Nacht, verhieß Sicherheit und Orientierung – aber für die Segler auf dem grauen Meer des Tages lag das noch in weiter Ferner.

In Cuxhaven waren wir zwar alle noch ziemlich müde, aber allseits guter Dinge und abenteuerhungrig im Cockpit versammelt. Wir wechselten uns am Ruder ab, und unser Schmetterling hatte seine Flügel zuversichtlich in den Wind aus guter Richtung, aber mit wenig Kraft gestreckt. Wir machten nur mäßige Fahrt an diesem Tag.

Eine Weile noch folgten wir dem Fahrwasser der Elbe. Wie anders die Lage dort sein konnte, wurde mir klar, als wir die dortigen Baken sahen. Manchmal sei der Seegang so hoch, dass man die regulären Tonnen schlicht nicht mehr entdecken könne, da wären die Baken die einzige optische Hilfe zur sicheren Navigation, jenseits der Technik versteht sich, erklärt uns unser Skipper. Schwer vorzustellen, dass man die mehrere Meter hohen Tonnen, die uns den bisherigen Weg über so sicher die Elbe abwärts begleitet hatten, nicht würde sehen können. Aber klar hatten sie uns auch vorher schon davon erzählt, dass schon Wind gegen Strom an dieser Stelle reichte, um die See bis zu sechs Meter und mehr Höhe aufzutürmen. Einen Sturm brauchte es zu diesem Zweck noch gar nicht. Ob sie bei schlechtem Wetter auch nach Helgoland auslaufen würden, hatten wir schon Wochen zuvor tolldreist und ich auch zugegebenermaßen ängstlich von Robert wissen wollen. Er hatte uns mit der langen Erfahrung seiner Skipper beruhigt, und nun präzisierte Christian das ganze: klar, würden sie erst mal auch bei eher suboptimalen Bedingungen auslaufen, wenn die Crew das so entschied. Schließlich war er ja kein schlechter Skipper. Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu, dass die meisten dann doch sehr schnell sehr dankbar für seinen Hinweis seien, dass man in der Elbe auch da und dort ein paar schöne ruhige Stunden verbringen könne. Das Umdrehen fiele dann entsprechend leicht…

Für uns gab es, Gott sei Dank, keine Probleme solcher Natur – eher ein wenig vom Gegenteil, also zu wenig Wind für Groß und Genua. Dafür war das Ruder simpel und anfängergeeignet und so stand ich an diesem Tag gleich mehrere Stunden am Steuerrad, stolz wie Bolle und strahlend vor Glück, während uns der Strom gemächlich mit nach Helgoland nahm.

Zwei weitere Segelboote sahen wir unterwegs. Schnittig überholte uns der Segelmacher aus Stade und war schon weit auf der grauen See voraus, als ich endlich meinen Fotoapparat aus der Kajüte geholt hatte. Am Horizont zog dann und wann die Fähre vorbei – ansonsten nur graue See soweit das Auge reichte. Nachdem unser Navigationsteam beschlossen hatte, ich solle 315 Grad steuern, kehrte allgemein Ruhe ein, und der eine oder andere verlängerte die viel zu kurze Nacht auf der Hundekoje im Salon. Ich blieb derweil oben, ich blieb am Ruder. Mangels Wind kämpfte unsere Gib Sea in den Wellen der Strömung – hüpfte mal nach Steuerbord, dann wieder nach Backbord. Ich bemühte mich um entsprechende Kurskorrekturen und lauschte dem Plätschern des Wassers. Die Stunden verstrichen auf dem gleichmäßig grauen Meer. Die letzte Tonne hatten wir schon vor Stunden passiert und eigentlich sollte doch langsam eine rote Insel am Horizont erscheinen. Hatten wir etwa falsch navigiert? Wo waren denn die Boote geblieben, die uns unlängst noch überholt hatten? Sollten wir die nicht sehen können? In Mitten dieser Fragen erschien Christian wieder an Deck und wies die längst überfällige Kurskorrektur an. Backbord, mehr nach backbord – schließlich wollten wir doch nicht an Helgoland vorbei fahren!

Auch der Rest der Crew erschien nun nach und nach wieder an Deck, und es entbrannte ein kleiner Wettkampf darüber, wer wohl als erstes Land – sprich: Helgoland – aus dem Nebel auftauchen sehen würde. Schon bald wurde spekuliert, ob nicht dieser oder jener Umriss… Ich kniff die Augen zusammen und starrte in die angegebene Richtung. Aber, nein, für mich blieb das Grau einfach das, was ich schon den lieben langen Tag vor der Nase gehabt hatte, nämlich grau. Ausguck würde also eher nicht meine Spezialität, beschloss ich, als sich die angegebene Wolkenbank dann schließlich doch in die ersehnte Insel auflöste. Dass wir unser Ziel definitiv erreicht hatten, wurde mir klar, als uns ein kleiner Schmetterling von der Insel begrüßte. Lustig umschwirrte er das Rigg unseres Bootes, und dieser auf dem Wasser eher surreale Anblick konnte nur heißen, dass das Land nicht mehr fern war.

Hafen Helgoland
Hafen Helgoland

Cool wäre es ja, wenn man unter vollen Segeln in den Hafen einliefe, erklärte unser Skipper Sylke, die das Ruder übernommen und sich fürs Anlegemanöver bereit erklärt hatte. Aha. Also mit vollen Segeln in den Hafen hinein und dann blitzschnell alles zum Festmachen fertig machen. Das Groß hatten wir eingeholt, aber wohin bloß mit unserem Boot? Ein Schwimmsteg dümpelte einsam an einer Leiter gut zwei Meter unterhalb der Kaimauer. Unsere Begeisterung für diese Option war endlich, und alles war froh, als Christian entschied, mit einem der bereits vertäuten Schiffe am Bootssteg gegenüber ins Päckchen zu gehen. Fender hingen nur bei diesem einen Boot an der richtigen Seite, also steuerbords einladend für uns. Sie steckten in gehäkelten Säckchen. Noch dachten wir uns nichts dabei, galt doch die Regel: Fender an der freien Seite, also keine Einwände gegen weitere müde Segler auf der Suche nach einem Liegeplatz für die Nacht. Das war jedenfalls unser Kenntnisstand der guten Seemannschaft, wie man so schön sagte. Doch hatten wir diese Rechnung ohne den Wirt – Pardon, ohne den Eigner gemacht, der – als ihm klar wurde, worauf unser Manöver hinauslaufen sollte – sehr ungehalten aus seiner Kuchenbude herausschnaubte, uns eindringlich Richtung besagt meterhoher Hafenleiter verwies. Die Crew blickte ihn, dann sich, dann ihn betroffen und verständnislos an. Zu unser aller Glück wurde das dann zu einer Angelegenheit zwischen Schiffsführern erklärt. Christian wechselte einige sehr höfliche Worte mit dem Herren, der – oh schau‘ und guck‘ – seine Meinung innerhalb weniger Minuten vollständig änderte. Unser Skipper war ein wahrer Diplomat! Wir machten also fest und noch während die letzten Leinen vertäut und Klampen belegt wurden, schärfte er uns ein, dass An-Land-Gehen für uns nun hieße, über das Vorschiff des Nachbarn wie barfüßige – nein, wie schwebende, barfüßige Elfen hinweg zu gleiten. Aye, aye, Herr Kapitän! Aber noch bevor wir diese grazile Meisterleistung allseits ausprobieren konnten, gab es ein für uns alle unerwartetes Hallo. Es traf Roberts zweite Yacht, die „Hamburg Express“, von ihrem Törn über die Nordfriesischen Inseln auf Helgoland ein und machte, na klar, an unserer Steuerbordseite fest. Das würden viele Elfen werden in dieser Nacht…

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst beschlossen, dass mein erster Gang an Land mich ins, nein, unters Wasser führen würde. Und die heiße Dusche im Seglerheim der dortigen Marina genoss ich dann lange in ausgiebigen Zügen. Dann war es Zeit für die Inselerkundung und den notorisch überfälligen Abgleich der Geografie mit meiner lückenhaften Erinnerung. Das war dann der einzige Moment während dieses Törns, zu dem ich den spät im Jahr gelegenen Segeltermin aufrichtig bedauerte, denn der Abend war schon längst hereingebrochen, und unser Rundgang über die Insel musste flux im letzten Licht der schon untergehenden Sonne erledigt werden. Diese hatte sich nach der grauen Suppe, die uns den ganzen Tag über begleitet hatte, nun endlich auch für ein kurzes Zwischengastspiel aus ihrem Wolkenbett erhoben, nur um sich umgehend zwecks nächtlicher Vergnügungen auf der anderen Seite wieder zu verabschieden. Doch versüßte sie uns unsere Ankunft für einen Moment noch mit einem schönen Abendrot. Wochen später hörte ich dazu eine nette Anekdote im Radio, die hier kurz eingefügt sei.

Unterland Helgoland 2017
Unterland Helgoland 2017

In der Zeit, als Helgoland sein Dasein als deutsches Seebad entdeckte, seufzte offenbar recht herzerweichend die eine oder andere Dame über eben jenen Sonnenuntergang auf der roten Insel, welcher auch uns einen einen so schönen Empfang bereitet. Die Rührung ging so weit, dass jene, die sich zu anderen Zeiten selbst für eben jene emotionale Seite der Damenwelt schon von Berufswegen stark erwärmen konnten, also die deutschen Dichter, fanden, dass des Guten denn langsam aber sicher doch genug getan sei. In diesem Sinne schrieb Heinrich Heine auf dieser Insel die folgenden hübschen Zeilchen:

Das Fräulein stand am Meere

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

(Heinrich Heine, 1832)

Wie gesagt, auch uns begrüßte nun dieses schöne Abendrot, das so gut zu dieser Insel und farblich auch zu ihrer Flagge passen wollte: grün wie die Wiesen, rot wie der Stein und weiß wie der Sand. Pflichtschuldig hatten wir diese natürlich längst unter der Steuerbordsaling gehisst.

Helgoland ist wahrlich keine große Insel und sicher kein guter Ort, um sich mit jemandem im Streit zu entzweien. Man wird sich dort nicht lange aus dem Weg gehen können! Zwar mahnte uns die anbrechende Dämmerung zur Eile für unsere Besichtigungstour, allerdings hätten wir auch bei besseren Lichtbedingungen nicht viel mehr als die letztlich benötigte gute Stunde für den Rundgang übers Oberland gebraucht. Jenseits des Örtchens gibt es nur Wiesen und den roten Fels, der zu allen Seiten schroff ins Meer hinab abfällt. Markant thront der Leuchtturm, beheimatet in einem alten Flakleitstand, und damit sind wir auch schon beim dunkelsten Kapitel dieser Insel angekommen, welches es, wenn man all die fein säuberlich vom lokalen Tourismusverband angebrachten Infotafeln über die Inselgeschichte auf jener Rundtour gelesen hat, umso erstaunlicher machte, dass dieser Felsklotz im Meer überhaupt noch vorhanden und nicht einfach zu jener Fata Morgana geworden war, der wir mittags noch nachgejagt waren.

Leuchtturm Helgoland 20177
Leuchtturm Helgoland 2017

Schaut man sich diese Insel auf einer Karte an, hat ihre Form etwas Krabbenartiges. Weite Scheren reichen hinaus ins Meer und scheinen die Boote einzufangen, die später in ihrem Hafen festmachen. Dies und die weitläufigen Wellenbrecher am nordöstlichen Ufer, welche die Felsenküste und die Lange Anna umschließen, verleihen dem Aussehen der Insel etwas Martialisches. Kein Vergleich zu den Wanderoasen und Touristenfallen anderer Eilande, die wir bisher besucht hatten.

Die Insel Helgoland
Die Insel Helgoland

Jenseits dieser an Festung, Militär und entsprechende Historie gemahnende Äußerlichkeit der roten Insel im Meer wartete diese aber auch mit einer noch ganz anderen, mir deutlich sympathischeren Eigenart auf: den Lummenfelsen. Natürlich führte uns unser Weg über das Oberland – artig dem Touristen-, aber eben auch dem einzigen Inselpfad folgend – zunächst zur Langen Anna, der Felsnadel im Meer. Trotz später Stunde und Jahreszeit waren wir am dortigen Aussichtspunkt längst nicht die einzigen Besucher. Fotos wurden massenweise geschossen, sodass Alexander witzelte, dass von den vielen Fotostativen schon Löcher in den Felsen gebohrt worden sein müssten. Menschen sind nun mal Herdentiere und als solche auch immer wieder selbst ein interessantes Beobachtungsobjekt. So ruhte mein Blick zunächst auf ihnen, um dann – das Interesse war geweckt – zu erkunden, was sie wohl so Faszinierendes an der Steilwand unter uns betrachteten. Ich gebe zu, solche Blicke in die Tiefe gehören nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Höhenangst hat mich schon immer geplagt – sehr zum Leidwesen Alexanders, dem dadurch der eine oder andere Berggipfel entgangen ist, den zu erklimmen ich mich auf Grund besagter weicher Knie an abfallenden Hängen nicht im Stande gesehen hatte. Ungebrochener Spitzenreiter in dieser Kategorie der Fast-bestiegenen-Berggipfel ist dabei nach wie vor der Goatfell auf Arran. Waren wir schon drei Mal fast oben oder vier? Aber das ist eine andere Geschichte…

Lange Anna, Helgoland 2017
Lange Anna, Helgoland 2017

Auf Helgoland blieb mein Blick in die Tiefe glücklicherweise bereits nach wenigen Metern, zusammen mit den dort nistenden Basstölpeln, am Felsen hängen. Eine ganze Kolonie lebte dort. Auch sie hatte ich schon auf besagter schottischer Insel gesehen, aber immer nur in Form am Himmel kreisender Einzelkämpfer über der Bucht in Brodick, die sich dann urplötzlich, kamikazeartig ins Wasser fallen ließen, grazil eintauchten, um nur Minuten später wieder neue Kreise am Himmel über der Bucht zu ziehen. Ein, zwei Vögel hatte ich auf diese Weise auf Arran beobachtet, auf Helgoland saß nun ein gutes Dutzend nur wenige Meter von meinen Füßen entfernt auf dem Felsen – wobei sicher nicht nur mir, sondern ebenso den Vögeln klar gewesen sein muss, dass sie dort für alle menschlichen Dummheiten unerreichbar waren. Basstölpel sind interessante, aber keine besonders schönen Vögel. Ihr Kopf ist ihrem Jagdverhalten optimal angepasst. Sie sehen aus, als trügen sie Gummimasken über ihren Köpfchen: der lange Schnabel, die dunkel umränderten Augen blicken stets streng. Wie die meisten Seevögel folgt ihre Gestalt sicher keinem Kindchenschema, das sie im Auge des Betrachters zu Kuschelobjekten degradieren würde.

Leider bewahrheitete sich bei dieser Beobachtung auch noch etwas anderes, von dem ich bisher nur medial erfahren hatte: Ihre Nester, die eng in den Felsen geschmiegt lagen, leuchteten bunt in der Abendsonne. Rot und blau. Vor allem Nylonseile, Stücke von Fischernetzen und anderer Plastikunrat bildeten ihr Zuhause. Gehört hatte ich schon davon. Auch davon, dass sich die Jungen der Lummen regelmäßig bei ihren waghalsigen Sprüngen ins Meer in diesem Unrat erhängten. Aber die schiere Menge an Müll zu sehen, den die Vögel hier zusammengetragen und nichtsahnend ob der Gefährlichkeit für den eigenen Nachwuchs zu Nestern verbaut hatten, war doch recht beklemmend und bestärkte mich erneut im eigenen Vorhaben, Plastikverpackungen weitestgehend zu vermeiden. Es braucht keine Plastikstrudel im Pazifik, um einem die Notwendigkeit vor Augen zu führen, sein eigenes Müllverhalten nachhaltig zu überdenken.

Basstölpel, Insel Helgoland 2017
Basstölpel, Insel Helgoland 2017

Nachdenklich gestimmt machten wir uns auf den Rückweg. Der Abend sollte in der „Bunten Kuh“ ausklingen, und ich wartete sehnlichst darauf, dass es endlich soweit war. Nicht weil ich diesen Tag beschließen wollte, nein, das sicher nicht, aber ich hatte Hunger wie ein Seebär! Als besagter Quotenvegetarier der Runde machte ich mir wenig Illusionen über die Auswahlmöglichkeiten des Essens. Reisen an die Küste bedeuteten Fisch in allen möglichen Variationen. Reisen über das Meer würden da keine große Ausnahme mache. Erfreut nahm ich schließlich zur Kenntnis, dass auch seltsamen Leuten wie mir eine Wahl zugesprochen wurde, immerhin gab es also ein Entweder-Oder auf der Karte. Ich entschied mich für das Oder und beschloss, dieses um die aufgeführte Tomatensuppe zu ergänzen. Ja, ich hatte wirklich Hunger!

In der „Bunten Kuh“ trafen wir nicht nur den Rest von unserer Crew wieder, sondern auch die Leute von der „Hamburg Express“. Zusammen füllten wir die Seglerkneipe am Hafen gut aus. Die wohlgemeinte Idee, uns so zu platzieren, dass beide Crews gemeinsam an einem Tisch Platz fanden, wurde angenommen, die zu Grunde liegende Intention, die jeweils anderen besser kennenzulernen, erkannt und – ignoriert. Nachdem die wesentlichen Fragen nach woher, wohin und wie war das Wetter, geklärt waren, blieb man unter sich.

Selten hatten wir die Befürchtung über möglicherweise zu kleine Portionen mit solcher Ernsthaftigkeit erwogen, wie im Vorwege des Mahles an diesem Tisch. Lange hatte ich nicht mehr mit solch einem Appetit gegessen. Segeln machte hungrig, keine Frage! Letztlich erwiesen sich alle unsere Befürchtungen aber als unbegründet. Sogar die als lokale Spezialität und eigentlich als Vorspeise angekündigten „Knieper“ – Krebsscheren mit verschiedenen Dips und Brot serviert – die Holger kosten wollte, füllten in zufriedenstellender Weise die Seglerbäuche. Aber noch bevor die sich absehbar ankündigende Schläfrigkeit nach gutem Essen und viel frischer Luft vollständig von uns Besitz ergreifen konnte, war noch die Frage nach dem ebenfalls angepriesenen Eiergrog zu klären. Unser Skipper riet zum Probieren, um rauszufinden, was es damit wohl auf sich habe, hielt sich ansonsten aber eher bedeckt und zurück, was dieses Getränk betraf. Nach dem ersten Schluck war mir auch sofort klar, warum. Ich musste unwillkürlich daran denken, dass Christian zu Beginn unseres Törns – nicht ohne Stolz in der Stimme – erzählt hatte, dass bei ihm noch nie jemand über Bord gegangen sei. Allerdings sei es durchaus schon vorgekommen, dass der eine oder andere auf Helgoland vom Steg gefallen wäre. Kein Wunder! Ich hatte den Eindruck, gerade puren aufgekochten Alkohol durch einen dünnen Strohhalm zu schlürfen. Eindringlich war ich in der Folge darum bemüht, dieses seltsame Getränk mit Alexander zu teilen, der wohlweislich von einer eigenen Bestellung abgesehen hatte.

Auf dem Rückweg zum Boot schoss das Leuchtfeuer der Insel seine weißen Strahlen in den pechschwarzen Himmel. Wir bewunderten es alle. Heute frage ich mich, wie viele von uns sich in diesem Moment wohl gewünscht haben mögen, es hätte uns tagsüber auch schon den Weg gewiesen. Ich dachte es jedenfalls sofort. Wie leicht hätte man doch an diesem winzigen Felsen einfach vorbeisegeln können, ohne es zu merken – vorausgesetzt natürlich, dass man das GPS nicht konsultierte. Und was für eine Leistung war die Seefahrt vor noch ein paar Jahren gewesen, als all diese Technik nicht zur Verfügung gestanden hatte. Wieder war ich selig im Bewusstsein, gerade ein echtes Abenteuer zu erleben.

Helgoland Leuchtturm bei Nacht
Helgoland Leuchtturm bei Nacht

Leider und trotz Eiergrog fand ich auch in dieser zweiten Nacht auf dem Boot keine rechte Ruhe. Unsere Kajüte lag steuerbords zur „Hamburg Express“, und unsere Fender rollten lustig zwischen den beiden Booten an der Bordwand entlang, hin und her und her und hin und hin und her…

Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven

Start in Finkenwerder

Tag 1: Finkenwerder – Glückstadt – Cuxhaven

Der Törn begann an einem Donnerstagvormittag an unserer Yachtschule in Finkenwerder. Im Köhlfleet hat Robert seinen eigenen Steg für die drei Segelboote und seinen ganzen Stolz – sein Elektromotorboot. Sein Steg liegt hinter dem Fähranleger Finkenwerder. Dort ist also immer was los. Man lernt schon von Klein auf sozusagen, was es heißt, sich mit der Berufsschifffahrt herumzuschlagen. Sein Liegeplatz ist nichtsdestotrotz enorm praktisch für uns, wohnen wir doch quasi gegenüber. Mit den Rädern sind wir in fünfzehn Minuten unten an der Elbe, dankenswerterweise geht es in diese Richtung immer bergab. Soll noch einer behaupten, Hamburg hätte keine Berge – nur jemand, der hier noch nie mit dem Fahrrad an der Elbe unterwegs war, wird sich zu diesem Flachlandvorurteil hinreißen lassen. Unten an der Elbe nehmen wir dann flux die Fähre – mit dem Schiff zu den Schiffen. Diese Stadt hat schon ihren ganz eigenen Charme.

Segelboote der Yachtschule Robert Eichler
Segelboote der Yachtschule Robert Eichler

Wir hatten Rucksäcke dabei, denn dass Koffer auf einem Boot mehr als unpraktisch sein würden, war uns nicht erst seit dem Hinweis in Roberts Mail klar. Leider war uns weniger einsichtig gewesen, dass Wanderrucksäcke auch so ihre Tücken haben würden. Insbesondere deren Tragegurte füllten später den ohnehin recht engen Fußraum unserer Achterkajüte fast vollständig aus. Beim nächsten Mal würden wir uns da was anderes einfallen lassen müssen. Jene, die mit ihren Autos anreisten, hatten es in dieser Hinsicht besser. Sie brachten ihre Sachen in faltbaren Taschen oder gleich in Seesäcken aufs Boot und – eins, zwei, drei – war alles in den Schapps verstaut.

Drei Mitsegler waren schon an Bord, als wir am Donnerstag dann mit besagter Fähre vom anderen Elbufer anreisten. Sylke, Detlef und Tobias. Wie wir beim ersten Beschnuppern herausfanden, waren sie bereits am Vorabend angereist und hatten schon eine Nacht auf dem Boot verbracht. Kurz nach uns trafen dann noch zwei weitere Crewmitglieder ein – Tim und Holger – und auch unser Skipper, Christian, war schon mit von der Partie. Kojen wurden zu-, Handtücher und Bettzeug aus- und wir gleichmäßig über das Boot verteilt. Eine Vorschiffskajüte, zwei im Heck mit Doppelkoje und Leesegel für die fehlende Privatsphäre sowie eine Kajüte mit Stockbett zwischen Salon und Vorschiff waren schnell belegt. Schon beim allerersten Mal, als ich den Raum eines Segelbootes unter Deck erkundet hatte, war ich erstaunt gewesen, wie viel Platz es bieten konnte. Hätte man mich früher gefragt, nie und nimmer hätte ich zugestanden, dass ganze acht Leute bequem auf dieser Gib Sea hätten Platz finden können, ohne sich stetig auf den Füßen zu stehen. Sicher, das Gerücht hielt sich eisern, dass Segeln die langsamste, unbequemste und teuerste Art und Weise sei, um von A nach B zu gelangen – aber auch das war eine Frage der Perspektive. Was brachte es einem, wenn man immer nur von Ort zu Ort hetzte? Hier war doch klarerweise der Weg das Ziel und der Platz, den das Boot uns bot, wäre nur dann ein Problem gewesen, wenn die Chemie in der Crew nicht gestimmt hätte und in solch einem Falle könnte auch ein zehnstöckiger Büroturm zum kleinsten Mauseloch zusammenschnurren.

Zunächst gab es ein großes Hallo und Einander-Kennenlernen – auch das integraler Bestandteil des Abenteuers Helgoland auf temporär eigenem Kiel. Wer würde wohl mit zur Crew gehören? Was für Leute würden kommen? Wie gesagt, in den kommenden Tagen würde man sich schwerlich aus dem Weg gehen können, wenn es dumm lief. Aber es lief nicht dumm, es stellte sich – ganz im Gegenteil – als sehr gelungene Mischung heraus. Persönlich war ich recht angetan, nicht als einzige Frau an Bord zu sein, sondern mit Sylke eine veritable Mitstreiterin zu haben. Noch jemand, die die Kerze auf dem Salontisch beim gemeinsamen Abendessen schön finden würde.

Es folgte eine ausführliche Sicherheitseinweisung durch unseren Skipper – alles unter dem so schön von ihm ausgegebenen Motto: ‚Wir verlassen das Boot nicht, wenn überhaupt verlässt das Boot uns.‘ Begierig saugte ich alle Informationen auf, wo welche nützlichen Dinge verstaut und wie sie zu bedienen waren. Alle waren mit größter Konzentration dabei, auch wenn es für die anderen im Gegensatz zu uns natürlich nicht ihr erster Törn war. Niemand lief an den folgenden Tagen an Deck ohne Rettungsweste oder, wie Christian so schön sagte, ’nackich‘ herum. Alle wussten, wo man sich im Cockpit und auf dem Vorschiff sicher einpicken konnte. Und erstaunt, aber auch erleichtert stellte ich fest, dass im Laufe unserer Fahrt beinahe alle auch bei verschiedenen Gelegenheiten davon Gebrauch machen würden. Und dann ging es endlich los…

Strom und Ostwind nahmen uns mit Richtung Nordsee. Auslaufend grüßte ein Seehund, der beim Mühlenberger Loch sein Köpfchen aus dem Wasser streckte. Wer hätte das gedacht?! Wir hatten diese faszinierende Beobachtung eines Stückchens unvermuteter Wildnis in Mitten der Großstadt schon vor einer Weile bei Roberts Skippertraining machen dürfen: Seehunde auf einer trockenfallenden Sandbank direkt vor dem Airbus-Werk – Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Seehunde trotz der ganzen Riesenpötte, die täglich, wenn nicht sogar stündlich die Elbe hoch- und runterfuhren, das Wasser dabei durchpflügten, sodass man sich selbst daneben winzig und verletzlich vorkam, obwohl man eine 43-Fuß-Yacht um sich herum hatte, viel mehr als so ein Seehundspelz…

Die erste Etappe führte uns nach Glückstadt. Die Elbe hinunter – dorthin, wo die Welt begann. Blankenese, Wedel, Willkomm Höft – alles gut bekannt und dann das Neue, das wir noch nie gesehen hatten: die weiten Elbmarschen jenseits der Stadt. Von nun an hieß es, sich klar vom Tonnenstrich im Fahrwasser halten, Steuerbordtonnen gut an Steuerbord liegen lassen, denn jenseits davon drohten Untiefen und überspülte Buhnen. Die Crew ließ es sich im Cockpit gut gehen. Frische Luft macht bekanntlich hungrig, und erste Vorräte wurden zufrieden verdrückt. Man genoss allseits Sonne und Aussicht bei gemütlicher Fahrt stromabwärts. Dann die Aufgabe an uns, ausgegeben von unserem Skipper: Wie steuerte man wohl den Glückstäder Hafen an? Ein Navigationsteam verschwand unterdecks, allein es fehlte noch an Übung. Die Ansagen an unseren Rudergänger waren doch eher vage – nur gut, dass Christian längst wusste, worauf zu achten sein würde. Sicher führte er uns durch die vorgelagerten Sandbänke – ein Glück, mit so etwas hatten wir wahrlich nicht gerechnet.

Am frühen Nachmittag machten wir dann in Glückstadt fest. Die Idee kursierte und wurde allgemein begrüßt, einen Teil der Bordkasse beim lokalen Fischhändler zu investieren. Als Quotenvegetarier der Runde enthielt ich mich der Stimme, war aber ebenso angetan von der Idee, einen kurzen Ausflug ins Städtchen zu unternehmen, das mir gänzlich unbekannt war. Mit Sylke hatten wir eine ortskundige Führerin dabei und so ging es nach den ersten Stunden auf dem Wasser erst einmal wieder an Land. Fisch und Sightseeing-Eindrücke wurden gesammelt und zwecks späteren Konsums zunächst gut verstaut. Dann noch etwas Ruhe, doch war ich viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Und so ganz hatte ich auch immer noch nicht realisiert, dass man die wenigen sich bietenden Gelegenheiten dazu wirklich nutzen sollte auf diesem Törn. Hier wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass wir mit den Gezeiten segeln würden, dass unser Lebensrhythmus in den folgenden Tagen Ebbe und Flut folgen würde. Und während die Glückstädter dem Tag also einen guten Abend wünschten und sich zu einer erholsamen Nachtruhe anschickten, ging für uns die Reise gegen 21 Uhr wieder weiter, als wir aus dem kleinen Hafen hinausnavigierten. Ein Richtfeuer achteraus zeigte uns den sicheren Weg. Gespenstisch und besorgniserregend glitten die von Christian aufgezählten unbeleuchteten Fahrwassertonnen an uns vorbei. Alle atmeten auf, als auch der letzte schwarze Schatten sicher passiert war.

Die nächtliche Fahrt flussabwärts war ein eindrückliches Erlebnis. Schwärme von Seevögeln stiegen in beinahe regelmäßigen Abständen vor unserem Bug nahezu lautlos auf, aufgestört in ihrer Nachtruhe von unserer Passage. Für die Bruchteile eines Augenblicks waren ihre weißen Flügel und Leiber im Licht unserer Positionslampen zu erkennen, dann verschluckte sie die Dunkelheit erneut. Wer hätte gedacht, dass so viele von ihnen die Nacht auf dem Fluss verbrachten? Im Cockpit ging derweilen ein munterer Wettbewerb im Leuchtfeuer-Zählen los. Zu welcher Tonne mussten wir als nächstes? Wie war die Kennung? Wer hatte sie schon im Blick? Und wer war sicher, ihre Kennung schon korrekt ausgezählt zu haben? Roter Blitz alle vier Sekunden, rotes Funkelfeuer, rotes unterbrochenes Feuer – hatten wir richtig gezählt? Und von vorne. In der Tat war das etwas ganz anderes als ‚Robert macht immer so‘: Blitz, Hand auf – zwei, drei, vier – Hand zu. Manche Dinge muss man tatsächlich gesehen haben, um sie richtig zu verstehen, da hatte er schon recht.

Schiffe auf Reede und das Lichtermeer von Brunsbüttel zogen vorüber. Dann an der Schleuse des NOKs die eindringliche Warnung unseres Skippers, sich möglichst weit davon klar zu halten, weil diese sehr unvermutet ihre Fracht ausspucken konnte und unser Segelboot dann nur allen im Weg sein würde. So glitten wir nächtlich als schönster Schmetterling dahin – nicht wie die Motten, die im Licht der Schleusen verbrennen. Die Elbe wurde zunehmend breiter und, abgesehen vom Gemurmel des Revierfunks, war es still. Seit einer Ewigkeit habe ich dort erstmals wieder die Milchstraße ihren schönen Lichterbogen über den schwarzbetuchten Himmel spannen sehen. Zwei Sterne fielen für unsere Wünsche zur Erde, und dann wurde es Zeit, sich auf das Einlaufen im Amerikahafen von Cuxhaven vorzubereiten. Ein letztes Mal an diesem Tag – oder war es schon der nächste? – sollten wir alle hellwach werden.

Amerikahafen – das klang nach dem großen Schlag über den Ozean und noch weiter, nach Abenteuer. Mir kam es allerdings in dieser Nacht eher ernüchternd wie ein handelsüblicher Industriehafen vor. Sylke brachte unser Boot sicher an den Platz am Steg, den Christian dafür auserkoren hatte. Und nachdem alles gut vertäut war, fand man sich allseits zum wohlverdienten Ankerbier im Cockpit zusammen. Einige vorlaute Möwen teilten mit uns noch das beinahe schon schlafwandlerische Dasein im gelblichen Licht der Hafenmole, dann hieß es ab in die Kojen. Um sieben am nächsten, nein, Pardon, an diesem Morgen sollte es ja weitergehen. Nun war zwei Uhr gerade vorbeigegangen. Für mich brach die erste Nacht meines Lebens an, die ich auf einem Boot verbringen würde. Doch trotz gemütlicher Achterkajüte waren diese nächtlichen Stunden für mich alles andere als erholsam. Lange, viel zu lange lag ich wach und hörte den mir unbekannten Geräuschen an Bord und im Hafen zu.